SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS

FRANCESCO CAPOTORTI

VOM 1. APRIL 1981 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1. 

Die beiden Vorabentscheidungsverfahren, in denen ich diese Schlußanträge vortrage, werfen gleichgelagerte Probleme der Auslegung von Artikel 95 EWG-Vertrag, das heißt des bekannten Verbots der Erhebung inländischer Abgaben mit diskriminierendem Charakter, auf. Die von der Corte d'Appello Mailand vorgelegten Fragen stellen sich in zwei Rechtsstreitigkeiten, die 1976 und 1977 von den Firmen Essevi, Mailand, und Salengo, Genua, gegen die Amministrazione delle Finanze angestrengt worden waren. Die Klägerinnen hatten in der ersten Instanz beantragt, die Beklagte zu verurteilen, die als Staatsabgabe auf einige Partien französischen Cognac, die die Firma Salengo zwischen 1960 und 1971 und die Firma Essevi zwischen 1962 und 1967 eingeführt hatten, erhobenen Beträge zurückzuzahlen; diesem Begehren hatte das Tribunale Mailand mit Urteilen vom 1. Juni 1978 und7. Oktober 1978 stattgegeben. Die Corte d'Appello Mailand hat in zweiter Instanz festzustellen, ob die Regelung über die Staatsabgabe auf Branntwein, die auf bis auf das Jahr 1936 zurückgehenden (später jedoch geänderten) italienischen Gesetzen beruht, mit Artikel 95 vereinbar ist; hieraus erklärt sich die Inanspruchnahme des Verfahrens nach Artikel 177 EWG-Vertrag.

Zu den Merkmalen der in Rede stehenden Abgabe ist zu sagen, daß deren Satz zur Zeit der streitigen Sachverhalte nach der im jeweiligen Erzeugnis enthaltenen Menge Weingeist berechnet wurde; auf Branntwein aus Wein wurde die Abgabe grundsätzlich nicht erhoben, während für andere Branntweinarten ermäßigte Sätze vorgesehen waren. Die Befreiung oder Ermäßigung hing jedoch davon ab, daß die Verwendung der Ausgangsstoffe zuvor in der Produktionsphase von Beamten der Finanzverwaltung festgestellt worden war; daher kamen diese Steuererleichterungen in der Praxis nur Branntweinen inländischer Erzeugung zugute.

Schon am 4. November 1965 hatte die Kommission der italienischen Regierung mitgeteilt, sie halte es für einen Verstoß gegen Artikel 95 EWG-Vertrag, daß die Herstellungssteuer und die Staatsabgabe auf eingeführte Erzeugnisse unter Bedingungen erhoben würden, die belastender als die für die entsprechenden inländischen Erzeugnisse vorgesehenen seien. Nach einer Antwort der italienischen Regierung vom 12. Februar 1966, in der die unterschiedliche Besteuerung im Branntweinsektor mit dem Hinweis auf die Sicherung des Absatzes bestimmter landwirtschaftlicher Ausgangsstoffe für die Branntweinerzeugung gerechtfertigt wurde, erläuterte die Kommission ihren Standpunkt mit Schreiben vom 8. März 1968. Darin räumte sie ein, daß „Branntwein Probleme für die italienische Landwirtschaft“ aufwerfe; sie sei der Ansicht, „daß die in den italienischen Rechtsvorschriften vorgesehene und sich aus der Anwendung der Staatsabgabe ergebende differenzierende Besteuerung vorläufig bestehen bleiben kann, da die Staatsabgabe in gewissem Sinne das Instrument der italienischen Agrarpolitik im Branntweinsektor darstellt, das Branntwein jeglichen Ursprungs unabhängig vom Preis des Ausgangsstoffes eine Absatzmöglichkeit verschafft“. Demgemäß wurde die italienische Regierung lediglich aufgefordert, ihre Rechtsvorschriften im Bereich der Herstellungssteuer zu ändern. Mit der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 28. Februar 1969 wurde diese Haltung sowohl dadurch bestätigt, daß Italien zugestanden wurde, die bei der Erhebung der Staatsabgabe bestehenden Differenzierungen vorläufig beizubehalten, als auch dadurch, daß der italienischen Regierung eine Verletzung von Artikel 95 nur in drei Fällen der Ermäßigung der Herstellungssteuer vorgeworfen wurde.

Sechs Jahre später machte die Kommission mit Schreiben vom 31. Juli 1975 die italienische Regierung erneut auf das Problem der differenzierenden Besteuerung von Branntwein aufmerksam und setzte sie davon in Kenntnis, daß nach dem Urteil des Gerichtshofes vom 10. Dezember 1974 in der Rechtssache 48/74 (Charmasson, Slg. 1974, 1383) keine dieser Differenzierungen mehr als gerechtfertigt angesehen werden könne. Mit diesem Urteil waren für die Zeit nach Ablauf der Übergangszeit alle Handelshindernisse für vertragswidrig erklärt worden, und zwar auch dann, wenn sie Teil einer einzelstaatlichen Marktordnung für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse waren; damit hatte die Entscheidung den einzelnen, die ein Interesse an der Beseitigung solcher Hindernisse haben, den Weg zu den Gerichten geöffnet. Die Kommission teilte daher mit, jeder Mitgliedstaat habe die Maßnahmen aufzuheben, die im Lichte dieses Urteils als mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar anzusehen seien.

Mit Artikel 20 des decreto legge Nr. 46 vom 18. März 1976 wurde in Italien eine neue Regelung für bestimmte eingeführte Branntweine erlassen. Mit Schreiben vom 18. Juni 1976 wies die Kommission jedoch die italienische Regierung darauf hin, daß sie weiter gegen Artikel 95 verstoße, indem sie auf eingeführte Erzeugnisse höhere Steuern erhebe als auf gleichartige inländische Erzeugnisse. In ihrem Schreiben vom 28. Juli 1976 bezeichnete die italienische Regierung die Staatsabgabe auf Branntwein als eine Maßnahme zum Ausgleich der unterschiedlichen Herstellungskosten von Branntweinen aus unterschiedlichen Ausgangsstoffen; in Ermangelung einer gemeinsamen Politik in diesem Sektor sei diese Maßnahme als Instrument für agrarpolitische Interventionen gerechtfertigt. Die Kommission wies die in diesem Schreiben enthaltenen Ausführungen zurück und stellte in einer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 31. Juli 1978 fest: „Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem Vertrag verstoßen, daß sie ... steuerliche Diskriminierungen bei der Anwendung der Herstellungssteuer, der Staatsabgabe und der besonderen Staatsabgabe auf aus anderen Mitgliedstaaten eingeführten Branntwein beibehält.“

2. 

Es schien mir erforderlich, diese lange Auseinandersetzung zwischen Kommission und italienischer Regierung über das Kernproblem der vorliegenden Ausgangsverfahren mit einiger Ausführlichkeit in Erinnerung zu bringen, und zwar auch deshalb, weil die Bedeutung der ursprünglichen Stellungnahme der Kommission einer der bis heute umstrittenen Punkte ist. Diese lange Auseinandersetzung — sie dauerte 13 Jahre —, ist überdies ohne Abschluß geblieben, da die Kommission im Anschluß an die mit Gründen versehene Stellungnahme vom 31. Juli 1978 kein Verfahren nach Artikel 169 eingeleitet hat. Auf nationaler Ebene dagegen haben in den Jahren 1976 und 1977, wie bereits erwähnt, die Firmen Essevi und Salengo ihre Klagen erhoben; nach dem erstinstanzlichen, den Klägerinnen günstigen Urteil des Tribunale Mailand sind nunmehr Rechtsmittelverfahren anhängig, in deren Rahmen es zu den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen gekommen ist. Es ist jedoch noch ein weiterer Umstand zu erwähnen. Während des Rechtsmittelverfahrens entschieden die Vereinigten Senate der Corte di Cassazione mit Urteilen Nrn. 1317 und 1321 vom 1. März 1979 in Rechtsstreitigkeiten gleichen Inhalts unter anderem: „Für Einfuhren von Branntwein aus Wein im innergemeinschaftlichen Handelsverkehr wird die differenzierende Besteuerung, die sich aus der Anwendung der Staatsabgabe bis zu einem Betrag von 60000 Lire je Hektoliter Weingeist ergibt, zumindest für die Zeit vor der Abgabe der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 28. Februar 1969 bei der Berechnung der steuerlichen Belastung des eingeführten Erzeugnisses nicht berücksichtigt.“ Zur Begründung wies die Corte di Cassazione darauf hin, daß die Kommission in dieser gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag an die Italienische Republik gerichteten Stellungnahme vom 28. Februar 1969 Italien ausdrücklich die Möglichkeit zugestanden habe, die Staatsabgabe als Instrument seiner Agrarpolitik im Branntweinsektor anzuwenden und die differenzierende Besteuerung in diesem Bereich bis zu einem Betrag von 60000 Lire je Hektoliter Weingeist vorläufig beizubehalten. Die Corte di Cassazione entschied auch, daß die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt vom innerstaatlichen Gericht nicht verneint werden könne, wenn nicht nur eine Erklärung der Kommission im Sinne der Unvereinbarkeit fehle, sondern diese die Maßnahme sogar ausdrücklich als mit dem Vertrag vereinbar bezeichnet habe.

Die Corte d'Appello Mailand nimmt in ihren Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof ausdrücklich Bezug auf die Urteile Nrn. 1317 und 1321/79 der Corte di Cassazione; sie hält diese Entscheidungen jedoch nicht für ausreichend, um die Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der Staatsabgabe auf Branntwein mit dem Gemeinschaftsrecht auszuräumen. Gleichwohl steht die Formulierung der nach Artikel 177 EWG-Vertrag vorgelegten Fragen, wie wir sogleich sehen werden, unter dem Einfluß der von der Corte di Cassazione eingenommenen Haltung.

3. 

Das vorlegende Gericht ersucht zunächst um Beantwortung folgender Fragen: „Welche Wirkung kommt den an die Italienische Republik gerichteten Stellungnahmen der Kommission nach Artikel 169 EWG-Vertrag vom 28. Februar 1969 und 31. Juli 1978 zu? Hat Italien dadurch gegen Artikel 95 EWG-Vertrag verstoßen, daß es auf aus anderen Mitgliedstaaten eingeführten Branntwein aus Wein eine Abgabenregelung anwendet, in deren Rahmen die Staatsabgabe in Höhe von 60000 Lire je Hektoliter Weingeist (90000 Lire seit März 1976) erhoben wird, die für gleichartige inländische Erzeugnisse weder vorgesehen ist noch erhoben wird?“

Zunächst ist also die Wirkung der von der Kommission nach Artikel 169 EWG-Vertrag abgegebenen Stellungnahme zu bestimmen. Die Antwort ist einfach: Diese Stellungnahmen haben sicherlich keine bindende Wirkung (s. Artikel 189 Absatz 5) und sind lediglich ein Teil des von der Kommission gegen einen Mitgliedstaat eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens; sie sind eine notwendige Voraussetzung für die Anrufung des Gerichtshofes durch die Kommission, wenn „der Staat dieser Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nicht nach[kommt]“ (Artikel 169 Absatz 2).

Im vorliegenden Fall wissen wir jedoch, daß die Frage der Wirkung der Stellungnahmen nach Artikel 169 im Hinblick auf den Teil der Stellungnahme vom 28. Februar 1969 gestellt wird, in dem die Kommission erklärt hat, daß Italien die differenzierende Erhebung der Staatsabgabe auf Branntwein vorläufig beibehalten könne. Kann man einer solchen Erklärung die Wirkung einer Gestattung beimessen? Meiner Ansicht nach kann diese Frage nur verneint werden. Die Befugnis der Kommission, ein bestimmtes Vorgehen der Mitgliedstaaten zu gestatten, muß ausdrücklich im Vertrag vorgesehen sein. Keinesfalls darf die Kommission in Ermangelung einer entsprechenden Bestimmung einen Mitgliedstaat, und sei es vorübergehend, von der Einhaltung der Verpflichtungen freistellen, die ihm nach einer Norm wie Artikel 95 obliegen; die gilt um so mehr, wenn es sich um eine unmittelbar anwendbare Bestimmung handelt, deren Einhaltung somit auch der einzelne verlangen kann. In Wahrheit bringt eine Erklärung, wie sie in der Stellungnahme vom 28. Februar 1969 zur Staatsabgabe auf Branntwein enthalten ist, lediglich die Ansicht der Kommission zum Ausdruck, daß das Verhalten eines Mitgliedstaats, dem eine Vertragsverletzung vorgeworfen wird, zumindest für eine gewisse Zeit teilweise gerechtfertigt ist und daß daher das Verfahren nach Artikel 169 insoweit nicht weiter verfolgt werden soll; sie verleiht dem Staat jedoch sicherlich kein subjektives Recht zur Fortsetzung dieses Verhaltens in dem Sinne, daß die Auslegung des Vertrages durch die Kommission ihn von jeder möglichen Verantwortung freistellen würde. In diesem Zusammenhang ist im Hinblick auf den vorliegenden Fall daran zu erinnern, daß der Gerichtshof bereits im Urteil vom 15. Oktober 1969 in der Rechtssache 16/69 (Kommission/Italienische Republik, Slg. 1969, 377) entschieden hat, daß Branntwein kein landwirtschaftliches Erzeugnis ist; damit hat er es für den Branntweinsektor ausgeschlossen, eine gegen Artikel 95 verstoßende steuerliche Diskriminierung unter Berufung auf die im Agrarbereich bestehende Möglichkeit des Abweichens von bestimmten Vertragsvorschriften zu rechtfertigen. Dies bringt die Argumentation ins Wanken, auf die sich die Kommission gestützt hat, als sie die differenzierende Anwendung der Staatsabgaben auf Alkohol (zumindest für in Branntwein enthaltenen Alkohol) als gerechtfertigt angesehen hat; dies hätte die italienische Regierung dazu veranlassen müssen, ihr Verhalten im Bereich der Branntweinbesteuerung zu überdenken.

Zu den Wirkungen der Stellungnahmen der Kommission nach Artikel 169 ist ferner zu sagen, daß diese Wirkungen in jedem Fall auf den Bereich des Vertragsverletzungsverfahren beschränkt bleiben und nicht mit den eventuellen Stellungnahmen der Kommission auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen verwechselt werden dürfen. Vielmehr besteht zwischen den Äusserungen der Kommission nach Artikel 93 Absatz 3 und den Stellungnahmen gemäß Artikel 169 ein klarer Unterschied, der dem deutlichen Unterschied zwischen dem Verfahren zur Feststellung der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt und dem Verfahren zur Feststellung einer Vertragsverletzung entspricht. Meines Erachtens ist es daher nicht zulässig, in einer Erklärung der Kommission, sie halte eine bestimmte steuerliche Maßnahme vorläufig und aus bestimmten Gründen nicht für vertragswidrig, die Erklärung zu sehen, diese Maßnahme sei als Beihilfe mit dem Vertrag vereinbar. Im vorliegenden Fall ist zudem nicht erkennbar, daß die italienische Regierung in dem Schriftwechsel, den sie mit der Kommission vor der Abgabe der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 28. Februar 1969 geführt hat, die betreffende Abgabe jemals als Beihilfe im Sinne der Artikel 92 und 93 eingestuft hätte; auch den Stellungnahmen der Kommission vom 8. März 1968 und 28. Februar 1969 läßt sich nicht deren Absicht entnehmen, diese Vertragsbestimmungen auf die Frage der Beibehaltung der in Rede stehenden Staatsabgabe anzuwenden. Wie wir gesehen haben, hatte die Kommission diese Abgabe in der irrigen Annahme, Branntwein sei ein landwirtschaftliches Erzeugnis, und auf der Grundlage des später durch das Urteil in der Rechtssache Charmasson verworfenen Gedankens für zulässig gehalten, die Mitgliedstaaten seien in Erwartung einer gemeinsamen Marktorganisation nach Ablauf der Übergangszeit befugt, bestimmte Maßnahmen zugunsten einiger nationaler Erzeugnisse vorläufig beizubehalten, auch wenn diese geeignet seien, den freien Warenverkehr im Gemeinsamen Markt zu behindern. Folglich ist es ausgeschlossen, die Stellungnahmen der Kommission zur Zulässigkeit der italienischen Staatsabgabe auf Branntwein im nachhinein auf den Bereich der Artikel 92 und 93 EWG-Vertrag zu übertragen.

4. 

Der zweite Teil der ersten Frage ist in einer Weise formuliert, die nicht dem Zweck eines Ersuchens um Auslegung im Wege der Vorabentscheidung entspricht. Das vorlegende Gericht kann nicht erwarten, daß der Gerichtshof auf der Grundlage von Artikel 177 einen konkreten Fall möglicher Vertragsverletzung durch einen Mitgliedstaat entscheidet. Wie dies jedoch schon häufig der Fall war, kann die Frage in einem allgemeinen Sinne verstanden werden; es ginge dann um die Feststellung, ob es mit Artikel 95 vereinbar ist, daß ein Mitgliedstaat auf aus anderen Mitgliedstaaten eingeführten Branntwein ein Besteuerungssystem anwendet, das eine für entsprechende inländische Erzeugnisse nicht vorgesehene und auf diese nicht angewandte Abgabe umfaßt.

Die Frage ist meiner Ansicht nach zu verneinen. Der diskriminierende Charakter einer steuerlichen Regelung der beschriebenen Art liegt auf der Hand. Man könnte fragen — womit man über die sehr deutliche Fassung der Frage hinausgehen und auf die Merkmale des vorliegenden Falls abstellen würde —, ob eine Artikel 95 zuwiderlaufende steuerliche Diskriminierung vorliegt, wenn die unterschiedliche Behandlung nicht aus der Vorschrift des nationalen Steuerrechts selbst folgt, sondern aus dem Umstand, daß nach dieser Vorschrift Steuerbefreiungen oder -ermäßigungen gewährt werden, die praktisch nur auf inländische Erzeugnisse Anwendung finden. Artikel 95 verbietet es jedoch ausdrücklich, auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar höhere inländische Abgaben gleich welcher Art zu erheben, als gleichwertige inländische Waren unmittelbar oder mittelbar zu tragen haben. Hängt die Gewährung bestimmter Steuerermäßigungen oder -befreiungen von Voraussetzungen ab, die praktisch nur von inländischen Erzeugnissen erfüllt werden können, so liegt darin ein Beispiel für eine mittelbar diskriminierende Besteuerung.

5. 

Die zweite Frage der Corte d'Appello Mailand lautet wie folgt: „Ist es nach Beginn der zweiten Stufe, dem nach Artikel 95 Absatz 3 spätesten Zeitpunkt für die Aufhebung innerstaatlicher Bestimmungen, die dem in Artikel 95 Absätze 1 und 2 aufgestellten Grundsatz der steuerlichen Gleichbehandlung entgegenstehen, zulässig, daß Italien in Abweichung hiervon eine bereits bestehende Diskriminierung eingeführten Branntweins aus Wein beibehält?“

Daß Artikel 95 Absatz 3 verbindlich ist, bedarf keiner Erläuterung. Spätestens mit Beginn der zweiten Stufe hatten die Mitgliedstaaten die bei Inkrafttreten des Vertrages geltenden Bestimmungen aufzuheben oder zu berichtigen, die den Absätzen 1 und 2 dieses Artikels entgegenstanden. Daher war eine „bereits bestehende Regelung“ (um die Worte des vorlegenden Gerichts zu gebrauchen), die sich belastend auf die Einfuhr von Branntwein auswirkte, aufzuheben; Artikel 95 sieht keine Ausnahmen vor. Sonach bleibt nur zu prüfen, ob andere Vertragsbestimmungen eine Nichtbeachtung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung im steuerlichen Bereich zulassen. Dies bedingt eine nähere Prüfung der Ansicht der italienischen Regierung, bestimmte steuerliche Vergünstigungen für einheimische Erzeugnisse dürften, da sie sich als Beihilfen für die inländische Erzeugung darstellten, nicht nach Artikel 95, sondern müßten nach den Artikeln 92 und 93 EWG-Vertrag beurteilt werden. Die Corte d'Appello Mailand hat zwar auf diese Bestimmungen nicht Bezug genommen, so daß man sagen könnte, daß sie deren Auslegung für die Entscheidung der bei ihr anhängigen Rechtsstreitigkeiten nicht für erheblich gehalten hat; ich ziehe es jedoch vor, die vorstehend wiedergegebene Frage weit auszulegen und die Prüfung der von der italienischen Regierung in diesem Verfahren vertretenen Ansicht um diesen Gesichtspunkt zu vervollständigen.

Nach dieser Ansicht kann in einem Fall wie dem vorliegenden nicht deshalb von einer Beihilfe für die inländische Erzeugung gesprochen werden, weil das Aufkommen aus der höheren Abgabenbelastung des eingeführten Erzeugnisses für die Unterstützung der inländischen Erzeugung bestimmt sei, sondern gerade deshalb, weil letztere eine geringere Steuerlast trage. Folglich unterscheide sich der Fall von dem Sachverhalt, der dem Urteil des Gerichtshofes vom 21. Mai 1980 in der Rechtssache 73/79 (Kommission/Italienische Republik) zugrunde liege. Dort habe der Gerichtshof entschieden, daß „steuerlich diskriminierende Verfahrensweisen nicht aus dem Grunde von der Anwendung des Artikels 95 ausgenommen sind, weil sie womöglich zugleich als Finanzierungsweise einer staatlichen Beihilfe einzustufen sind“.

Gesteht man den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu, sich dem Verbot des Artikels 95 dadurch zu entziehen, daß sie eine differenzierende Besteuerung als Maßnahme zur Durchführung einer Politik zur Unterstützung eines Sektors der nationalen Wirtschaft einstufen, so birgt dies meines Erachtens die Gefahr, daß eine objektive Einstufung der gegen Artikel 95 verstoßenden Steuersysteme unmöglich gemacht wird. Die Unterscheidung zwischen einer diskriminierenden steuerrechtlichen Behandlung, deren alleiniges Ziel der Schutz der inländischen Erzeugung gegen die ausländische Konkurrenz ist, und abgestuften steuerrechtlichen Regelungen, die der Unterstützung eines bestimmten Marktsektors im Rahmen der gesamten nationalen Wirtschaftspolitik dienen, ist so unscharf, daß sie schwerwiegende, Mißbrauchsgefahren heraufbeschwört. Selbstverständlich bedingt jede diskriminierende Besteuerung zum Nachteil bestimmter eingeführter Erzeugnisse zwangsläufig einen Vorteil für die konkurrierenden inländischen Erzeugnisse und kann daher als Beihilfe für die inländische Erzeugung angesehen werden. Wenn also diskriminierende steuerliche Praktiken, die ein Mitgliedstaat als Aspekte einer von ihm bestriebenen sektoralen Unterstützungspolitik bezeichnet, als vom Anwendungsbereich des Artikels 95 ausgenommen angesehen werden müßten, wäre die Geltung dieser Bestimmung erheblich eingeschränkt.

Diese Einwände lassen sich meines Erachtens auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes stützen. Ich verweise zunächst auf das Urteil vom 22. März 1977 in der Rechtssache 74/76 (Iannelli, Slg. 1977, 557). Dort hat der Gerichtshof entschieden, daß Artikel 95 EWG-Vertrag inländische Abgaben gleich welcher Art betrifft. Weiter heißt es dort (S. 577) : „Für die Anwendung dieser Bestimmung ist es daher unerheblich, ob eine Abgabe oder ein Beitrag von einer nichtstaatlichen Körperschaft des öffentlichen Rechts oder zu deren Gunsten erhoben wird, ob es sich um eine besondere Abgabe handelt oder ob sie einem besonderen Zweck dient.“ Da der vom Gerichtshof entschiedene Sachverhalt Abgaben betraf, die Teil einer staatlichen Beihilferegelung waren, läßt sich diesem Urteil entnehmen, daß die Verbindung einer diskriminierenden Abgabe mit einem Beihilfesystem nicht ausreicht, um die Anwendung von, Artikel 95 auszuschließen. In neuerer Zeit — Urteil vom 10. Oktober 1978 in der Rechtssache 148/77 (Hansen, Slg. 1978, 1807) — hat der Gerichtshof entschieden: „Wenn nationales Steuerrecht die Erzeugung bestimmter Arten von Branntwein oder bestimmte Gruppen von Erzeugern mittels Steuerbefreiung oder Steuerermäßigung begünstigt, dann müssen diese Vergünstigungen, auch wenn nur ein geringer Teil der nationalen Erzeugung in ihren Genuß gelangt oder sie aus besonderen sozialen Gründen gewährt werden, auf eingeführten Branntwein aus der Gemeinschaft erstreckt werden, der ... die gleichen Voraussetzungen erfüllt“ (Randnr. 20 der Entscheidungsgründe). In diesem Urteil hat es der Gerichtshof vorgezogen, das Problem unter dem Gesichtspunkt des Artikels 95 anstatt dem der Beihilfebestimmungen der Artikel 92 bis 94 zu untersuchen, „da diese letzteren ebenfalls auf dem gleichen Grundgedanken wie Artikel 95 beruhen, nämlich dem der Beseitigung öffentlicher Eingriffe — einschließlich steuerlicher Ermäßigungen —, die die normalen Handelsbedingungen zwischen Mitgliedstaaten verfälschen können“ (Randnr. 14 der Entscheidungsgründe).

Diese Entscheidungen lassen das genannte Urteil vom 21. März 1980 in der Rechtssache 73/79 (Kommission/Italienische Republik) im richtigen Licht erscheinen; dort hat der Gerichtshof bestätigt, daß die eventuelle Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit Artikel 95 ein hinreichender Grund für die Aufhebung der Maßnahme sein kann. Dies ist zwangsläufig dann der Fall, wenn die Art der Finanzierung der Beihilfe die konkurrierenden ausländischen Erzeugnisse, denen die Beihilfe nicht zugute kommt, belastet oder wenn das Aufkommen aus einer Abgabe, die in nichtdiskriminierender Weise auf inländische und auf eingeführte Erzeugnisse erhoben wird, dazu bestimmt ist, die den inländischen Erzeugnissen gewährte Beihilfe zu finanzieren. Im vorliegenden Fall läge die Beihilfe einfach in der Anwendung eines Systems von Steuererleichterungen (Befreiungen oder Ermäßigungen), das praktisch nur den inländischen Erzeugnissen zugute kommt. Auch wenn also die Gewährung einer Beihilfe für diese Erzeugnisse zulässig gewesen wäre, genügte doch der Umstand, daß sie mittels einer diskriminierenden Besteuerung zum Nachteil der eingeführten Erzeugnisse aufgebracht wird, die Unvereinbarkeit der Beihilfe mit Artikel 95 und daher ihr Verbot zu bewirken.

6. 

Aus diesen Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, sich zu den durch die Vorlagefragen der Corte d'Appello Mailand aufgeworfenen Problemen wie folgt zu äußern:

1.

Die Stellungnahmen der Kommission nach Artikel 169 EWG-Vertrag sind nicht verbindlich; sie zeitigen Wirkungen nur in dem in diesem Artikel geregelten Verfahren zur Beanstandung von Vertragsverletzungen.

2.

Das Diskriminierungsverbot nach Artikel 95 EWG-Vertrag erstreckt sich auf jede Steuerregelung, durch die eingeführte Waren unmittelbar oder mittelbar (also auch im Wege der Gewährung von Steuerbefreiungen oder -ermäßigungen, die praktisch nur für inländische Erzeugnisse gelten) stärker belastet werden als entsprechende inländische Waren.

3.

Seit Beginn der zweiten Stufe der in Artikel 8 EWG-Vertrag vorgesehenen Übergangszeit verbietet Artikel 95 strikt jede Erhebung inländischer Abgaben mit diskriminierendem Charakter.

4.

Der Umstand, daß der die Abgabe erhebende Staat eine Regelung über Steuerbefreiungen, durch die die inländische Erzeugung gefördert werden soll, als Ausdruck einer umfassenden Politik zur Unterstützung inländischer beihilfebedürftiger Wirtschaftszweige ansieht, genügt nicht, um diese Regelung vom Diskriminierungsverbot des Artikels 95 auszunehmen.


( 1 ) Aus dem Italienischen übersetzt.