SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS GERHARD REISCHL

VOM 21. MAI 1977

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Nach Artikel 38 des EWG-Vertrags umfaßt der in Titel II des zweiten Teils dieses Vertrages geregelte Gemeinsame Markt für die Landwirtschaft auch die Fischerei. Eine erste eingehende Regelung dieses Sachgebiets erfolgte durch die Ratsverordnungen Nr. 2141/70 und 2142/70 vom 20. Oktober 1970 (ABl. L 236 vom 27. 10. 1970, S. 1 und S. 5), die durch die Ratsverordnungen Nr. 100/76 vom 19. Januar 1976 über die gemeinsame Marktorganisation für Fischereierzeugnisse (ABl. L 20 vom 28. 1. 1976, S. 1) und Nr. 101/76 vom 19. Januar 1976 über die Einführung einer gemeinsamen Strukturpolitik für die Fischwirtschaft (ABl. L 20 vom 28. 1. 1976, S. 19) ersetzt wurden. Artikel 2 Absatz 1 der Ratsverordnung Nr. 101/76 bestimmt:

 

Die Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten für die Ausübung der Fischerei in den ihrer Oberhoheit oder ihrer Gerichtsbarkeit unterliegenden Meeresgewässern dürfen zu keiner unterschiedlichen Behandlung anderer Mitgliedstaaten führen.

 

Die Mitgliedstaaten gewähren insbesondere allen die Flagge eines Mitgliedstaates führenden und im Bereich der Gemeinschaft registrierten Fischereifahrzeugen gleichen Zugang zu den Fanggründen und zur Fischerei in den in Absatz 1 genannten Gewässern.

Bestimmungen über die Regelung der Fischereirechte enthalten ferner die Artikel 100 bis 103 der Akte über die Beitrittsbedingungen und die Anpassungen der Verträge. Für den vorliegenden Fall ist von Bedeutung Artikel 102 dieser Akte, der folgenden Wortlaut hat:

 

Spätestens ab dem sechsten Jahr nach dem Beitritt legt der Rat auf Vorschlag der Kommission die Voraussetzungen für die Ausübung des Fischfangs im Hinblick auf den Schutz der Fischbestände und die Erhaltung der biologischen Schätze des Meeres fest.

Am 30. Oktober 1976 erließ der Rat in Den Haag eine Reihe von Entschließungen, nach denen die Mitgliedstaaten im Rahmen einer konzertierten Aktion vom 1. Januar 1977 an die Grenzen ihrer Fischereizonen auf eine Entfernung von 200 Meilen von ihren Nordsee- und Nordatlantikküsten ausdehnten. Im Zusammenhang mit diesen Entschließungen hat die Kommission folgende Erklärung abgegeben, die als Anhang VI der Entschließungen von Den Haag wiedergegeben wurde:

 

In Erwartung des Vollzugs der Gemeinschaftsmaßnahmen auf dem Gebiet der Erhaltung der Fischbestände, die gegenwärtig ausgearbeitet werden, treffen die Mitgliedstaaten keine einseitigen Maßnahmen zur Erhaltung der Fischbestände.

 

Wenn jedoch in den internationalen Fischereikommissionen im Jahre 1977 keine Einigung erzielt werden sollte und anschließend nicht sogleich autonome Gemeinschaftsmaßnahmen getroffen werden können, dürfen die Mitgliedstaaten einstweilen in nicht diskriminierender Weise die geeigneten Maßnahmen treffen, um den Schutz der Fischbestände in den Fischereizonen der Küstengewässer zu gewährleisten.

 

Vor Erlaß dieser Maßnahmen hat der betreffende Mitgliedstaat um die Zustimmung der Kommission nachzusuchen, die in allen Verfahrensstadien zu konsultieren ist.

 

Etwa erlassene Maßnahmen dieser Art greifen den Grundentscheidungen nicht vor, die im Hinblick auf die Durchführung der Gemeinschaftsbestimmungen auf dem Gebiet der Erhaltung der Fischbestände getroffen werden.

Der Rat hat dieser Erklärung ausdrücklich zugestimmt.

Bei der gleichen Gelegenheit hat der Rat eine Entschließung über gewisse Grundsätze der Fischerei im Inneren der Gemeinschaft angenommen, in der er die Notwendigkeit von Kontrollen und wirksamen Maßnahmen im Hinblick auf die Wiederherstellung und den Schutz der Fischgründe sowie ferner die Notwendigkeit anerkannt hat, die Probleme der Küstenfischerei, insbesondere in den wirtschaftlich benachteiligten Regionen, zu lösen und die Fischerei innerhalb der Küstenzone zu regeln. In diesem Zusammenhang hat der Rat die besonderen Probleme Irlands und das Erfordernis einer fortschreitenden und kontinuierlichen Entwicklung der irischen Fischereiwirtschaft bestätigt.

Nachdem die in der Folgezeit unternommenen Versuche, zu einer wenigstens übergangsweisen Regelung des Problems der Erhaltung und Pflege der Fischbestände zu kommen, zu keinem Erfolg führten, unterrichtete der irische Außenminister am 14. Februar 1977 die Kommission davon, daß die irische Regierung beschlossen habe, einseitig die konservierenden Maßnahmen zu treffen, die sie für notwendig halte. Am 16. Februar 1977 erließ der irische Minister für Fischerei die zwei Verordnungen, die den Gegenstand der vorliegenden Vertragsverletzungsklage der Kommission sowie des gleichzeitig eingereichten Antrags auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung bilden. In der „Sea Fisheries (Conservation and national Exploitation) Order 1977“ wird die Fischerei innerhalb einer bestimmten Zone um Irland verboten, in der „Sea Fisheries (Conservation and national Exploitation) Nr. 2 Order 1977“ werden von diesem Verbot Fischereiboote ausgenommen, deren Länge 33 m und deren Motorleistung 1100 Pferdestärken nicht überschreitet.

Nachdem weitere Versuche, im Rat zu einer Einigung zu gelangen, gescheitert waren, setzte die irische Regierung die Kommission mit Schreiben vom 4. April 1977 davon in Kenntnis, daß sie die Maßnahmen vom 16. Februar 1977 mit Wirkung vom 10. April 1977 in Kraft setze. Am 2. Mai 1977 leitete die Kommission das Vertragsverletzungsverfahren gegen Irland ein, das zu der vorliegenden Klage und dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung führte.

Zu dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nehme ich wie folgt Stellung:

1.

Die Auffassung der irischen Regierung, daß eine einstweilige Anordnung in Verfahren nach Artikel 169 des EWG-Vertrags, die sich auf eine gesetzgeberische Maßnahme eines Mitgliedstaats beziehen, nicht zulässig sei, vermag ich nicht zu teilen. Die in einem Verfahren auf Feststellung einer Vertragsverletzung ergehende Endentscheidung kann zweifelsohne dem betroffenen Mitgliedstaat die Aufhebung oder Änderung gesetzlicher Bestimmungen auferlegen. Die Vorschrift des Artikels 186 des EWG-Vertrags, nach der der Gerichtshof in den bei ihm anhängigen Sachen die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen kann, ist zudem ganz allgemein gefaßt und sieht keinerlei Ausnahmen für bestimmte Arten von Verfahren oder Maßnahmen vor. Es ist also nicht ersichtlich, wieso Artikel 186 des EWG-Vertrags in Vertragsverletzungsverfahren nicht anwendbar sein sollte.

2.

Grundvoraussetzung für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist, daß eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß die Klage in der Hauptsache begründet ist Dies ist meines Erachtens im vorliegenden Falle jedenfalls hinsichtlich des Vorwurfs der Diskriminierung der Fischereifahrzeuge der übrigen Mitgliedstaaten durch die irischen Maßnahmen hinreichend glaubhaft gemacht. Dabei kann es in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob es notwendig ist, zu den Maßnahmen nach Anhang VI zu den Entschließungen von Den Haag die förmliche Zustimmung der Kommission einzuholen. Denn auch derartige Maßnahmen dürfen nach dem völlig eindeutigen Wortlaut des Anhangs VI auf keinen Fall diskriminierender Art sein. Nach den von der Kommission vorgelegten Statistiken ist davon auszugehen, daß von den irischen Verordnungen nur eines oder zwei irische Fischereifahrzeuge betroffen werden. Demgegenüber werden fast alle niederländischen und etwa ein Viertel der französischen Fischereifahrzeuge, die bisher in dem fraglichen Gebiet tätig waren, von einer Fischerei in diesem Seegebiet in Zukunft ausgeschlossen. Dies deutet, vor allem wenn man bedenkt, daß die größere Entfernung vom Fischereigebiet den Einsatz größerer Fahrzeuge nahelegt, im Ergebnis auf eine Diskriminierung der Fischereifahrzeuge dieser Mitgliedstaaten hin, wenn auch der Wortlaut der einschlägigen irischen Verordnung nicht auf die Nationalität der einzelnen Fahrzeuge abstellt. Die angegriffenen irischen Verordnungen scheinen also jedenfalls nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand gegen Artikel 2 Absatz 1 der Ratsverordnung Nr. 101/76 vom 19. Januar 1976 und gegen den Anhang VI zu den Entschließungen von Den Haag zu verstoßen, so daß eine Vertragsverletzungsklage schon aus diesem Grunde als begründet anzusehen wäre.

Da sich eine einstweilige Maßnahme somit schon deshalb rechtfertigen würde, braucht auf die Frage, ob die irischen Verordnungen etwa über das Ziel der Konservierung der Fischbestände hinausgehen, jetzt nicht eingegangen zu werden.

3.

Die Dringlichkeit einer Entscheidung über die Anwendbarkeit der irischen Verordnungen ergibt sich im Gegensatz zur Auffassung der irischen Regierung allein schon daraus, daß die Verordnungen praktisch angewendet werden, daß in ihrem Vollzug dagegen verstoßende Fischereifahrzeuge aufgebracht werden und daß gegen deren Inhaber strafrechtlich vorgegangen wird.

4.

Wichtige Voraussetzung für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist, daß diese notwendig ist, um einen schweren, irreparablen Nachteil zu verhindern.

Die Kommission trägt hierzu vor, daß die Verhandlungen mit dritten Ländern über Fischereifragen durch die irischen Maßnahmen behindert würden. Sie hat aber meines Erachtens nicht in ausreichendem Maße glaubhaft gemacht, daß diese Verhandlungen, was Fangquoten und ähnliches angeht, schon so weit vorangetrieben sind, daß sie durch die irischen Maßnahmen überhaupt beeinträchtigt werden können. Voraussetzung für diese Verhandlungen mit Drittländern ist überdies, daß zuvor eine eindeutige und klare Regelung über die Fischereizone und etwaige Schutzmaßnahmen, wie Fangquoten, Schonzeiten und Schutzzonen, innerhalb der EWG ergeht. In diesem Zusammenhang möchte ich aber darauf hinweisen, daß es mir auch nicht ausreichend glaubhaft gemacht erscheint, daß die innere Festlegung einer gemeinsamen Fischereistrukturpolitik ausgerechnet durch die irischen Maßnahmen behindert wird. Denn diese sind ihrer ganzen Anlage nach lediglich interimistisch und sollen ja nur die Zeit bis zu einer wirksamen Schutzregelung überbrücken.

Soweit die Kommission meint, daß aufgrund der irischen Maßnahmen die Gefahr besteht, daß in anderen Seegebieten eine Überfischung stattfindet, weil die aus dem gesperrten Gebiet ausweichenden Fischereifahrzeuge dort Ersatz suchen, hat sie hierfür kein ausreichendes Tatsachenmaterial vorgetragen. Außerdem muß darauf hingewiesen werden, daß letzten Endes jede einschränkende Maßnahme in einem Fischereigebiet — und derartige Maßnahmen hält auch die Kommission für notwendig — möglicherweise Auswirkungen auf andere Fischereigebiete hat.

Ein erheblicher und nicht reparabler Schaden könnte für den Fall, daß keine einstweilige Anordnung ergeht und die irischen Maßnahmen bestehen bleiben, dadurch entstehen, daß ein im Falle Frankreichs bedeutender, im Falle der Niederlande sogar entscheidender Teil der Fischereifahrzeuge, die bisher in dem ihnen nunmehr versperrten Gebiet gefischt haben, davon für längere Zeit ausgeschlossen werden. Diesen Eindruck scheinen die von der Kommission vorgelegten Statistiken prima facie zu bestätigen. Die Fakten werden allerdings von der irischen Regierung teilweise bestritten; z. B. hat nach den irischen Angaben nur etwa die Hälfte der in der Statistík aufgeführten niederländischen Boote nach den Erfahrungen, die bisher gesammelt worden sind, überhaupt die Absicht, in irischen Gewässern zu fischen. Im übrigen wirft die Betrachtung der Statistik, wenn man sie näher unter die Lupe nimmt, Zweifel an den von der Kommission gezogenen Schlußfolgerungen auf. Mir tauchen dabei folgende Fragen als wichtig auf: In welchem Umfang und in welchen Zeiträumen haben die ausgeschlossenen Schiffe überhaupt in den irischen Gewässern tatsächlich gefischt? Inwieweit können diese Schiffe, soweit es sich um jetzt zu große handelt, durch kleinere Schiffe ersetzt werden? Meines Erachtens ist es notwendig, zu diesen Fragen absolute Klarheit zu haben und das Ausmaß des drohenden Schadens, der ja Voraussetzung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung ist, zu kennen.

Dies gilt um so mehr, als ich der Auffassung bin, daß dem Erlaß einer einstweiligen Anordnung wie der im vorliegenden Verfahren beantragten eine Güterabwägung in dem Sinne vorausgehen muß, daß auch diejenigen drohenden irreparablen Nachteile in Erwägung zu ziehen sind, die bei Erlaß der begehrten einstweiligen Anordnung drohen, in diesem Falle also bei einer einstweiligen Aussetzung der irischen Maßnahmen. Hier ist ganz offensichtlich nicht von der Hand zu weisen, daß bei Aussetzung der irischen Verordnungen, ohne daß sie — und das womöglich auf längere Zeit — durch wirksame andere Maßnahmen ersetzt werden, große und voraussichtlich auch irreparable Gefahren für den Fischbestand in den irischen Gewässern drohen.

Solange nicht Klarheit über das wahre Ausmaß des der niederländischen und französischen Fischereiwirtschaft durch die irischen Maßnahmen tatsächlich drohenden Schadens besteht, sehe ich mich zu dieser Güterabwägung, die ich für absolut notwendig halte, außerstande. Daher möchte ich zur Zeit noch keinen Antrag auf Aussetzung der irischen Maßnahmen stellen, zumal im Verfahren nicht klargeworden ist, daß sie umgehend durch einseitige wirksame Maßnahmen, deren Vertragskonformität außer Zweifel steht, ersetzt werden können. Auch hat es sich meines Erachtens nicht gezeigt, daß umgehend ein Ersatz durch Maßnahmen multilateraler Art innerhalb der Gemeinschaft möglich erscheint.

Ich beantrage vielmehr, gemäß Artikel 85 in Verbindung mit Artikel 84 Paragraph 2 der Verfahrensordnung, im Wege der Beweisaufnahme die erforderliche Klarheit über den der niederländischen und französischen Fischwirtschaft tatsächlich drohenden Schaden durch Rückfragen bei den beiden Regierungen zu schaffen.

Allerdings möchte ich schon heute darauf hinweisen, daß ich für den Fall, daß die Beweisaufnahme, die meines Erachtens nur wenige Tage in Anspruch zu nehmen bräuchte, einen erheblichen drohenden Schaden glaubhaft macht, die oben dargestellte Güterabwägung in dem Sinne vornehmen würde, daß ich eine befristete Aussetzung der irischen Verordnungen im Wege einer einstweiligen Anordnung beantragen würde. Ich würde auf eine Befristung deshalb dringen, weil damit den Beteiligten Gelegenheit und vielleicht auch Anlaß gegeben würde zu möglichst raschen Verhandlungen über eine wirksame und angemessene und dann wohl auch haltbare Ersatzlösung.

Für den Fall, daß der Gerichtshof meinem Antrag auf Durchführung dieser Beweisaufnahme nicht folgen möchte, bitte ich, meinen jetzt angekündigten Antrag als Hilfsantrag zu behandeln.