SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS GERHARD REISCHL

VOM 7. DEZEMBER 1976

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Nach dem französischen Gesetz vom 13. Juli 1971 werden behinderten Personen Beihilfen gewährt. In den Genuß dieser Regelung kommen sowohl minderjährige Behinderte bis zur Vollendung des 20. Lebensjahres als auch erwachsene Behinderte, die das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Für letztere ist allerdings Voraussetzung, daß sie die französische Staatsangehörigkeit haben und in Frankreich wohnen.

Herr Inzirillo, ein italienischer Staatsbürger, der in Frankreich als Arbeitnehmer beschäftigt und dort wohnhaft ist, will erreichen, daß auch sein im Jahre 1948 geborener, schwer geisteskranker Sohn, der gleichfalls die italienische Staatsangehörigkeit besitzt und in Frankreich, offenbar bei seinen Eltern, wohnt, die Beihilfe für behinderte Erwachsene erhält. Sein Antrag wurde jedoch unter Hinweis auf das nach dem erwähnten Gesetz geltende Staatsangehörigkeitserfordernis von der zuständigen Instanz, der Caisse d'allocations familiales de l'arrondissement de Lyon, abgewiesen. Auch mit der Anrufung von zwei im Rahmen der Sozialversicherung zuständigen Kommissionen sowie mit der Berufung gegen ihre Entscheidungen beim Appellationsgericht Lyon hatte der Kläger keinen Erfolg. Was die vom Kläger geltend gemachte Verletzung der Ratsverordnung Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. 1968, L 257) angeht, so führte das Appellationsgericht — offenbar in Unkenntnis des Urteils der Rechtssache 32/75 (Anita Cristini/Société Nationale des Chemins de Fer Français, Urteil vom 30. September 1975, Slg. 1975, 1085) — aus, Artikel 7 der Verordnung erfasse nur „soziale Vergünstigungen“, die in einer unmittelbaren Beziehung zum Beschäftigungsverhältnis stünden und die Arbeitsund Lohnbedingungen beträfen, nicht dagegen Leistungen, die in das. Gebiet des sozialen Schutzes fielen. Die Verordnung Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. 1971, L 149), aber sei nicht anwendbar, weil Beihilfen an erwachsene Behinderte nicht als Familienleistungen angesehen werden könnten.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger den Kassationsgerichtshof angerufen. Dabei beschränkte er sich allerdings darauf, eine Verletzung der Verordnung Nr. 1408/71 geltend zu machen. Nach wie vor ist er der Überzeugung, die von ihm für seinen Sohn beanspruchte Beihilfe stelle eine Sozialversicherungsleistung dar und müsse deshalb aufgrund der genannten Verordnung den Angehörigen aller Mitgliedstaaten gleichermaßen gewährt werden.

Der Kassationsgerichtshof setzte durch Urteil vom 26. Mai 1976 das Verfahren aus und stellte die Frage zur Vorabentscheidung, ob in Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 die mit Gesetz vom 13. Juli 1971 allein zugunsten französischer Staatsangehöriger mit Wohnort in Frankreich eingeführte Beihilfe für erwachsene Behinderte einem erwachsenen Behinderten italienischer Staatsangehörigkeit zu gewähren sei, der niemals selbst als Arbeitnehmer in Frankreich tätig gewesen sei, der aber dort wohne und dessen Vater dort als italienischer Wanderarbeitnehmer beschäftigt sei.

Die Beklagte hat hierzu vor allem betont, die Verordnung Nr. 1408/71 sei auf Fürsorgeleistungen nicht anwendbar. Als solche seien aber allein nach der Bedürftigkeit bemessene Beihilfen an erwachsene Behinderte anzusehen, wenn diese nie Arbeitnehmer oder den Arbeitnehmern Gleichgestellte gewesen seien. Klar sei zudem, daß die streitige Beihilfe nicht als Familienleistung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 gelten könne. Die Verordnung habe nämlich einmal nur die Kategorien von Leistungen in Betracht gezogen, die bei ihrem Erlaß schon existierten; die französische Beihilfe für Behinderte sei aber erst zu einem späteren Zeitpunkt eingeführt worden. Zum anderen könnten Personen, die älter als 20 Jahre seien, im Sinne der französischen Sozialversicherung, auf die es im vorliegenden Fall entscheidend ankomme, nicht als unterhaltsberechtigte Kinder gelten, ganz abgesehen davon, daß im vorliegenden Fall Anspruchsinhaber nicht der Vater, sondern der Behinderte selbst sei.

Die Kommission hat demgegenüber ausgeführt, die Beihilfe für erwachsene Behinderte, auf die ein gesetzlicher Anspruch bestehe, könne durchaus als Teil des Sozialversicherungssystems angesehen werden, und es müsse deshalb davon ausgegangen werden, daß sie in den sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 falle. Die Beihilfe komme unter anderem Personen zugute, deren Alters- oder Invalidengeld die Höhe der Beihilfeleistungen nicht erreiche. Zum persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 sei zwar anzuerkennen, daß der in Frage stehende Behinderte wegen seines Alters nicht mehr als Familienangehöriger im Sinne des nach der Verordnung maßgebenden französischen Rechts angesehen werden könne. Im Hinblick auf den Grundsatz der Freizügigkeit und die allgemeine, in der Verordnung und in der einschlägigen Rechtsprechung erkennbare Tendenz sei jedoch diese Schlußfolgerung nicht befriedigend, da nicht angenommen werden könne, daß der Gesetzgeber der Gemeinschaft mit der Definition des Familienangehörigen nach nationalem Recht eine solche Wirkung gewollt habe. So habe der behinderte Sohn des Klägers, der bei diesem wohne und von diesem offenbar auch unterhalten werde, nach Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 das Recht — eine Altersgrenze gebe es hier nicht —, im Wohnsitzstaat des Vaters zu wohnen, und er könne außerdem der Kommissionsverordnung Nr. 1251/70 (ABl. 1970, L 142) zufolge dort auch nach dem Tod seines Vaters ständig verbleiben. Daraus und namentlich auch aus dem Urteil der Rechtssache 7/75 (Eheleute F./Belgischer Staat, Urteil vom 17. Juni 1975, Slg. 1975, 679) könne nur gefolgert werden, daß solche Personen als Familienangehörige eines Wanderarbeitnehmers gelten müßten, und damit stehe fest, daß in einem solchen Falle der Grundsatz des Artikels 3 der Verordnung Nr. 1408/71 eingreife, nach dem Wanderarbeitnehmer nicht anders behandelt werden dürften als Angehörige des Staates, in dem sie arbeiten; das nach dem französischen Gesetz vom 13. Juli 1971 geltende Staatsangehörigkeitserfordernis müsse daher als unbeachtlich angesehen werden.

Ich möchte dieser Ansicht der Kommission den Vorzug geben.

Dabei scheint mir die von der Beklagten ausführlich abgehandelte Frage, ob die Beihilfe für erwachsene Behinderte als Familienleistung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 gelten kann, nicht entscheidend zu sein. In meinen Augen sind vielmehr, was das Problem des sachlichen und persönlichen Anwendungsbereichs der Verordnung Nr. 1408/71 in einem Fall wie dem vorliegenden und namentlich den Begriff des Familienangehörigen sowie das auch für ihn geltende Gleichbehandlungsgebot angeht, vor allem zwei frühere Vorabentscheidungen wichtig. Sie betrafen zwar ein belgisches Gesetz, das ebenfalls Beihilfen für erwachsene Behinderte vorsieht; ich sehe aber nicht, wie man in bezug auf eine entsprechende, in Frankreich geltende Regelung zu einer anderen Wertung kommen könnte.

So wurde in der Rechtssache 39/74 (Luciana Mazzier/Belgischer Staat, Urteil vom 12. November 1974, Slg. 1974, 1251) festgestellt, die erwähnte belgische Regelung gehöre zum Bereich der Sozialversicherung, soweit Behindertenbeihilfe Personen gewährt werde, für die die Verordnung Nr. 3 gelte. Dies wurde im Hinblick auf die Klägerin des damaligen Ausgangsverfahrens offenbar angenommen, denn der Gerichtshof hat sich in seinem Urteil mit der angeführten Feststellung begnügt und ist nicht auf die hilfsweise gestellte Frage eingegangen, ob ein Anspruch der Klägerin nach der Verordnung Nr. 1612/68 begründet sein könnte. Dabei ging es in jenem Verfahren um den Anspruch einer volljährigen Italienerin, die mit einem Belgier verheiratet und selbst nie bezahlte Arbeitnehmerin war, also auch keinen Anspruch aus der Sozialversicherung geltend machen konnte.

In dem anderen, noch bedeutsameren Fall, der Rechtssache 7/75, ging es um das Kind eines Arbeitnehmers, für das Behindertenbeihilfe beansprucht wurde. Dazu wurde ausdrücklich festgestellt, Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen fielen in den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71. Aus Artikel 3 in Verbindung mit' Artikel 2 der genannten Verordnung folge, daß Familienangehörigen eines Arbeitnehmers im Rahmen des sachlichen Geltungsbereichs der Verordnung die gleichen Rechte aufgrund der Rechtsvorschriften ihres Wohnsitzlandes zustehen müßten wie den Staatsangehörigen dieses Landes. Außerdem könne — und das ist für den vorliegenden Fall von besonderer Wichtigkeit — die erwähnte Gleichbehandlung nicht mit dem Eintritt der Volljährigkeit enden, wenn das Kind wegen seiner Behinderung nicht selbst die Eigenschaft eines Arbeitnehmers im Sinne der Verordnung erwerben könne. Zu diesem Ergebnis kam der Gerichtshof nicht zuletzt deswegen, weil eine abweichende Wertung der Zielsetzung des Grundsatzes der Freizügigkeit der Arbeitnehmer widersprochen hätte. Tatsächlich würde sonst — so heißt es in dem Urteil ausdrücklich — ein „Arbeitnehmer, der seinem Kind den dauerhaften Bezug der wegen der Behinderung notwendigen Beihilfen sichern möchte, verleitet, nicht -in dem Mitgliedstaat zu bleiben, in dem er sich niedergelassen und eine Beschäftigung gefunden hat“.

Besonders bemerkenswert erscheint wir, was Generalanwalt Trabucchi, der dieses Ergebnis auch befürwortet hat, in seinen Schlußanträgen zu diesem Fall ausgeführt hat.

Nachdem er aus der Verordnung Nr. 1612/68 die Notwendigkeit abgeleitet hatte, die Gleichbehandlung eines Wanderarbeitnehmers auch hinsichtlich der Bedingungen für die Integration seiner Familie im Aufnahmeland zu gewährleisten, und nachdem er hervorgehoben hatte, zur Erreichung einer tatsächlichen Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft sei es erforderlich, sie auf wirtschaftlichem Gebiet und besonders auf dem Gebiet der Sozialleistungen mit den Staatsangehörigen wirklich auf eine Stufe zu stellen, betonte er, das geltende Recht enthalte zwar keine speziell auf das damalige Problem zugeschnittenen Vorschriften, die Lösung ergebe sich aber eindeutig aus den Grundsätzen und Zielen des Sozialrechts der Gemeinschaft, aus der allgemeinen Tendenz der Vorschriften des Rates und der Kommission sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Außerdem müsse in Ermangelung einer Vorschrift, die deutlich für oder gegen die Anerkennung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auch für erwachsene Arbeitnehmerkinder, die mit ihren Eltern zusammenwohnen und von ihnen unterhalten werden, spreche, die Verordnung Nr. 1408/71 auch anhand eines übergeordneten Gerechtigkeitsprinzips ausgelegt werden. Ich könnte mir denken, daß solche Erwägungen, auch wenn davon nichts im Urteil steht, für den Gerichtshof gleichermaßen eine Rolle gespielt haben.

Hält man das aber für. richtig — und ich sehe eigentlich keine anderen als allenfalls formaljuristische Einwendungen — und geht man auch davon aus, daß die Behindertenbeihilfe unter anderem dazu da ist, einen Ausgleich für Familienlasten zu gewähren, so ist auf die Anfrage des Kassationsgerichtshofes so zu antworten, wie es die Kommission vorgeschlagen hat.

Sollten indessen mit Rücksicht auf das System der Verordnung Nr. 1408/71 Bedenken bestehen, in der vorgeschlagenen Weise zu entscheiden, so müßte wohl deutlich gemacht werden, selbst wenn nicht danach gefragt ist, daß sich ein entsprechendes Ergebnis unter Heranziehung von Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68 rechtfertigen ließe. In dieser Vorschrift heißt es:

„Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen … nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.

Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.

…“

In Anbetracht meiner zu der Verordnung Nr. 1408/71 entwickelten Auffassung brauche ich das jetzt wohl nicht weiter zu vertiefen. Ich weise nur darauf hin, daß im Urteil der Rechtssache 32/75 ausdrücklich betont wurde, die Verweisung auf die sozialen Vergünstigungen in Artikel 7 Absatz 2 dürfe nicht einschränkend ausgelegt werden, ihr sachlicher Anwendungsbereich sei vielmehr im Sinne der von dieser Bestimmung angestrebten Gleichbehandlung in der Weise abzugrenzen, daß er alle sozialen und steuerlichen Vergünstigungen umfasse, gleichgültig, ob diese an den Arbeitsvertrag anknüpften oder nicht.

Ich hielte es jedoch für sehr bedenklich, wenn die Kammer selbst im vorliegenden Fall eine solche Feststellung treffen würde. Sie würde nämlich nichts anderes bedeuten als die Aufgabe der zunächst erwähnten Rechtsprechung zu Fragen der Behindertenbeihilfe und des Anwendungsbereichs der Verordnung Nr. 1408/71. Sollte die Kammer also der zuletzt angedeuteten Meinung zuneigen, so wäre es sicher erforderlich, den Fall wieder vor das Plenum zu bringen und diesem die Entscheidung zu überlassen.

Nach alledem schlage ich vor, auf die Anfrage des Kassationsgerichtshofes wie folgt zu antworten:

In den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen nationale Gesetzesvorschriften, nach denen ein rechtlich geschützter Anspruch auf Gewährung von Beihilfe an Behinderte besteht. Die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 sollen gewährleisten, daß Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, die unter Inanspruchnahme des Grundsatzes der Freizügigkeit auf dem Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, in bezug auf Gesetze, die in den sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung fallen, ebenso behandelt werden wie die Angehörigen dieses Saates. Demgemäß darf der behinderte Sohn eines Wanderarbeitnehmers, auch wenn er volljährig ist, gegenüber den Angehörigen des Wohnsitzstaats nicht deswegen benachteiligt werden, weil er nicht Angehöriger dieses Staates ist.