SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS HENRI MAYRAS
VOM 1. DEZEMBER 1976 ( 1 )
Herr Präsident,
meine Herren Richter!
In den beiden Vorabentscheidungen, die Ihnen die Corte Suprema di Cassazione vorgelegt hat, sind die gleichen Fragen nach der Auslegung von Verordnungen zu beantworten, die der Rat im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Schweinefleisch während der Übergangszeit der schrittweisen Errichtung dieser Organisation erließ.
Wie Sie wissen, sahen die damals erlassenen Bestimmungen die Anwendung von Abschöpfungen auf die Einfuhr von Agrarerzeugnissen nicht nur aus dritten Ländern, sondern auch aus anderen Mitgliedstaaten vor.
Im vorliegenden Fall geht es um das Problem, ob die Abschöpfung und gegebenenfalls der Zusatzbetrag, die auf die Einfuhr von Würstchen in Konservierungsflüssigkeit erhoben wurden, nach dem Gesamtgewicht des Erzeugnisses einschließlich des Gewichts der Flüssigkeit zu berechnen waren oder ob letzteres abgezogen werden mußte.
Neben den in Artikel 1 der Verordnung Nr. 20 von 1962 enthaltenen Angaben wurde die Nomenklatur der zur gemeinsamen Marktorganisation des betreffenden Sektors gehörenden Erzeugnisse in Anhang II B der Verordnung Nr. 85/63/EWG des Rates vom 18. Juli 1963 festgelegt.
Zu diesen Erzeugnissen zählen Würste und dergleichen, aus Fleisch, aus Schlachtabfall oder aus Blut von Schweinen, die der Tarifstelle ex 16.01 B des Gemeinsamen Zolltarifs zugeordnet sind.
Auf diese Nomenklatur beziehen sich die Verordnungen, die den Betrag und die Berechnungsart der Abschöpfungen periodisch neu festsetzten. Dies gilt unter anderem für die Verordnungen Nr. 88 und 89/63/EWG, die die Abschöpfungen für die Einfuhren aus dritten Ländern sowie für den innergemeinschaftlichen Handel bestimmen. Der Betrag der Abschöpfungen wird darin je „100 kg Nettogewicht“ des Erzeugnisses festgesetzt.
Da es sich um eingeführte Würstchen in Behältnissen handelt, die eine Konservierungsflüssigkeit enthielten, waren die italienischen Zollbehörden der Auffassung, die Abschöpfung müsse nach dem gesamten Nettogewicht der Ware einschließlich des Gewichts der genannten Flüssigkeit berechnet werden.
Demgemäß wurde zwischen Oktober 1963 und Juni 1966 auf die von der Gesellschaft mit beschränkter Haftung Foral und der Aktiengesellschaft D. & C. getätigten Einfuhren von Würstchen in Dosen die Abschöpfung auf Grund des Gewichts des Erzeugnisses mit dem der Flüssigkeit, in der es konserviert war, erhoben.
Durch Verordnung Nr. 84/66/EWG änderte der Rat jedoch die in den Anhängen der Verordnung Nr. 85/63/EWG enthaltene Nomenklatur einiger Schweinefleischerzeugnisse und fügte bei der Bezeichnung der Waren der Tarifstelle ex 16.01 B in Anhang II B der Verordnung Nr. 85/63/EWG folgende Bestimmung hinzu:
„Bei der Anwendung der Abschöpfung auf Würstchen in Behältnissen, die auch Konservierungsflüssigkeit enthalten, wird nur das Gewicht der Würstchen zugrunde gelegt.“
Die Firmen Foral und D. & C. nahmen diese Bestimmung zum Anlaß, die Höhe der ihnen auferlegten Abschöpfungen mit Erfolg anzufechten. Ihrer Klage wurde in erster Instanz vom Tribunal Bologna stattgegeben. Dessen Entscheidung wurde von der Corte di Appello Bologna bestätigt.
Die Corte Suprema di Cassazione jedoch, die von der Staatlichen Finanzverwaltung angerufen wurde, war der Ansicht, Ihnen nach Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Vorabentscheidungsfragen nach der Auslegung der Ratsverordnungen Nr. 85/63/EWG und 84/66/EWG vorlegen zu müssen.
Mit der ersten will das Gericht von Ihnen wissen, ob der für die Erzeugnisse der Tarifstelle ex 16.01 geltende Artikel 2 der Verordnung von 1966, soweit er die Konservierungsflüssigkeit der Würstchen für die Berechnung der Abschöpfung ausdrücklich ausnahm, die frühere Verordnung auslegt und unter dieser Voraussetzung rückwirkende Kraft hat oder ob es sich vielmehr um eine neue Bestimmung handelt, die erst vom Inkrafttreten der Verordnung an wirksam war.
Für den Fall, daß Sie letzteres bejahen, legt Ihnen die Corte Suprema di Cassazione die Frage vor, ob unter der Geltung der Verordnung von 1963 das Gewicht der Konservierungsflüssigkeit bei der Berechnung der Abschöpfung zu berücksichtigen war oder ob sich jeder Mitgliedstaat, um dies zu entscheiden, nach seinen eigenen Zollvorschriften richten konnte.
I — |
Ich glaube, ich sollte die Reihenfolge, in der Ihnen diese beiden Fragen gestellt werden, umkehren und mich zunächst — wie die Kommission vorschlägt — mit der Auslegung der Verordnung Nr. 85/63/EWG wie auch der Bestimmungen befassen, die den Betrag der Abschöpfungen festsetzten, ungeachtet des späteren Erlasses der Verordnung Nr. 84/66/EWG. In dieser Hinsicht ist zu bemerken, daß die Einordnung der Würste und dergleichen, wie sie in der Nomenklatur in den Anhängen der erstgenannten Verordnung vorgenommen ist, den Angaben im Gemeisamen Zolltarif entspricht. Darüber hinaus präzisieren die Erläuterungen zum Brüsseler Zolltarifschema des Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens, daß diese Erzeugnisse auch dann in die betreffende Tarifstelle einzureihen sind, wenn sie sich in luftdicht verschlossenen Behältnissen befinden. Die für die Erzeugnisse dieser Tarifstelle geltende Abschöpfung scheint demnach die Würstchen unabhängig von ihrer Aufmachung zu erfassen, mögen sie in eine Flüssigkeit getaucht sein, die ihre Haltbarkeit sichern soll, oder nicht. Ist nicht auch der Umstand, daß die Abschöpfung auf Grund des Nettogewichts der Erzeugnisse der Tarif stelle 16.01 B zu berechnen ist, ein erstes Anzeichen dafür, daß das Gewicht der Konservierungsflüssigkeit unberücksichtigt bleiben muß? Stellen wir zunächst fest, daß sich den Gemeinschaftsbestimmungen über Abschöpfungen eine Definition des Nettogewichts nicht mit Bestimmtheit entnehmen läßt. Lediglich in einer Empfehlung der Kommission vom 13. März 1961 ist eine Definition des Zollgewichts enthalten und der Unterschied zwischen „Bruttogewicht“ und „Nettogewicht“ erläutert. Nach meiner Ansicht kann jedoch — abgesehen davon, daß der Begriff des Nettogewichts, das als Eigengewicht der Ware ohne alle Umschließungen angesehen wird, für sich allein nicht dazu verhelfen könnte, die Ihnen gestellte Frage zu beantworten — aus dieser Empfehlung nichts hergeleitet werden, denn sie betraf allein die Zölle und galt daher nicht für die in den Vorschriften über die gemeinsamen Agrarmarktorganisationen vorgesehenen Abschöpfungen. Dagegen ist meines Erachtens drei von der Kommission vorgetragenen Erwägungen beizupflichten. Erstens ist es eine Tatsache, daß in Anhang II B der Verordnung Nr. 85/63/EWG das in der Tarif stelle 16.01 B eingeordnete Erzeugnis ausschließlich als „Würste“ bezeichnet wird. Nirgendwo werden Würste in Dosen oder in Konserven erwähnt. Mir scheint daher der Begriff des Nettogewichts der Ware auf dieses Erzeugnis, für sich allein gesehen, Anwendung zu finden, nicht nur unabhängig von der Art seiner Aufmachung, sondern auch von einer Flüssigkeit als Beigabe, die allein dazu dient, die Haltbarkeit des Erzeugnisses zu sichern. Zweitens hat das Wasser, in dem sich die Würstchen befinden, auch wenn es gesalzen ist, nur die Aufgabe, das osmotische Gleichgewicht zu erhalten. Es soll das Austrocken der Ware verhindern, ändert aber in keiner Weise ihre organoleptischen Eigenschaften. Mit anderen Worten, die Beigabe von Flüssigkeit fügt der Ware kein qualitatives Merkmal hinzu. Schließlich trifft es zu, daß der Verordnungsgeber der Gemeinschaften für die Festsetzung der Abschöpfung keine nur der Konservierung dienende Flüssigkeit berücksichtigt hat. Dies ergibt sich aus den Artikeln 4 Absatz 2 und 5 Absatz 3 der Grundverordnung Nr. 20 von 1962 für die innergemeinschaftlichen Abschöpfungen beziehungsweise die Abschöpfungen gegenüber dritten Ländern. Bei den in Artikel 1 (Absatz 1 Buchstabe c) dieser Verordnung genannten Erzeugnissen, darunter denen der Tarif nummer 16.01, wird der Abschöpfungsbetrag unter Berücksichtigung des gewogenen Mittels der für Schweinefleisch, die Grunderzeugnisse und Schlachtabfall einerseits und die anderen Erzeugnisse, die bei ihrer Herstellung verwendet wurden, andererseits, geltenden Abschöpfungsbeträge bestimmt. Der Wortlaut dieser beiden Bestimmungen ist der gleiche: |
„… werden die innergemeinschaftlichen Abschöpfungsbeträge [oder die gegenüber dritten Ländern] für die einzelnen Mitgliedstaaten festgesetzt, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist:
a) |
wenn bei ihrer Herstellung ausschließlich die in Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe b genannten Erzeugnisse [also Grunderzeugnisse] verwendet wurden: das gewogene Mittel der für diese Erzeugnisse … festgesetzten Abschöpfungsbeträge; |
b) |
wenn bei ihrer Herstellung auch andere Erzeugnisse außer den in Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe b genannten Erzeugnissen verwendet wurden: das gewogene Mittel aller Abschöpfungsbeträge und Abgaben jeglicher Art, die bei Einfuhren aus Mitgliedstaaten [oder dritten Ländern] auf die bei ihrer Herstellung verwendeten Erzeugnisse erhoben wurden.“ |
Nun kann man aber nicht behaupten, daß die Konservierungsflüssigkeit (im Gegensatz vielleicht zur Salzlake) ein „Leiterzeugnis“ ist, das bei der Herstellung der Folgeerzeugnisse verwendet wird.
Unter einem anderen Gesichtspunkt ist daran zu erinnern, daß die Mitgliedstaaten damals, das heißt vor 1968, zwar eine gewisse Autonomie auf dem Gebiet des Zollwesens bewahrt hatten, die Abschöpfungsregelung der gemeinsamen Agrarmarktorganisationen ihnen aber keinen Ermessensspielraum einräumte. Die in den Gemeinschaftsverordnungen niedergelegten Begriffe mußten eine einheitliche Bedeutung haben und im gesamten Gemeinsamen Markt gleichmäßig angewandt werden.
Das Auslegungsproblem, das Sie zu lösen haben, stellt sich nur im Bereich der spezifischen Bestimmungen des fraglichen Agrarsektors und nicht in dem des Gemeinsamen Zolltarifs.
Die italienischen Behörden ihrerseits waren der Ansicht, die einzige Rechtsgrundlage für die im speziellen Fall anzuwendende gemeinschaftsrechtliche Abschöpfung sei in den zur Durchführung der Gemeinschaftsverordnungen erlassenen nationalen Zollvorschriften enthalten, nämlich in decreto legislativo 1181 vom 11. September 1963, nach dessen Artikel 6 sich die Behörden für die Anwendung der Abschöpfungs- und Erstattungsregelung nach dem italienischen Zollgesetz und den sonstigen italienischen Zollbestimmungen richten müssen.
Sie haben diese Ansicht unter anderem in Ihren Urteilen vom 7. Februar 1973 (Rechtssache 39/72, Kommission gegen Italien, Slg. 1973, 113 f.) und 10. Oktober 1973 (Rechtssache 34/73, Variola, Slg. 1973, 990 f.) verworfen.
Mit Recht haben Sie um Aufklärung darüber gebeten, wie sich die zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten in bezug auf die Berechnung der Abschöpfung auf die Einfuhr des fraglichen Erzeugnisses unter der im Jahre 1963 geltenden Regelung verhielten. Obgleich ich bedaure, daß uns die Erklärungen, die uns die Kommission gegeben hat, keine völlige Gewißheit verschafft haben, scheint doch die Mehrzahl der nationalen Zollverwaltungen das Gewicht der Konservierungsflüßigkeit nicht als Bemessungsgrundlage für die Abschöpfung berücksichtigt zu haben. Dies unterliegt im Hinblick auf die Niederlande keinem Zweifel, wo dahin gehende Anweisungen erteilt wurden. Die gleiche Entscheidung wurde in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund eines Rundschreibens vom 27. Juli 1964 getroffen. Die Anweisungen der französischen Behörden, zunächst mündlich erteilt und ganz kürzlich bestätigt, gehen in die gleiche Richtung. In Belgien schließlich würde die Einsichtnahme in bestimmte Zollabfertigungsunterlagen ebenfalls den Schluß zulassen, daß nur das Nettogewicht der eingeführten Würstchen der Abschöpfung unterlag.
Auch wenn einige der erteilten Auskünfte verhältnismäßig unbestimmt sind, ist somit doch ersichtlich, daß sich insgesamt gesehen die innerstaatlichen Behörden mit Ausnahme der italienischen Zollverwaltung gleich verhielten.
Diese Informationen liefern sicher nicht den ausschlaggebenden Gesichtspunkt für die Lösung des Problems. Sie stellen aber zumindest ein zusätzliches tatsächliches Argument zur Unterstützung der von der Kommission vertretenen Auffassung dar.
Was mich jedoch endgültig dazu bestimmt, den Ausführungen der Kommission zu folgen, ist der irrationale Charakter der von der italienischen Regierung vertretenen Auslegung, die darauf hinausläuft, daß auf in Salzwasser konservierte Würstchen eine Abschöpfung erhoben wird, deren Belastung auf Grund ihrer Festsetzungskriterien ungefähr doppelt so hoch ist wie die für die rohen Würstchen, da das Gewicht der Flüssigkeit nahezu gleich dem des Erzeugnisses selbst ist. Eine Konservierungsflüßigkeit läßt sich nicht mit dem „geringen Zusatz von … Stoffen zur Verbesserung des Geschmacks oder der Aufmachung“ gleichsetzen, die ihrerseits zum Zollgewicht gehören.
II — |
Unter diesen Umständen bin ich der Auffassung, daß die Verordnung Nr. 84/66/EWG nur der Auslegung diente und in dem Punkt, der die Corte Suprema di Cassazione interessiert, nur deklaratorische Bedeutung hat. Von daher gesehen können die „imprécisions“ oder „inexactitudes“ der sprachlichen Fassungen der Begründung zu dieser Verordnung nicht von Bedeutung sein. Der Einsatz des juristischen Instruments der Verordnung und die Festsetzung eines Zeitpunkts für das Inkrafttreten waren allerdings für die Ergänzung oder Änderung der Bezeichnung der Erzeugnisse in Anhang II B der Verordnung Nr. 85/63/EWG erforderlich: Lediglich insoweit wirkte die Verordnung Nr. 84/66/EWG nur für die Zukunft. |
Somit schlage ich Ihnen vor, wie folgt für Recht zu erkennen:
— |
Nach der Verordnung Nr. 85/63/EWG des Rates durfte bei der Anwendung der Abschöpfung auf Würstchen in Behältnissen, die auch Konservierungsflüssigkeit enthielten, nur das Gewicht der Würstchen zugrunde gelegt werden. |
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Die dahin gehende Präzisierung in der Verordnung Nr. 84/66/EWG des Rates hat rein deklaratorische Bedeutung. |
( 1 ) Aus dem Französischen übersetzt.