SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS GERHARD REISCHL

VOM 15. SEPTEMBER 1976

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

In dem Vorlageverfahren, zu dem ich heute Stellung nehme, geht es um den Begriff „Zivil- und Handelssachen“, der sich in Artikel 1 des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen — kurz: Zuständigkeitsübereinkommen — findet und dessen Anwendungsbereich bezeichnet. Dazu hat das Oberlandesgericht Düsseldorf aufgrund des Protokolls betreffend die Auslegung des genannten Übereinkommens die Frage gestellt, ob für die Auslegung des erwähnten Begriffes das Recht des Staates, in dem über die Klage entschieden worden ist (hier: Belgien), oder das Recht des Staates, in dem die Vollstreckungsklausel erteilt werden soll (hier: Bundesrepublik Deutschland), maßgebend ist.

Zum Sachverhalt, der dieser Fragestellung zugrunde liegt, muß ich zunächst folgendes vorausschicken:

Von einer Reihe von Staaten, unter anderen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft außer Dänemark und Italien, wurde am 13. Dezember 1960 das Internationale Übereinkommen über Zusammenarbeit zur Sicherung der Luftfahrt geschlossen. Es begründete die Europäische Organisation zur Sicherung der Luftfahrt — Eurocontrol —, eine mit Rechtspersönlichkeit ausgestattete internationale Organisation, die ihren Sitz in Brüssel hat.

Für die Inanspruchnahme der Flugsicherungsdienste, die von Eurocontrol erbracht werden, werden bei den Luftfahrzeughaltern sogenannte Streckennavigationsgebühren erhoben. Dafür sind, außer den Bestimmungen des Übereinkommens, bilaterale und mehrseitige Vereinbarungen maßgebend, für die Bundesrepublik Deutschland namentlich auch eine Verordnung des Bundesministers für Verkehr vom 27. Oktober 1971. In Paragraph 3 dieser Verordnung ist bestimmt, daß die Gebühren in Brüssel zahlbar sind; bezüglich der Gebührensätze, der Anwendungsbedingungen und des Erhebungsverfahrens wird außerdem auf einen Beschluß Bezug genommen, den das Exekutivorgan von Eurocontrol, die Agentur für die Luftverkehrssicherungsdienste, am 16. Juni 1971 erlassen hat.

Aufgrund dieser Bestimmungen stellte Eurocontrol für den Zeitraum von Dezember 1971 bis Oktober 1972 Gebührenrechnungen zu Lasten des deutschen Lufttransportunternehmens LTU, der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens, aus. In ihnen findet sich eine Gerichtsklausel zugunsten der belgischen Gerichte, wie übrigens von der Zuständigkeit belgischer Gerichte auch in den Zahlungsbedingungen für die Benutzergebühren die Rede ist, die die Beilage 2 des Anhangs zu dem bereits erwähnten Beschluß der Eurocontrol-Agentur vom 16. Juni 1971 bilden.

Da die LTU die Berechtigung der Gebührenrechnung bestritt, klagte Eurocontrol einen Teilbetrag beim Handelsgericht in Brüssel ein. Dieses verurteilte LTU zur Zahlung der Gebühren. Dabei ließ es insbesondere den Einwand nicht gelten, die Gebührenforderung stelle eine öffentlichrechtliche Angelegenheit dar. Es erklärte vielmehr ausdrücklich, die Gebühren seien nicht als Steuern anzusehen; als entscheidend müsse gelten, daß die Zahlung der Gebühren auf eine als gewerblich zu bezeichnenden Tätigkeit der LTU zurückgehe.

Aus diesem Urteil, das für vorläufig vollstreckbar erklärt wurde — inzwischen ist es rechtskräftig geworden, weil sowohl die Berufung vom Appellationsgerichtshof in Brüssel als auch die Kassationsbeschwerde vom Belgischen Kassationsgerichtshof zurückgewiesen worden sind —, will Eurocontrol die Zwangsvollstrekkung in der Bundesrepublik Deutschland betreiben. Sie beantragte zu diesem Zweck gemäß Artikel 31 des Zuständigkeitsübereinkommens beim Landgericht Düsseldorf die Zulassung der Zwangsvollstreckung und die Anordnung der Erteilung der Vollstreckungsklausel. Zum Nachweis der Zustellung des Urteils, der gemäß Artikel 47 des Zuständigkeitsübereinkommens geführt werden muß, legte Eurocontrol ein Zustellungszeugnis vor, das vom Rechtspfleger des Amtsgerichts Düsseldorf ausgestellt worden war. Durch Beschluß des Landgerichts vom 13. August 1974 wurde daraufhin die Zwangsvollstreckung zugelassen und die Erteilung der Vollstreckungsklausel angeordnet.

Dieser Beschluß wurde jedoch auf die Beschwerde von LTU durch Beschluß des 19. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 24. März 1975 aufgehoben und der Antrag auf Zulassung der Zwangsvollstreckung zurückgewiesen. Entscheidend war dabei für das Oberlandesgericht, daß es eine wirksame Zustellung des Urteils des Handelsgerichts Brüssel nicht feststellen zu können glaubte. Inzwischen war nämlich durch Beschluß eines anderen Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf das Zustellungszeugnis des Rechtspflegers des Amtsgerichts Düsseldorf mit der Begründung aufgehoben worden, sein Inhalt — tatsächlich ist die Rede von der Zustellung einer Klageschrift — sei unrichtig.

Auf die Rechtsbeschwerde der Eurocontrol verwarf der Bundesgerichtshof die Auffassung des Oberlandesgerichts Düsseldorf zum Zustellungsnachweis und hob hervor, die Wirksamkeit der Zustellung, die sich belegen lasse, werde nicht durch Aufhebung des Zustellungszeugnisses beseitigt. Darüber hinaus stellte der Bundesgerichtshof fest, der negative Beschluß des Oberlandesgerichts Düsseldorf könne auch nicht aus anderen Gründen aufrechterhalten werden. Das belgische Gericht, dessen Zuständigkeit sich LTU unterworfen habe, habe nämlich die streitige Angelegenheit als Handelssache angesehen. Daran sei, weil die Frage, ob ein Urteil als in einer Zivil- oder Handelssache ergangen anzusehen sei, nach dem Recht des Urteilsstaats beantwortet werden müsse, das Gericht des Vollstrekkungsstaats gebunden. Da indessen noch Feststellungen zur Rechtskraft des belgischen Urteils notwendig waren — die Rechtskraft stand damals noch nicht fest und konnte vom Bundesgerichtshof selbst als Tatfrage auch nicht ermittelt werden — wurde die Sache an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen.

Das Oberlandesgericht Düsseldorf glaubte bei der weiteren Behandlung der Sache sich nicht auf die Prüfung der nach Ansicht des Bundesgerichtshofs allein noch offenen Frage beschränken zu können, sondern darüber hinaus noch — offenbar, weil es den diesbezüglichen Standpunkt des Bundesgerichtshofs nicht teilt — der Frage nachgehen zu sollen, wie der in dem Zuständigkeitsübereinkommen verwendete Begriff „Zivil- und Handelssachen“ richtigerweise zu verstehen ist. Deshalb setzte es durch Beschluß vom 16. Febraur 1976 das Verfahren aus und legte die eingangs zitierte Frage dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vor.

Interessant ist vielleicht auch noch, daß LTU seinerseits wegen der Eurocontrol-Gebührenbescheide die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit angerufen hat. Das Verwaltungsgericht wies jedoch die Klage als unzulässig zurück, weil eine deutsche Gerichtsbarkeit nicht gegeben sei. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen stellte auf die gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts eingelegte Berufung mit Urteil 7. Juli 1975 fest, daß die Anfechtungsklage unzulässig sei, weil die Eurocontrol-Gebührenrechnungen keine nach deutschem Recht anfechtbaren Verwaltungsakte darstellten. Über einen hilfsweise erhobenen Antrag auf Feststellung, daß die Gebühren nicht geschuldet werden, ist anscheinend noch nicht entschieden, ebenso wie die Entscheidung über die beim Bundesverwaltungsgericht gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts eingelegte Revision noch aussteht.

1. 

Lassen Sie mich meine Stellungnahme zu diesem Fall mit zwei Vorbemerkungen beginnen.

a)

Die eine bezieht sich auf den zeitlichen Anwendungsbereich des Zuständigkeitsübereinkommens und kann ziemlich kurz sein.

Kennzeichnend für den Fall ist, daß die Klage in Brüssel vor dem Inkrafttreten des Übereinkommens erhoben wurde und daß die gerichtliche Entscheidung danach erging. Gemäß Artikel 54 Absatz 2 des Übereinkommens ist dies unerheblich, wenn „das Gericht aufgrund von Vorschriften zuständig war, die mit den Zuständigkeitsvorschriften des Titels II oder eines Abkommens übereinstimmen, das im Zeitpunkt der Klageerhebung zwischen dem Urteilsstaat und dem Staate, in dem die Entscheidung geltend gemacht wird, in Kraft war“. Daß diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind, hat die Kommission meines Erachtens überzeugend gezeigt. Tatsächlich kann, was die örtliche Zuständigkeit des Brüsseler Gerichts angeht, nicht nur auf das deutsch-belgische Abkommen vom 30. Juni 1958 hingewiesen werden, sondern auch auf die in dem bereits erwähnten Eurocontrol-Beschluß vom 16. Juni 1971 und in der Verordnung des Bundesministers für Verkehr vom 27. Oktober 1971 enthaltenen Bestimmungen, nach denen die Flugsicherungsgebühren in Brüssel zahlbar sind.

b)

Die zweite Vorbemerkung gilt einem die Zulässigkeit der Vorlage betreffenden Einwand, den Eurocontrol vorgebracht hat.

Eurocontrol macht geltend, das vorlegende Gericht habe im Beschwerdeverfahren bereits entschieden, und die Sache sei daraufhin vor den Bundesgerichtshof gekommen. Dieser habe die Sache nur deshalb an das Oberlandesgericht zurückverwiesen, weil er noch Feststellungen zur Rechtskraft des zu vollstreckenden Urteils für notwendig gehalten habe. Für eine derartige Tatsachenfeststellung aber sei eine Vorlage zur Auslegung des Zuständigkeitsübereinkommens nicht erforderlich. Von Bedeutung sei zudem, daß der Bundesgerichtshof, ohne eine Vorlage für erforderlich zu halten, zu dem hier interessierenden Problem bereits Stellung genommen habe. Daran sei das Oberlandesgericht nach nationalem Recht gebunden.

Dieser Einwand ist offensichtlich unbegründet.

Das läßt sich einmal sagen, obgleich sicher ist, daß der Gerichtshof im Rahmen des Auslegungsprotokolls auch gelegentlich auf das nationale Recht einzugehen hat, und zwar insoweit, als sich' die Frage stellt, ob ein Rechtsmittelgericht ihn zulässig befaßt hat. Etwas völlig anderes ist es jedoch, das nationale Recht unter dem Gesichtspunkt der Entscheidungserheblichkeit zu prüfen, d. h. der Frage nachzugehen, wieweit die Befugnisse eines Beschwerdegerichtes nach Zurückverweisung der Sache durch ein übergeordnetes Gericht reichen, ob also tatsächlich die erbetene Auslegung für die danach noch zu treffende Entscheidung erforderlich ist. In dieser Weise ist der Gerichtshof auf nationales Recht nie eingegangen, und dafür gibt es gute Gründe.

Zum anderen existiert in bezug auf das Vorlagerecht von nichtletztinstanzlichen Gerichten, die nach einer Zurückverweisung zu entscheiden haben, schon eine eindeutige Judikatur. So hat der Gerichtshof in der Rechtssache 166/73 (EuGH 16. Januar 1974 — Rheinmühlen-Düsseldorf/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel — Slg 1974, 37 ff.) befunden und in der Rechtssache 146/73 (EuGH 12. Februar 1974 — Rheinmühlen-Düsseldorf/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel — Slg. 1974, 147 ff.) bestätigt, daß dem nationalen Gericht ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof zusteht. Er hat ausdrücklich unterstrichen, ein nichtletztinstanzliches Gericht müsse, „wenn es der Auffassung ist, daß es aufgrund der rechtlichen Beurteilung des übergeordneten Gerichts zu einer das Gemeinschaftsrecht verletzenden Entscheidung gelangen könnte, frei entscheiden können, ob es dem Gerichtshof die Fragen vorlegt, die ihm zweifelhaft sind“. Zwar sind diese Feststellungen in Verfahren nach Artikel 177 des EWG-Vertrags getroffen worden. Ich habe aber keinen Zweifel daran, daß sie wegen der Ähnlichkeit des Vorlageverfahrens nach dem Auslegungsprotokoll auch für dieses Geltung haben müssen. Namentlich kann insoweit der Umstand keine Bedeutung haben, daß im Zusammenhang mit der Vorlagepflicht höchster Gerichte im Auslegungsprotokoll, und zwar nur dort, die Wendung „hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlaß seines Urteils für erforderlich“ auftaucht, ist doch längst klar, daß Entsprechendes auch ohne ausdrückliche Erwähnung für Artikel 177 Absatz 3 gilt.

2. 

Die vom Oberlandesgericht Düsseldorf gestellte Frage, der ich mich nunmehr zuwende, betrifft — wie schon gesagt — den Anwendungsberich des Zuständigkeitsübereinkommens. Insoweit ergeben sich Probleme, weil er — sieht man von den durch Artikel 1 Absatz 2 ausdrücklich ausgeschlossenen Gebieten ab — einfach unter Verwendung des Begriffes „Zivil- und Handelssachen“ umschrieben wird, ohne daß angegeben ist, wie dieser Begriff auszulegen ist.

So ist es nicht erstaunlich, daß das bezeichnete Problem schon bald nach der Ausarbeitung des Übereinkommens zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht wurde und daß es auch schon in der nationalen Rechtsprechung eine Rolle gespielt hat. Dabei wurde eine ganze Reihe von Lösungsvorschlägen erarbeitet — namentlich die Kommission hat sie im einzelnen dargestellt —, Vorschläge übrigens, die sich keineswegs in der in der Fragestellung aufgezeigten Alternative erschöpfen.

Nach der Ansicht einiger — ich will das jetzt nur kurz andeuten — soll das Recht des Vollstreckungsstaats maßgebend sein, eine These, auf die sich im wesentlichen auch LTU beruft.

Andere stellen dagegen auf das Recht des Urteilsstaats ab. Zum Teil geschieht dies vorbehaltlos, zum Teil wird für wichtig gehalten, ob eine ausdrückliche Qualifizierung in dem zu vollstreckenden Urteil erfolgt ist. Fehlt es daran, so wird auch eine Qualifizierung nach dem Recht des Vollstreckungsstaats für zulässig gehalten.

Anzutreffen sind ferner Ansichten, nach denen bei grundsätzlicher Anerkennung der Qualifizierung durch den Urteilsstaat andersartige Vorbehalte gemacht werden. So findet sich die Meinung, bei Verfahren, die vor Inkrafttreten des Übereinkommens eingeleitet worden seien, könne eine Bindung des Vollstreckungsgerichtes an die Qualifizierung des Urteilsstaates nicht angenommen werden, weil der Erstrichter bei Erlaß des Urteils an das Abkommen noch nicht gebunden gewesen sei. Andere verneinen eine Bindung an die Qualifizierung des Urteilsstaates, wenn es sich um eindeutig öffentlich-rechtliche Angelegenheiten handelt; mindestens wird erwogen, in solchen Fällen eine Berufung auf den „ordre public“ des Artikels 27 des Übereinkommens zuzulassen.

Völlig andersartig ist die Meinung derer, die dafür eintreten, den Begriff „Zivil- und Handelssachen“ nicht unter Rückgriff auf das nationale Recht zu definieren, vielmehr anzunehmen, daß es sich um einen eigenständigen, gleichsam gemeinschaftsrechtlichen Begriff handele. Dafür haben sich namentlich die italienische Regierung und die Regierung der Bundesrepublik Deuschland ausgesprochen. Dabei gelangt die italienische Regierung unter Berufung auf bilaterale Abkommen und Vorschriften des EWG-Vertrags (Art. 84) zu dem Ergebnis, in den Anwendungsbereich des Abkommens falle nicht die Luft- und die Seefahrt. Die Bundesregierung hat ihren Standpunkt hilfsweise dahin modifiziert, für den Zweitrichter könne die entscheidende Frage eventuell lauten, ob der Erstrichter den fraglichen Begriff vertretbar definiert habe, und nur bei schwerwiegenden Zweifeln in dieser Hinsicht sei eine Anrufung des Gerichtshofs zur Klärung der Abgrenzungsfrage zu erwägen.

Bei der Auseinandersetzung mit diesem Problem und bei der Prüfung der Argumente, die für die verschiedenen Lösungen vorgebracht werden, fand ich zunächst die These außerordentlich bestechend, es müsse von einem gemeinschaftsrechtlichen Inhalt des Begriffes „Zivil- und Handelssachen“ ausgegangen werden. Sie hat unzweifelhaft den großen Vorzug — die Kommission spricht geradezu von einer Ideallösung —, eine einheitliche Anwendung des Übereinkommens zu gewährleisten und die Mitgliedstaaten gleichwertig zu verpflichten. Namentlich würde so die Gefahr vermieden, daß der Begriff, der im Übereinkommen sowohl für den Zuständigkeitsteil wie für den Vollstreckungsteil von Bedeutung ist, unterschiedlich ausgelegt wird. Dabei wäre übrigens in Ermangelung einer genauen Definition ebenso vorzugehen wie immer, wenn sich im Gemeinschaftsrecht Lücken zeigen; es müßten die gemeinsamen Grundvorstellungen der Mitgliedstaaten ermittelt werden, eventuell unter Berücksichtigung früher geltender zwei- oder mehrseitiger Abkommen der Mitgliedstaaten. Jedenfalls wäre es sicher nicht angängig zu verfahren, wie es der Vertreter von LTU — wir werden auf diese grundsätzliche Einstellung zurückkommen — für richtig hält, nämlich als Zivil- und Handelssachen nur anzuerkennen, was nach der Auffassung des Mitgliedstaats, der die weitestgehende Umgrenzung des öffentlich-rechtlichen Bereiches kennt, diese Qualifizierung verdient; denn dies würde die maßgebliche Orientierung an der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats, nicht aber die Zugrundelegung gemeinsamer Auffassungen bedeuten. Sicherlich kann man auch der Ansicht der italienischen Regierung nicht folgen, Angelegenheiten der See- und Luftfahrt würden vom Abkommen nicht erfaßt. Aus Artikel 84 des EWG-Vertrags — seine Funktionen im Vertragsbereich sind ganz andere — ist dies nicht zu entnehmen, und auch ein Vergleich mit anderen Abkommen ist nicht zwingend, eben weil nach dem Zuständigkeitsübereinkommen unter den ausdrücklich ausgeschlossenen Bereichen See- und Luftfahrt nicht genannt sind. Andererseits ist von Interesse, daß in dem bisher ausgearbeiteten Entwurf eines Abkommens für den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten See- und Luftfahrt ebenfalls keineswegs ausgeklammert werden, für sie vielmehr in der Erkenntnis, daß es auch dort einen zivilrechtlichen Bereich gibt, davon ausgegangen wird, daß sich die Abgrenzung des erfaßten Bereichs nach den allgemeingültigen Kriterien vollzieht.

Maßgebend hätte also zu sein, ob das für öffentlich-rechtliche Beziehungen vor allem kennzeichnende Verhältnis der Über- und Unterordnung bei der Geltendmachung der Gebübrenforderung von Eurocontrol — die eindeutig polizeirechtlichen Aufgaben der Flugsicherung interessieren hier nicht — besteht. Daß man bei dieser Sicht der Dinge tatsächlich das Zuständigkeitsübereinkommen auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens für anwendbar halten kann, ergibt sich meines Erachtens aus zwei Überlegungen. Zum einen muß das Abkommen nach dem Willen seiner Autoren, das macht der mit dem Abkommensentwurf den Regierungen übermittelte Bericht klar, weit ausgelegt werden. Zum anderen ist von Bedeutung, daß die Eurocontrol-Gebühren nach den Texten, die ich eingangs erwähnt habe, als Vergütungen für geleistete Dienste angesehen werden und daß für ihre Einforderung eine Zuständigkeit belgischer Zivilgerichte vorgesehen wurde.

Indessen lassen sich gegen die Ansicht, der Begriff „Zivil- und Handelssachen“ habe einen gemeinschaftsrechtlichen Inhalt, erhebliche Bedenken ins Feld führen, wenn man dies auch bedauerlich finden mag.

Angesichts divergierender Abgrenzungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten ist ohne weiteres einzuräumen, daß die Definition eines gemeinschaftsrechtlichen Begriffes der Zivil- und Handelssachen alles andere als einfach wäre; dies träfe in noch stärkerem Maße nach dem Beitritt Großbritanniens zu dem Übereinkommen zu, da im englischen Rechtskreis die Unterscheidung zwischen Zivilrecht und öffentlichem Recht weit weniger ausgeprägt ist als auf dem Kontinent. Deshalb haben ja auch die mit der Ausarbeitung des Übereinkommens befaßten Experten den Versuch einer Definition nicht gewagt, und deshalb finden sich in dem Entwurf eines Beitrittsabkommens unter Hinweis auf Steuer-, Zoll- und Verwaltungsangelegenheiten nur gewisse negative Abgrenzungsversuche. Die Herausarbeitung eines gemeinschaftsrechtlichen Begriffs wäre also, das zeigen Erfahrungen der Gerichte in Mitgliedstaaten, die eine solche Unterscheidung kennen, zweifellos zeitraubend und daher mit einer längeren Periode der Unsicherheit verbunden. Es wäre damit zu rechnen, daß sehr häufig — immer dann, wenn ein öffentlich-rechtlicher Einschlag erkennbar wird — Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet würden, und dies selbst bei Anerkennung der Hilfsthese der Bundesregierung, d. h. wenn man auf das Vorliegen schwerwiegender Zweifel abstellen würde. Das Vollstrekkungsverfahren würde dadurch aufgehalten und könnte nicht so zügig durchgeführt werden, wie es den Autoren des Übereinkommens sicher vorgeschwebt hat. Grundanliegen und Hauptziele des Übereinkommens sprechen demnach gegen eine Auslegung, die mit so schwerwiegenden Nachteilen wie anhaltender Unsicherheit und Verfahrensverzögerung verbunden wäre. Ich erinnere insofern nur daran, daß in der Präambel des Übereinkommens die Notwendigkeit einer Verfahrensbeschleunigung hervorgehoben wird. Ferner verweise ich auf die dem Abkommen beigefügte gemeinsame Erklärung, in der von einer möglichst wirksamen Anwendung des Übereinkommens die Rede ist. Schließlich beziehe ich mich auf den bereits erwähnten Bericht zu dem Übereinkommen, der von einer möglichst weitgehenden Förderung der Freizügigkeit der in den Mitgliedstaaten erlassenen Urteile spricht.

Muß man aber nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen — daß das Übereinkommen so pragmatisch wie möglich anzuwenden ist, unterstreicht der erwähnte Bericht ausdrücklich — die These von einem eigenständigen, gemeinschaftsrechtlichen Begriff „Zivil- und Handelssachen“ fallenlassen, so bleibt tatsächlich nur die Möglichkeit, an das nationale Recht anzuknüpfen. Maßgebend kann also grundsätzlich nur die Qualifizierung durch den Erstrichter oder die Qualifizierung durch den Vollstreckungsrichter sein, d. h. es muß im Prinzip zwischen den Möglichkeiten gewählt werden, die der Vorlagebeschluß nennt, obgleich dies selbstverständlich — anders als ein Verfahrensbeteiligter gemeint hat — nicht bedeutet, daß der Gerichtshof bei der Behandlung des Vorabentscheidungsersuchens grundsätzlich an die vom vorlegenden Gericht erwähnten Deutungsmöglichkeiten gebunden ist.

Was die angeführten beiden Lösungsmöglichkeiten anbelangt, so ergibt sich allerdings recht schnell die weitere Erkenntnis, daß auch die Argumente, die zugunsten einer grundsätzlichen Qualifizierung nach dem Recht des Vollstreckungsstaats angeführt worden sind, schwerlich überzeugen.

In diesem Zusammenhang wurde seitens LTU geltend gemacht, völkerrechtliche Verträge seien im Zweifel eng und so auszulegen, daß sie zu einer möglichst geringen Berührung der Hoheitsgewalt der Vertragsstaaten führten. In bezug auf das Zuständigkeitsübereinkommen könne nicht angenommen werden, daß sich der Vollstreckungsstaat ohne ausdrückliche Anordnung im Abkommen gleichsam fremdem Recht unterwerfe und daß er namentlich auch zur Vollstreckung in Angelegenheiten bereit sei, die er als öffentlich-rechtlich ansehe und für die grundsätzlich eine Vollstreckung im Ausland unzulässig sei. Diese Argumentation halte ich für im Ansatzpunkt verfehlt. Sie übersieht, daß das Abkommen eine wichtige Funktion im Rahmen der Wirtschaftsgemeinschaft hat: Es soll sicherstellen, daß die Erleichterung des zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehrs durch eine Erleichterung des Rechtsverkehrs, durch eine Vereinfachung der Rechtsverfolgung begleitet und ergänzt wird. Aus diesem Grunde, aber auch weil die Rechtslage in den Mitgliedstaaten wohl nicht kreiß divergiert, sondern namentlich ungefähr gleichwertige Rechts- und Verfahrensgarantien vorhanden sind, ist es sicher nicht angezeigt, für das Übereinkommen Auslegungsgrundsätze gelten zu lassen, wie sie sonst bei klassischen völkerrechtlichen Abkommen ihre Berechtigung haben mögen.

Dagegen gibt es umgekehrt gute Gründe, die dafür sprechen, grundsätzlich die Qualifizierung des Urteilsstaats für maßgebend zu erklären.

So ist dem bereits erwähnten Bericht zu entnehmen, es sei ein Grundanliegen des Abkommens, die Stellung der Gerichte des Urteilsstaats zu stärken. Dies äußert sich einmal — worauf ebenfalls der Bericht hinweist — in sehr großzügigen Anerkennungsregeln, die zu einer möglichst umfassenden Anerkennung führen. Tatsächlich sind die Gründe für eine Versagung der Anerkennung in den Artikeln 27 und 28 abschließend aufgeführt, und es wird deswegen in der Literatur geradezu von einer Vermutung der Anerkennung gesprochen. Zum anderen äußert sich dies im Bereich der Vollstrekkung darin, daß nach Artikel 34 die Vollstreckung nur aus den Gründen der Artikel 27 und 28 abgelehnt werden kann. Auch erfolgt grundsätzlich keine Überprüfung der Zuständigkeit, die Vorschriften über die Zuständigkeit nach Artikel 28 Absatz 3 gehören nicht zur öffentlichen Ordnung. Nicht zuletzt darf auch die Gesetzmäßigkeit der getroffenen Entscheidungen nicht überprüft werden.

Dieser Grundorientierung, nach der es grundsätzlich auf die Beurteilung im Urteilsstaat ankommt, entspricht zweifellos am besten die These von der grundsätzlichen Maßgeblichkeit der Qualifizierung durch den Urteilsstaat, soweit es um den Begriff „Zivil- und Handelssachen“ geht. Auch dem erkennbaren Ziel des Abkommens, für eine möglichst weitgehende Freizügigkeit von Urteilen zu sorgen, sowie dem Grundsatz, eine möglichst umfassende und wirksame Anwendung sicherzustellen, wird man so am ehesten gerecht. Entsprechende Kontrollen durch den Vollstreckungsstaat dagegen würden unter Umständen diese Zielsetzung gefährden und zu einer divergierenden Vollstreckungspraxis führen.

Deshalb kann nach meiner Überzeugung auf die gestellte Frage nur in dem Sinn geantwortet werden, der sich aus den soeben dargelegten Erkenntnissen ergibt.

Im übrigen habe ich auch den Eindruck, daß die Hervorhebung dieser Grundeinsicht für die Zwecke der Beurteilung des Ausgangsverfahrens durchaus genügt. Im Gegensatz zu der von LTU vertretenen Meinung besteht nämlich einmal kein Anlaß, daran zu zweifeln, daß die belgischen Gerichte die Streitsache ausdrücklich als zivilrechtlich qualifiziert haben. Insoweit ist der Umstand ausreichend, daß Rechtsschutz mit der Begründung erbeten wurde, es handele sich um eine Zivilsache, und daß sich das Handelsgericht mit einer diesbezüglichen Einwendung von LTU auseinandergesetzt hat. Darüber hinaus hat sich das Berufungsgericht in seinem die Berufung zurückweisenden Urteil ausdrücklich in bezug auf die Zustellungsfrage auf das Haager Zivilprozeßübereinkommen vom 1. März 1954 gestützt. Zum anderen kann auch daran erinnert werden, was zur Qualifizierung der Eurocontrol-Gebührenforde rung vorhin im Lichte gemeinsamer Rechtsprinzipien ausgeführt wurde und was übrigens zu belegen scheint, daß die Gefahr einer unzutreffenden Einordnung derartiger Sachverhalte durch den Urteilsstaat verhältnismäßig gering ist.

So gesehen besteht also kein Anlaß, auf weitere Aspekte des behandelten Problemkreises, die im Verfahren zum Teil sichtbar geworden sind, noch einzugehen. Namentlich braucht jetzt nicht geprüft zu werden, wie zu verfahren ist, wenn im Urteilsstaat eine ausdrückliche Qualifizierung unterbleibt, ob dann eine Beurteilung durch den Vollstreckungsstaat erfolgt und ob für ihn seine eigenen Rechtsprinzipien maßgebend sind oder ob, was zweifellos zeitraubend und schwierig wäre, auf die Rechtsordnung des Urteilsstaates zurückgegriffen werden müßte.

Desgleichen gibt das vorliegende Verfahren keinen Anlaß, der Frage nachzugehen, ob nicht unter Umständen die Qualifizierung durch den Vollstreckungsrichter, gegebenenfalls unter Heranziehung des „ordre public“-Vorbehaltes des Artikels 27 des Übereinkommens, in etwaigen Extremfällen überprüft werden müßte, nämlich dann, wenn z. B. für eindeutig Steuer- oder strafrechtliche Entscheidungen eine Vollstreckung angestrebt wird. Nach meiner Meinung sollte insoweit die weitere Entwicklung abgewartet werden. Bei gegebener Gelegenheit können dann die notwendigen Untersuchungen zu diesen zweifellos delikaten Fragen durchgeführt werden.

3. 

Nach alledem schlage ich vor, auf die vom Oberlandesgericht Düsseldorf gestellte Frage wie folgt zu antworten:

Artikel 1 Absatz 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, daß die Gerichte des Vollstreckungsstaats zumindest in den Fällen an die materiell-rechtliche Beurteilung der Gerichte des Urteilsstaats gebunden sind, in denen diese den in Frage stehenden Rechtsstreit ausdrücklich als Zivil- oder Handelssache qualifiziert haben.