SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS ALBERTO TRABUCCHI
VOM 10. MÄRZ 1976 ( 1 )
Herr Präsident,
meine Herren Richter!
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Nach den feierlichen Erklärungen, welche die Staats- bzw. Regierungschefs im Jahre 1972 in Paris zur Bedeutung der sozialen Aspekte der europäischen Integration abgaben, veranlaßt nun eine Privatperson, eine Arbeitnehmerin, ihre innerstaatlichen Richter zur Vorlage einer Vorabentscheidungsfrage über die Auslegung jener Norm des EWG-Vertrags, die den Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau in den Arbeitsbeziehungen festlegt. Eine Frage von an sich bescheidener finanzieller Tragweite gibt dem Gerichtshof Gelegenheit, einige Aspekte des Schutzes aufzuhellen, der den Grundrechten auch im Rahmen des Gemeinschaftssystems zukommt. Dies ist die zweite Vorabentscheidungssache, die den Namen von Fräulein G. Defrenne, einer früheren Bordstewardeß der belgischen Luftverkehrsgesellschaft Sabena, trägt. Am 10. Dezember 1951 als Bordstewardeß angestellt, wurde ihr am 1. Oktober 1963 aufgrund eines neuen Arbeitsvertrags die Dienststellung einer Purserette und Chefstewardeß eingeräumt. Zuvor war am 15. März 1963 zwischen der Sabena und den Arbeitnehmerorganisationen ein Tarifvertrag geschlossen worden, der nicht durch Arrêté royal für allgemeinverbindlich erklärt werden konnte, und dies auch nie gewesen ist. In den individuellen Arbeitsvertrag von Fräulein Defrenne war eine dem Tarifvertrag entsprechende Klausel aufgenommen worden, wonach das Arbeitsverhältnis des fliegenden weiblichen Personals in jedem Falle mit dem Tag ohne Kündigung endet, an dem die Bedienstete das vierzigste Lebensjahr vollendet. Diese Klausel wurde auf Fräulein Defrenne am 15. Februar 1968 angewandt. Ihr wurde auch die vorgesehene Abfindung in Höhe eines Jahresgehalts gezahlt. Fräulein Defrenne ging nun in zwei Richtungen vor: Am 9. Februar 1970 erhob sie beim belgischen Conseil d'État eine Klage auf Nichtigerklärung des Arrêté royal vom 3. November 1969, der für das Bordpersonal der Zivilluftfahrt Sondervorschriften über den Erwerb des Rentenanspruchs und besondere Durchführungsvorschriften zum Arrêté royal Nr. 50 vom 24. Oktober 1967 über die Alters- und Hinterbliebenenrente der Arbeitnehmer enthielt. Auf eine ihm von diesem belgischen Gericht vorgelegte Frage entschied der Gerichtshof mit Urteil vom 25. Mai 1971 (Rechtssache 80/70), daß eine im Rahmen eines gesetzlichen Sozialversicherungssystems gewährte Altersrente im Sinne von Artikel 119 Absatz 2 EWG-Vertrag keine Vergütung ist, die der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhältnisses dem Arbeitnehmer mittelbar zahlt (Slg. 1971, 445). Parallel dazu hatte Fräulein Defrenne bereits am 13. März 1968 die Sabena vor dem Tribunal du travail Brüssel verklagt und Ersatz der Schäden verlangt, die ihr angeblich entstanden waren, weil
Mit Urteil vom 17. Dezember 1970 wies das Tribunal du travail Brüssel, ohne auf Artikel 177 EWG-Vertrag zurückzugreifen, alle drei Klageansprüche ab. Am 11. Januar 1971 hat die Klägerin gegen dieses Urteil bei der Cour du travail Brüssel Berufung eingelegt. Am 23. April 1975 schließlich hat dieses Gericht entschieden, daß nur der erste Klageanspruch eine Auslegung des Artikels 119 des Vertrages erforderlich mache, und hat Ihnen deshalb die Fragen vorgelegt, die ich sogleich abhandeln werde. Trotz der gegenteiligen Stellungnahme des Auditeur général hat die Cour du travail die Schadensersatzanträge hinsichtlich der Rente und der Abfindung unter Hinweis auf die unterschiedliche frühere Besoldung und auf das im Vergleich zu den männlichen Kollegen andere Rentenalter abgewiesen. Die Besoldungsrückstände werden wegen der in Artikel 2277 des belgischen Code civil vorgesehenen fünfjährigen Verjährungsfrist nur ab 15. Februar 1963 eingeklagt. Daß der Klageanspruch sich nur auf die Zeit bis zum 1. Februar 1966 erstreckt, erklärt sich dadurch, daß von diesem Zeitpunkt an die Sabena die für Bordstewardessen und Purser geltende Grundtabelle von sich aus vereinheitlicht hat. |
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Rufen wir uns noch einmal den Wortlaut der vorgelegten Fragen in Erinnerung:
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Artikel 119 stellt keine absolute Neuerung dar: Ich werde ihn im Lichte der auf internationaler Ebene anerkannten Grundsätze sowie aus der Sicht des EWG-Vertrags behandeln. Auf internationaler Ebene ist Artikel 119 die Fortsetzung, die „europäische Übersetzung“, des Übereinkommens Nr. 100 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 29. Juni 1951 über die Gleichheit des Entgelts für männliche und weibliche Arbeitnehmer bei gleicher Arbeit. Dieses Übereinkommen ist inzwischen von allen Mitgliedstaaten der EWG ratifiziert worden, wenngleich einige von ihnen diese Ratifizierung erst nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Rom vorgenommen haben (die Niederlande im Jahre 1971 und Irland im Jahre 1974). Andererseits hatte Belgien dieses Übereinkommen bereits am 23. Mai 1952 ratifiziert. Es ist ein Jahr später, am 23. Mai 1953, in Kraft getreten; es gilt also in allen Mitgliedstaaten, wenn auch nicht überall vom selben Zeitpunkt an. Ob es „self-executing“ ist oder nicht, ist unerheblich für die Frage, welche Tragweite im Gemeinschaftsrecht der im wesentlichen entsprechenden Vorschrift des Artikels 119 EWG-Vertrag zukommt. Im Vertrag won Rom findet sich Artikel 119 in Kapitel 1 (Sozialvorschriften) des Titels III (Die Sozialpolitik) des Dritten Teils (Die Politik der Gemeinschaft). Er setzt sich ein Ziel, das dem entspricht, was bereits in der Präambel des Vertrages angedeutet und dann in Artikel 117 näher präzisiert wird: Dort wird „die Notwendigkeit“ anerkannt, „auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte hinzuwirken und dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen.“ Diese Angleichung läßt sich natürlich nur erreichen, wenn die Lebens- und Arbeitsbedingungen, insbesondere auch hinsichtlich des Entgelts, nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten, also auch zwischen Männern und Frauen angeglichen werden. Wie Generalanwalt Dutheillet de Lamothe ausführte, hat Artikel 119 eine doppelte Zielsetzung: „Er verfolgt gewiß ein soziales Ziel, da er alle Länder der Gemeinschaft veranlaßt, sich den wesentlichen sozialen Grundsatz zu eigen zu machen, den das Übereinkommen der IAO aufstellt. Aber er hat auch ein wirtschaftliches Ziel, denn indem er jeden Versuch eines .sozialen dumpings' durch den Einsatz im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen unterbezahlter weiblicher Arbeitskräfte unterbindet, dient er einem der grundlegenden Ziele des Gemeinsamen Marktes, der Errichtung eines Systems, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt'“ (Slg. 1971, 456). Die Bestätigung für diese Auffassung finden wir sowohl in den Materialien als auch in der von den Mitgliedstaaten später eingenommenen Haltung. Sehr viel eindeutiger als die Verfasser des EGKS-Vertrags, die der Gemeinschaft die Aufgabe zuwiesen, „in fortschreitender Entwicklung die Voraussetzungen zu schaffen, die von sich aus die rationellste Verteilung der Erzeugung auf dem höchsten Leistungsstande sichern“ (Artikel 2), waren die Verfasser des Vertrages von Rom (vor etwa 20 Jahren) der Auffassung, daß die „spontane“ Harmonisierung der Löhne und Gehälter, die das Ergebnis der Aktivität der Gewerkschaften und der fortschreitenden Errichtung des Gemeinsamen Marktes ist, durch besondere Maßnahmen der Regierung ergänzt werden müssen. |
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Damit kommen wir nun zum Wortlaut des Artikels 119. Absatz 1 bestimmt: „Jeder Mitgliedstaat wird während der ersten Stufe dem Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anwenden und in der Folge beibehalten.“ Der genannte Grundsatz war also innerhalb der ersten Stufe, das heißt bis zum 1. Januar 1962, durchzuführen. Der Vertrag bildet ein einheitliches Ganzes: Es geht nicht an, den Akzent auf einige seiner Bestimmungen zu legen und dafür andere zu vernachlässigen, ohne daß das Gleichgewicht des Ganzen gefährdet würde. Um also jede Verzögerung auf dem sozialen Sektor angesichts des Übergangs zur zweiten Stufe zu vermeiden, richtete die Kommission an die Mitgliedstaaten und über diese an alle für die Festsetzung von Löhnen und Gehältern zuständigen Stellen eine Empfehlung mit Datum vom 20. Juli 1960, in der sie auf die Notwendigkeit hinwies, die Verpflichtung des Artikels 119 zu erfüllen, und die zu diesem Zweck geeignete Mittel und Wege anführte. Da aber die Mitgliedstaaten dann zu der Auffassung gelangten, sie seien nicht in der Lage, die vorgesehene Zeitfolge einzuhalten, faßte die Konferenz der Mitgliedstaaten am 30. Dezember 1961 eine Entschließung zu Artikel 119, worin für die Verringerung der Unterschiede in der Bezahlung ein neuer Zeitplan festgelegt und als Zeitpunkt, bis zu dem jede Diskriminierung beseitigt sein mußte, der 31. Dezember 1964 bestimmt wurde. Ich muß noch darauf hinweisen, daß sowohl in der Empfehlung als auch in der Entschließung der Akzent darauf gelegt wurde, daß die Mitgliedstaaten in ihrer internen Rechtsordnung Vorschriften erlassen müssen, auf die sich die Frauen im Falle der Verletzung des Artikels berufen können. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, daß Artikel 119 nach Auffassung der Kommission und der Mitgliedstaaten nicht „self-executing“ ist. Damit kommen wir zum Kern des Problems und haben nun zu prüfen, ob Artikel 119 eine Norm ist, die unmittelbar anwendbar ist. Nach den von der Rechtsprechung des Gerichtshofes ausgearbeiteten Kriterien erzeugt eine Norm des Gemeinschaftsrechts unmittelbare Wirkungen in dem Sinne, daß sie Einzelpersonen das Recht verleiht, sich vor Gericht auf sie zu berufen, wenn sie klar und inhaltlich hinreichend bestimmt ist, keinen Vorbehalt enthält und für sich allein betrachtet vollständig ist, also der nationale Richter für ihre Anwendung keiner weiteren Durchführungsbestimmungen des innerstaatlichen oder des Gemeinschaftsrechts bedarf. Es ist zu prüfen, ob Artikel 119 nach seiner Rechtsnatur und seinem Inhalt sowie nach dem Gesamtzusammenhang und dem Geist des Vertrages diesen Voraussetzungen genügt. Die Vorschrift legt allen Mitgliedstaaten die unbedingte Verpflichtung auf, während der ersten Stufe den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen ei gleicher Arbeit anzuwenden und in der Folge beizubehalten. Obgleich die benutzte Formel „Grundsatz des gleichen Entgelts“ zu allgemein und schon der Begriff „Grundsatz“ in seiner Tragweite wenig konkret erscheinen könnte, ist der Zweck der Vorschrift doch eindeutig: Sie will in der Frage des Arbeitsentgelts jede Diskriminierung zum Nachteil der Frau verbieten. Man könnte einwenden, daß der Begriff des Entgelts, auch wenn er in Artikel 119 im Hinblick auf die Gleichstellung umschrieben ist, doch nicht so erschöpfend definiert wird, daß jede Ungewißheit hinsichtlich der Tragweite der Norm ausgeschlossen erscheint. Nach der Rechtsprechung bildet es jedoch für die Anerkennung der unmittelbaren Geltung einer Vorschrift kein Hindernis, daß die darin herangezogenen Begriffe eine Auslegung durch den innerstaatlichen Richter erfordern, der sich im übrigen des Verfahrens nach Artikel 177 des Vertrages bedienen kann (in diesem Zusammenhang verweise ich auf die Urteile 27/67, Fink-Frucht — Slg. 1968, 334, sowie 41/74, Van Duyn — Slg. 1974, 1337). Was sodann die Definition des Begriffs „gleiche Arbeit“ anbelangt, der im übrigen schon in Artikel 119 Absatz 3 teilweise erläutert ist (außer auf den Ausdruck „gleiche Arbeit“ für eine nach Akkord bezahlte Arbeit bezieht sich diese Vorschrift auch auf den „gleichen Arbeitsplatz“ bei nach Zeit bezahlter Arbeit), so sollte man seine Bedeutung für die Anwendung des Artikels, um den es hier geht, nicht übertreiben. Es ist zu Recht bemerkt worden, daß Artikel 119 „nicht die Feststellung ermöglichen will, wann Männer und Frauen die gleiche Arbeit verrichten, daß er vielmehr nur verhindern will, daß bei der Festsetzung des Entgelts das Geschlecht des Arbeitnehmers in irgendeiner Weise berücksichtigt wird. Ob es sich um die gleiche oder um eine andere Arbeit handelt, ist Tatfrage, die in jedem konkreten Fall mit Bezug auf die dem einen wie dem anderen Arbeitnehmer zugewiesenen Aufgaben geklärt werden muß; a priori läßt sich dies nicht feststellen, ebensowenig wie man a priori die Gleichheit der Arbeit zweier Personen feststellen kann, die das gleiche Entgelt erhalten“ (Levi Sandri im EWG-Kommentar, Band II, S. 956). Wir können also davon ausgehen, daß Artikel 119, was die Abschaffung jeglicher auf dem Geschlecht beruhender Diskriminierung im Zusammenhang mit dem Arbeitsentgelt anbelangt, eine klare, genaue und vorbehaltlose Verpflichtung aufstellt. Es ist jedoch zu unterstreichen, daß Artikel 119 nicht alle denkbaren Auswirkungen des Grundsatzes der Gleichheit des Entgelts für Männer und Frauen, wenn man ihn in seiner ganzen Tragweite sieht, regelt oder jedenfalls nicht notwendig regelt. Die Anwendung des Grundsatzes auf andere als die in Artikel 119 geregelten Fälle (Leistung der „gleichen Arbeit“, womit eine identische Arbeit gemeint ist) liegt zweifellos außerhalb des Bereichs, für den sich die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit der Norm stellt, und gehört richtiger in das Gebiet der Sozialpolitik, deren Festlegung und Verwirklichung vor allem davon abhängen, daß die Gemeinschaftsexekutive und die Mitgliedstaaten die Initiative ergreifen und ihre Schritte koordinieren. |
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Die den Mitgliedstaaten, den förmlichen Normadressaten, auferlegte Verpflichtung konkretisiert sich in einer Verpflichtung zu einem Tun, für die ein genauer Endtermin (das Ende der ersten Stufe) gesetzt ist. Wir wissen, daß die Mitgliedstaaten mit ihrer Entschließung vom 30. Dezember 1961 die Frist für die vollständige Durchführung des Grundsatzes der Gleichheit des Entgelts bis zum 31. Dezember 1964 verlängern wollten. Wenn wir nun Rechtsnatur und Tragweite dieser Maßnahme feststellen wollen, so ist zu bemerken, daß sie formal eine Vereinbarung zwischen den Vertretern der Mitgliedstaaten im Ministerrat darstellt; nach ihrer Tragweite präzisiert sie den Inhalt des Artikels 119, indem sie die Methoden und den Zeitplan für die Anwendung dieser Bestimmung festlegt. Diese Entschließung kann ohne jeden Zweifel den Vertrag nicht ändern und etwa, was die in Artikel 119 bestimmte Frist anlangt, an die Stelle dieser eindeutigen Bestimmung treten: Dies haben Sie für einen ähnlichen Fall in Ihrem Urteil vom 3. Februar 1976 (in der Rechtssache 59/75, Manghera) in bezug auf eine zu einer anderen Materie ergangenen Entschließung bereits entschieden. Die Entschließung ist somit als ein im wesentlichen politischer Akt anzusehen, der die Besorgnis der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Überwindung der sich aus der Anwendung des Artikels 119 ergebenden Schwierigkeiten zum Ausdruck bringt. Sie ist keine autonome Quelle von Verpflichtungen der Staaten; diese Verpflichtungen finden ihren Ursprung ausschließlich in dem genannten Vertragsartikel. Der Wortlaut der Rechtsnorm, mit der wir uns hier befassen, setzt zur vollen Durchführung der von den Mitgliedstaaten übernommenen Pflichten sicherlich auch ein Tätigwerden dieser Staaten voraus. Berücksichtigt man dies, so kann man sich die Frage vorlegen, ob Artikel 119 dem Erfordernis der Vollständigkeit der Norm genügt, welches Voraussetzung für die Anerkennung ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit ist. Der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist zu entnehmen, daß einem Vertragsartikel die unmittelbare Wirkung nicht allein deshalb abgesprochen werden kann, weil er die Mitgliedstaaten zu einem Tun verpflichtet; diese bleibt vielmehr bestehen, wenn nur die Verpflichtung eindeutig und an keine Bedingung geknüpft ist, wenn sie inhaltlich hinreichend bestimmt ist und den Mitgliedstaaten keinen wirklichen Ermessensspielraum hinsichtlich der Anwendung der Vorschrift läßt (als Beispiel verweise ich auf das Urteil 57/65, Lütticke — Slg. 1966, 258). Lassen wir einmal die Fälle beiseite, in denen es sich darum handelt, die Gleichwertigkeit nicht identischer Arbeit festzustellen, um Fälle also, die sehr schwierige Wertungsfragen einschließen können, deren Lösung in erster Linie dem Gesetzgeber obläge, so erfordert die Anwendung des Artikels 119 für den Fall, mit dem das vorlegende Gericht allein befaßt ist, und in dem an der Gleichheit der wegen des Geschlechts unterschiedlich bezahlten Arbeit kein Zweifel besteht, nicht notwendig den Erlaß von Durchführungsbestimmungen. Es könnte allerdings Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Begriff des „Entgelts“ geben. Die Verfasser des Artikels 119 haben versucht, diesen Begriff zu definieren. Artikel 119 bestimmt in diesem Punkt unter wortwörtlicher Übernahme des Artikels 1 Buchstabe a des Ubereinkommens Nr. 100, daß „unter Entgelt … die üblichen Grund- oder Mindestlöhne und -gehälter sowie alle sonstigen Vergütungen zu verstehen [sind], die der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhältnisses dem Arbeitnehmer mittelbar oder unmittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt“. Trotz dieser Präzisierungen glaube ich, daß es noch oft notwendig sein wird, den Begriff des Entgelts und insbesondere den der „sonstigen Vergütungen“ auszulegen. Der Gerichtshof hat dies bereits in der ersten Rechtssache Defrenne und, was die Bezüge von Bediensteten der Gemeinschaft anbelangt, in der Rechtssache 20/71 (Bertoni — Slg. 1972, 345) getan. Es scheint mir jedenfalls auf der Hand zu liegen, daß als Entgelt das normale Grundgehalt oder der normale Grundlohn, wie sie sich aus den Gehalts- oder Lohntabellen ergeben, zu berücksichtigen sind, und daß eine der Voraussetzungen für die Anwendung des Artikels 119 erfüllt ist, wenn insoweit eine nur auf das Geschlecht zurückzuführende Diskriminierung festgestellt wird. Ich kann mich auf den Hinweis beschränken, daß, wie das vorlegende Gericht feststellt, die Differenz von 12716 bfrs auf die Abweichung zwischen den für die beiden Geschlechter vorgesehenen „Grundtabellen“ und nicht etwa auf sonstige Nebenvergütungen zurückzuführen ist, die mittelbar oder unmittelbar, in bar oder in Sachleistungen gewählt wurden, wie etwa Flugprämien oder Einnahmen aus der Bordbar. Auch in dieser Hinsicht bin ich also der Auffassung, daß der unmittelbaren Anwendbarkeit des Artikels 119 in einem Falle, wie er hier von dem innerstaatlichen Gericht zu entscheiden ist, kein Hindernis entgegensteht. |
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Doch stellt sich nun eine andere Frage. Im Gegensatz zu den anderen Vertragsartikeln, deren unmittelbare Wirksamkeit der Gerichtshof anerkannt hat und die sich auf Materien beziehen, bei denen eine unmittelbare Rechtsbeziehung zwischen dem Staat und dem Bürger besteht (Zoll oder Steuerrecht, Niederlassungsrecht), betrifft Artikel 119, obwohl er nur eine Verpflichtung der Staaten aufstellt, in erster Linie Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen. Die Diskriminierung, die diese Vorschrift verbieten will, wird in der Mehrzahl der Fälle das Werk eines Privatunternehmers zum Nachteil einer Arbeitnehmerin sein. Der Staat ist an der Festsetzung des Entgelts nur im Bereich des öffentlichen Dienstes unmittelbar beteiligt; auf dem privaten Sektor dagegen ist die Festsetzung von Löhnen und Gehältern weitgehend der Vertragsautonomie der Betroffenen überlassen. Die innerstaatlichen Stellen könnten daher, gestützt allein auf die Vorschrift, außerstande sein, den Grundsatz des gleichen Entgelts sofort durchzusetzen. Zu diesem Zweck wären somit geeignete innerstaatliche Normen erforderlich. Aus diesen Erwägungen haben die am Verfahren beteiligten Regierungen die Auffassung vertreten, Artikel 119 beschränke sich darauf, unmittelbar nur die Mitgliedstaaten zu verpflichten, und könne keine Recht und Pflichten Privater begründen. Nach einer vom Vertreter der Kommission hilfsweise vorgebrachten These kann Artikel 119, rein formal gesehen, eine Klage Privater rechtfertigen, die indessen, obgleich zulässig, nur begründet wäre, wenn eine dem Staat als Arbeitgeber zuzurechnende Diskriminierung vorläge oder es sich um Tarifsysteme handelte, die vom staatlichen Gesetzgeber oder der staatlichen Exekutive unmittelbar festgelegt wären. Die vorstehend wiedergegebenen Gedankengänge scheinen mir die Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung zu verkennen, wie sie von einer mehr als 20jährigen Rechtsprechung herausgearbeitet worden sind. Wollte man vor allem einräumen, daß die Vorschrift nur zugunsten öffentlicher Bediensteter unmittelbar wirkt, so käme es, wie der Vertreter der irischen Regierung unterstrichen hat, zu einer neuen unannehmbaren Diskriminierung zwischen öffentlichem und privatem Sektor. Die Rechtsnatur der Sabena und ihre Beziehungen zum belgischen Staat sind daher für die vorliegende Streitfrage unerheblich. Erinnern wir uns ferner daran, daß nach ständiger und wohlbekannter Rechtsprechung des Gerichtshofes auch allein an die Staaten gerichtete Normen unter bestimmten Voraussetzungen geeignet sind, Rechte von Privatpersonen zu begründen, die die innerstaatlichen Gerichte wahren können und müssen. Entscheidendes Kriterium, um zu klären, welche Wirkungen eine Gemeinschaftsnorm im innerstaatlichen Recht erzeugt, sind nicht die in der Norm bezeichneten Adressaten, sondern ist die Rechtsnatur der Norm, die der Gerichtshof unter Berufung auf „Geist, System und Wortlaut“ der Bestimmung selbst auslegt. Zweck des Artikels 119 ist die Beseitigung jeglicher Diskriminierung bei der Festsetzung von Löhnen und Gehältern innerhalb einer bestimmten Frist, also nicht nur von Diskriminierungen, die sich aus Gesetzen oder Verordnungen der Mitgliedstaaten ergeben, sondern auch von solchen, die ihren Ursprung in Tarifverträgen oder individuellen Arbeitsverträgen haben. Daraus folgt, daß die Pflicht, den Gleichheitsgrundsatz zu beachten, nicht nur den Staaten für die Festsetzung der Gehälter im öffentlichen Dienst obliegt, sondern, sofern der Normbefehl genügend konkret und in seiner Tragweite bestimmt ist, um gegenüber Dritten wirken zu können, auch in dem Bereich zu beachten ist, der den Gewerkschaften und Privatpersonen für das Aushandeln von Tarif- oder Individualverträgen belassen ist; dies gilt allein aufgrund der Vertragsnorm und unabhängig von etwaigen Durchführungsbestimmungen, welche die Staaten in dieser Hinsicht erlassen haben. Auf Fragen zu einem privatrechtlichen Reglement einer Internationalen Sportvereinigung hat der Gerichtshof (in der Rechtssache 36/74, Walrave — Slg. 1974, 1405) ausgeführt, daß Artikel 59 wie auch Artikel 48 nicht nur Diskriminierungen verbietet, die ihren Ursprung in Akten staatlicher Behörden haben, sondern auch für „sonstige Maßnahmen [gilt], die eine kollektive Regelung im Arbeits- und Dienstleistungsbereich enthalten“. Die Verwirklichung der wesentlichen Ziele des Vertrages wäre in der Tat gefährdet, „wenn die Beseitigung der staatlichen Schranken dadurch in ihren Wirkungen wieder aufgehoben würde, daß privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse aufrichteten“. Zwar gehört der Grundsatz des gleichen Entgelts anders als der der Freizügigkeit nicht zu den fundamentalen Zielen des Vertrages, aber seine Durchführung ist von ganz besonderer Bedeutung auf dem Wege des „wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts“, um eine „stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen“ (Präambel des Vertrages) zu erreichen. |
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Ich glaube daher, den Schluß ziehen zu können, daß der Grundsatz der Gleichheit des Arbeitsentgelts, der seinem Wesen nach die einzelnen unmittelbar betrifft, in den oben angegebenen Grenzen geeignet ist, unmittelbare Wirkungen im Verhältnis zu den Rechtsbürgern zu erzeugen; diese können sich deshalb vor den nationalen Gerichten auf ihn berufen, ohne daß es zuvor entsprechender gesetzgeberischer Maßnahmen seitens der Mitgliedstaaten bedürfte. Gewiß könnten administrative oder gar strafrechtliche Sanktionen die unmittelbare Anwendbarkeit der Gemeinschaftsnormen nur verstärken und wären in diesem Sinne besonders wünschenswert; die erste Sanktion besteht aber in der Nichtanwendung des nationalen Rechts und jeglicher sonstigen öffentlichen und privaten Maßnahme, die zu der unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsnorm im Widerspruch steht. Wenn also das frühere innerstaatliche Gesetzes- oder Verordnungsrecht durch die automatische Aufnahme solcher Normen in die innerstaatliche Rechtsprechung nur stillschweigend aufgehoben oder geändert worden ist, oder wenn die Vertragspartner Tarif- oder Individualverträge aufrechterhalten, die der Gemeinschaftsregelung widersprechen, ist es für die Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit nicht erforderlich, die genannten Rechtsakte den Gemeinschaftsbestimmungen formal anzugleichen, so daß alle Betroffenen von dieser Neuerung Kenntnis erlangen können und so jede Ungewißheit über das geltende Recht vermieden wird. Zweifellos wäre auch hier eine förmliche Angleichung in höchsten Maße positiv zu werten, doch können Unklarheiten, unterstellt, daß es solche gibt, in Anwendung des Verfahrens nach Artikel 177 des Vertrages überwunden werden, und das Argument, unser Gerichtshof laufe Gefahr, von Ersuchen um „Klärung“ überschwemmt zu werden, kann nur unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit vorgebracht werden. Für die Anwendung des Artikels 119 gibt es also eine recht einfache und wirksame Methode, Diskriminierungen zu verfolgen: Es genügt, daß die innerstaatlichen Gerichte jede mit der genannten Norm unvereinbare Klausel eines Individual- oder Kollektivvertrages für absolut nichtig erklären. Gerade in einem solchen Fall wird die genaue Bedeutung des Ausdrucks „absolute Nichtigkeit“ offenbar. Entgegen der Regel „keine Nichtigkeit, die nicht im Gesetz vorgesehen ist“, ist diese Nichtigkeit öffentlich-rechtlicher Natur und geht damit den einzelnen Gesetzesbestimmungen vor. Für den Bereich des Arbeitsentgelts bedeutet die absolute Nichtigkeit, daß an die Stelle der in der nichtigen Klausel vorgesehenen Bezahlung automatisch die den Arbeitnehmern männlichen Geschlechts gewährte höhere Bezahlung tritt. Dies ist nichts Neues. Die Gerichte mehrerer Mitgliedstaaten sind so vorgegangen, um auch gegen den Willen der Sozialpartner und in Ermangelung von Durchführungsvorschriften den in den jeweiligen nationalen Verfassungen verankerten Gleichbehandlungsgrundsatz zu verwirklichen. Der Gerichtshof hat im übrigen unmittelbare Wirkungen anderen Vertragsbestimmungen zuerkannt, bei denen sich erheblich größere Schwierigkeiten ergaben (ich verweise zum Beispiel auf Artikel 95 Absatz 1 EWG-Vertrag; Urteil 57/65, Lütticke — Slg. 1966, 258). Eine diskriminierende Vertragsklausel nicht anzuwenden, wird für den innerstaatlichen Richter nicht schwieriger sein, als ein mit dem Vertrag unvereinbares Gesetz unangewendet zu lassen oder jemandem Schadensersatz zuzusprechen, dessen Interessen durch ein solches Gesetz verletzt worden sind. Im übrigen kann der Gerichtshof bei der Auslegung des Artikels 119 den Umstand nicht außer acht lassen, daß der Grundsatz der Gleichbehandlung in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten verankert ist, denn die meisten Mitgliedstaaten haben ihn sogar zu einem förmlich garantierten Verfassungsgrundsatz erhoben. Nun hat aber der Gerichtshof in seinem Urteil vom 17. Dezember 1970 in der Rechtssache 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft) entschieden, daß die Beachtung der Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört und daß die Gewährleistung dieser Rechte im Rahmen der Gemeinschaft von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein kann und muß. Hiernach scheint mir, daß das Verbot jeglicher Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (insbesondere beim Arbeitsentgelt) ein Recht schützt, das auch zu den Grundlagen der Gemeinschaftsrechtsordnung gehört. Sie haben bereits in den Rechtssachen 33/74 (Van Binsbergen — Slg. 1974, 1299) und 2/74 (Reyners — Slg. 1974, 631), in denen die Diskriminierung auf einem bloßen Wohnsitz- oder Staatsangehörigkeitskriterium beruhte, ausgeführt, daß jegliche Diskriminierung aufgrund des Wohnsitzes oder der Staatsangehörigkeit vertragswidrig sei. Ich schlage Ihnen vor, diese Rechtsprechung auch auf Diskriminierungen auszudehnen, die nur auf das Kriterium des Geschlechts abstellen; Sie haben dies im Verhältnis zu den Gemeinschaftsbediensteten bereits getan (ich verweise auf die Rechtssache 20/71, Sabbatini — Slg. 1972, 352, und die Rechtssache 21/74, Airola — Slg. 1975, 228). |
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Um in diesem Punkt meine Ausführungen zusammenzufassen, möchte ich folgendes sagen: Der Ausdruck „Jeder Mitgliedstaat (wird anwenden)“ in Artikel 119, der dem Übereinkommen Nr. 100 entnommen ist und sich dadurch erklärt, daß die tatsächliche Anwendung des Artikels 119 ein ständiges Tätigwerden der Behörden der Mitgliedstaaten (und der sogenannten Sozialpartner, also der Unternehmer, der Arbeitnehmer und der jeweiligen Organisationen) voraussetzt, damit die Verwirklichung des Grundsatzes auch nicht etwa infolge einer technischen Entwicklung oder einer Konjunkturänderung in Frage gestellt wird, hat indessen nach dem Vertrag von Rom eine tiefergehende Bedeutung: Er wendet sich nicht nur an den Mitgliedstaat, als das durch einen völkerrechtlichen Vertrag gebundene Subjekt, wie es noch bei dem Übereinkommen Nr. 100 der Fall war, sondern auch an die zuständigen Stellen des Staates selbst, und zwar einschließlich der Richter, denen die Anwendung der Vertragsbestimmungen obliegt. Zweifellos kann die Anwendung der Begriffe „Entgelt“ und „Arbeit“ zu Schwierigkeiten führen, genauso sicher ist aber, daß die „Erfüllung [der Verpflichtung] durch die Verwirklichung programmatisch festgelegter, abgestufter Maßnahmen … erleichtert [wird]“ (EuGH 21. Juni 1974 — Reyners 2/74 — Slg. 1974, 631). Sicherlich ist ein Tätigwerden der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsorgane im Bereich der Legislative und der Exekutive unerläßlich, da Artikel 119, würde der Gleichbehandlungsgrundsatz nur auf das Entgelt im engen Sinne und auf absolut identische Arbeiten angewandt, in der Praxis eine recht begrenzte Bedeutung hätte. Den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen eröffnet sich so für die Verwirklichung des in Artikel 119 niedergelegten Diskriminierungsverbots außerhalb des Bereichs der unmittelbaren Anwendbarkeit dieser Vorschrift ein weites Betätigungsfeld. Die Diskriminierung zum Nachteil der Frau verbirgt sich oft hinter der Struktur des Entgelts, der Einteilung oder Beschreibung des Arbeitsplatzes, den besonderen Merkmalen der Arbeit in bestimmten Bereichen, ganz zu schweigen von den Ungleichheiten, die auf die beruflichen Fortbildungs- und die Beförderungssysteme oder auf die Arbeitsbedingungen im allgemeinen zurückzuführen sind. Die Liste der Untersuchungen und Erhebungen, die auf Gemeinschaftsebene vorgenommen worden sind, um dem Gleichbehandlungsgrundsatz zur vollen Durchführung zu verhelfen, ist ansehnlich. Außerdem hat der Rat aufgrund von Artikel 100 am 10. Februar 1975 eine ihm am 14. November 1973 von der Kommission vorgeschlagene Richtlinie erlassen, die die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für männliche und weibliche Arbeitnehmer „für ein und dieselbe Arbeit oder für eine Arbeit, der der gleiche Wert beigemessen wird“, betrifft. Diese Richtlinie soll eine harmonische und effiziente Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes garantieren, indem sie einigen Normen allgemeine Verbindlichkeit verleiht, die ein Mindestmaß an Schutz gewährleisten, und zwar insbesondere was den Rechtsschutz anbelangt. Den Mitgliedstaaten wird eine Frist von einem Jahr, endend mit dem Monat Februar 1976, gesetzt, um der Richtlinie nachzukommen, und eine solche von drei Jahren, endend im Februar 1978, um der Kommission über die Anwendung des Grundsatzes zu berichten. Diese Richtlinie hat jedoch die ursprüngliche Tragweite des Artikels 119 nicht ändern können. Es läßt sich nur sagen — und daran zweifelt niemand —, daß aufgrund des Artikels 100 (Angleichung der Rechtsvorschriften) getroffene Maßnahmen einer besseren Durchführung des Artikels 119 zustatten kommen können. |
9. |
Ich kann nun das innerstaatliche Gesetz, das bei der Cour du travail Brüssel Zweifel geweckt hat, unter meine Erwägungen subsumieren. Artikel 14 des Arrêté royal Nr. 40 vom 24. Oktober 1967, der zur Durchführung des Gesetzes vom 31. März 1967 über den wirtschaftlichen Wiederaufschwung erlassen worden ist, hat folgenden Wortlaut: „Nach Artikel 119 EWG-Vertrag, ratifiziert mit Gesetz vom 2. Dezember 1957, haben alle Arbeitnehmerinnen das Recht, vor dem zuständigen Gericht auf Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts zwischen Arbeitnehmern beiderlei Geschlechts zu klagen.“ Das Gericht, das Ihnen die Vorabentscheidungsfrage vorgelegt hat, ist anscheinend entsprechend den amtlichen Erläuterungen zu dem Arrêté royal der Auffassung, das ein Klagerecht, um gegenüber dem Arbeitgeber „ein subjektives Recht in Verbindung mit dem Grundsatz des gleichen Entgelts“ durchzusetzen, den weiblichen Arbeitnehmern erst seit dem 1. Januar 1968, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Arrêté royal Nr. 40 (Artikel 30), zustehe. Aus dem Umstand jedoch, daß die zuständigen belgischen Stellen es für eine bessere Durchführung des Artikels 119 für angebracht hielten, ausdrücklich ein Klagerecht für weibliche Arbeitnehmer vorzusehen, läßt sich keinesfalls herleiten, daß ohne diese Vorschrift der Grundsatz des Artikels 119 kein subjektives Recht des einzelnen begründet hätte oder begründet und daß ein solches Recht nur unter der Voraussetzung und von dem Zeitpunkt an bestehen könne, daß die innerstaatliche Rechtsordnung diesen Grundsatz anerkannt hat. Die von den belgischen Stellen erlassene Vorschrift beeinflußt Artikel 119 in keiner Weise; wenn wir davon ausgehen, daß Artikel 119, zumindest in gewissen Grenzen, seit dem Ende der ersten Stufe der Übergangszeit unmittelbar anwendbar ist, so müssen wir anerkennen, daß die Bürger der ursprünglichen Mitgliedstaaten sich seit diesem Zeitpunkt auf die Vorschrift berufen konnten, allerdings vorbehaltlich der Normen über die Klageerhebung und die Verjährung des Anspruchs. Es trifft zu, daß sich in Belgien der König „systematisch“ weigert, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, die gegen den Grundsatz des Artikels 119 verstoßen. Da aber der Tarifvertrag zwischen der Sabena und ihren Bediensteten nicht der königlichen Kontrolle unterworfen werden konnte, ließ sich das aus der „Vertragsautonomie der Sozialpartner“ und der „Freiheit der Aushandlung von Tarifverträgen“ bestehende Hindernis auf diese Weise nicht überwinden. Um in dem genannten Tarifvertrag etwa enthaltene Diskriminierungen beseitigen zu wollen, blieb — in den Worten der amtlichen Erläuterungen — nur der Rückgriff auf die „richterliche Rechtsschöpfung“. Diese Rechtsschöpfung aber braucht keine Erlaubnis des innerstaatlichen Gesetzgebers; sie ist lediglich die richterliche Überführung der „unmittelbaren Anwendbarkeit“ der Gemeinschaftsnorm, um deren Durchführung es geht, in die innerstaatliche Rechtsordnung. In einem Fall der vorliegenden Art scheint mir deshalb ein Arrêté royal nicht erforderlich zu sein. Der in Artikel 119 des Vertrages enthaltene Grundsatz ist in die belgische Rechtsordnung nicht erst durch den hier erörterten Arrêté royal, sondern durch das Ratifizierungsgesetz zum EWG-Vertrag vom 2. Dezember 1957 eingeführt worden. Nach unserer Rechtsprechung können Vollzugsmodalitäten zu einer Gemeinschaftsnorm die einheitliche Anwendung nicht in Frage stellen: „Vollzugsmodalitäten, die zur Folge haben können, daß der unmittelbaren Geltung der Gemeinschaftsverordnungen Hindernisse im Wege stehen, wodurch deren gleichzeitige und einheitliche Anwendung in der gesamten Gemeinschaft aufs Spiel gesetzt wird, [sind] mit dem Vertrag nicht vereinbar“ (EuGH 7. Februar 1973 — Kommission/Italienische Republik, 39/72 — Slg. 1973, 113). Der erwähnte nationale Rechtsakt kann für die Zukunft von Nutzen sein, konnte aber den konkreten Inhalt des in Artikel 119 verankerten Grundsatzes nicht beeinflussen. Abschließend glaube ich folgende Feststellung treffen zu können: In den sechs ursprünglichen Mitgliedstaaten konnte eine Arbeitnehmerin seit dem 1. Januar 1962 allein unter Berufung auf Artikel 119 vor Gericht klagen, um sich gegen jegliche Verletzung des in dem genannten Artikel enthaltenen Grundsatzes zur Wehr zu setzen. Die Begründetheit der Klage hätte von dem Inhalt abgehangen, der den Begriffen „Entgeld“ und „gleiche Arbeit“ gegeben worden wäre. |
10. |
Ein letztes Argument gegen die „unmittelbare Geltung“ des Artikels 119 wird von den Regierungen des Vereinigten Königreichs und der Republik Irland vorgebracht, denen die, wie man sie nennen könnte, „Kosten der Operation“ besonders nahe zu gehen scheinen. Argumente dieser Art sind, auch wenn sie unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit Beachtung verdienen, rechtlich unerheblich. Sie selbst haben es nicht für erforderlich erachtet, eine von Ihnen gegebene Auslegung zu Artikel 95 zu ändern, die in Deutschland zu einer Fülle von Klagen geführt und die Finanzgerichte in Schwierigkeiten gebracht hatte: „Eine solche Erwägung,“ so haben Sie bemerkt, „vermag jedoch für sich allein die Richtigkeit dieser Auslegung nicht in Frage zu stellen“ (EuGH 3. April 1968 — Molkerei-Zentrale Westfalen-Lippe, 28/67 — Slg. 1968, 216) Berücksichtigt man im übrigen, daß dem Grundsatz des Artikels 119 unmittelbare Geltung nur zukommt, was das eigentliche Entgelt anbelangt, das für die „gleiche Arbeit“ gezahlt wird, so dürften seine finanziellen Auswirkungen in Anbetracht auch der Verjährungsfolgen in den einzelnen Mitgliedstaaten keine zu hohen Beträge erreichen. |
Aus den vorstehenden Erwägungen schlage ich Ihnen vor, wie folgt für Recht zu erkennen:
Soweit es sich um das Entgelt im engen Wortsinne und um nicht nur vergleichbare sondern identische Arbeitsleistungen handelt, hat Artikel 119 EWG-Vertrag mit dem 1. Januar 1962 in das innerstaatliche Recht der ursprünglichen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen eingeführt und gewährt den betroffenen Arbeitnehmern unmittelbar Rechte, welche die innerstaatlichen Gerichte zu schützen haben, ohne daß dieser Schutz den vorherigen Erlaß von innerstaatlichen Durchführungsbestimmungen oder solchen der Gemeinschaft voraussetzte.
( 1 ) Aus dem Italienischen übersetzt.