SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS HENRI MAYRAS
VOM 13. NOVEMBER 1974 ( 1 )
Herr Präsident,
meine Herren Richter!
Am 21. Juni dieses Jahres haben Sie über ein Ersuchen um Vorabentscheidung entschieden, das der belgische Conseil d'Etat an Sie gerichtet hatte. Die Ihnen damals vorgelegten Fragen betrafen die Auslegung der Artikel 52 und 55 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Unter anderem wurden Sie gefragt, ob die Bestimmungen des Artikels 52 des Vertrages seit Ablauf der Übergangszeit auf die Tätigkeiten der Rechtsanwälte unmittelbar anwendbar seien, auch ohne daß die in den Artikeln 54 Absatz 2 und 57 Absatz 1 vorgesehenen Richtlinien ergangen sind.
In dieser früheren Rechtssache war also Streitgegenstand das Niederlassungsrecht, wie es in Titel III Kapitel 2 des Zweiten Teils des Vertrages von Rom näher umschrieben ist.
Die Ihnen vom Centrale Raad van Beroep, einem letztinstanzlichen niederländischen Sozialgericht, vorgelegten Fragen werfen für den Bereich der Dienstleistungen, die unter Kapitel 3 jenes Titels III des Vertrages fallen (Art. 59 bis 66), Probleme auf, die denen vergleichbar sind, die Sie mit dem eben erwähnten Urteil in der Rechtssache Reyners geklärt haben.
Es wird also Anlaß bestehen, auf die Leitlinien dieser Entscheidung jedenfalls insoweit Bezug zu nehmen, als Kapitel 3 des Vertrages auf ähnlichen Grundsätzen fußt, wie sie für die in Kapitel 2 behandelte Niederlassungsfreiheit maßgeblich sind.
Zunächst bedarf es jedoch der Schilderung des Sachverhalts, aus dem der Ausgangsrechtsstreit entstanden ist.
Herr Van Binsbergen, wohnhaft in Beesel, einer Ortschaft in der niederländischen Provinz Limburg, bevollmächtigte am 5. Juli 1972 Herrn Kortmann, der damals ebenfalls in Holland, und zwar in Zeist, wohnte, ihn in einem Rechtsstreit mit dem Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, einer Sozialversicherungskörperschaft der niederländischen Metallindustrie, wegen Arbeitslosenversicherungsansprüchen zu vertreten.
Dieser Vollmachterteilung lag offenbar Artikel 46 des niederländischen Gesetzes über das Verfahren vor dem Centrale Raad van Beroep von Utrecht (Beroepswet) zugrunde.
Diese Vorschrift gestattet den Parteien, entweder persönlich zu erscheinen oder sich durch Prozeßbevollmächtigte vertreten zu lassen. In diesem letzteren Falle hat der Prozeßbevollmächtigte erforderlichenfalls seine Vertretungsbefugnis durch Vorlage einer schriftlichen Vollmacht zu beweisen. Hiervon ausgenommen sind allerdings Rechtsanwälte: Sie brauchen eine solche Vollmacht nicht vorzulegen.
Nach Artikel 47 des genannten Gesetzes können sich die Parteien der Hilfe eines Rechtsbeistands bedienen und sich von diesem begleiten lassen, wenn sie vor dem Sozialgericht erscheinen.
Im Laufe des Verfahrens zog Herr Kortmann in die Stadt Neeroeteren in Belgien um und wandte sich von diesem neuen Wohnsitz aus an den Centrale Raad van Beroep mit der Bitte um Übersendung einer Abschrift der Akten seines Mandanten an seine neue Anschrift, um die Rechtssache prüfen und die Erklärungen vorbereiten zu können, die er vor dem niederländischen Gericht abgeben wolle.
Der Substituut-Griffier des Gerichts teilte ihm am 3. November 1973 mit, seinem Antrag könne deshalb nicht stattgegeben werden, weil Artikel 48 des Gesetzes über das Verfahren vor dem Centrale Raad van Beroep (Beroepswet) bestimme: „Als Prozeßbevollmächtigte oder Rechtsbeistände können nur im Königreich [der Niederlande] ansässige Personen auftreten.“
Herrn Kortmann, der seither in Belgien wohnt, wird also diese Vorschrift entgegengehalten, nach der ihm untersagt sein soll, als Prozeßbevollmächtigter oder Rechtsbeistand seinen Mandanten vor dem Centrale Raad van Beroep zu vertreten.
Am 8. Dezember 1973 wandte er sich vor diesem Gericht gegen die Anwendung dieses niederländischen Gesetzes auf ihn. Er erinnerte daran, daß er noch wenige Wochen zuvor vor diesem Gericht plädiert habe, obgleich er schon damals den Wechsel seines Aufenthaltsortes nicht verheimlicht habe. Er vertrat die Meinung, die ihm gegenüber ergriffene Maßnahme verstoße gegen die Bestimmungen der Artikel 59 und 60 des Vertrages von Rom über den freien Dienstleistungsverkehr, die unmittelbar anwendbar seien und deshalb zu seinen Gunsten subjektive Rechte begründeten.
Dementsprechend machte er geltend, das durch die staatlichen Rechtsvorschriften aufgestellte Erfordernis, wonach die Prozeßvertreter für die Vertretung oder Unterstützung einer Partei vor dem Centrale Raad van Beroep einen Wohnsitz oder Aufenthaltsort in den Niederlanden besitzen müßten, stehe im Widerspruch zu diesen Vertragsvorschriften.
Auf die Bitte des Substituut-Griffier des Gerichts, die Art seiner beruflichen Tätigkeit näher zu beschreiben, erklärte Herr Kortmann (ausweislich der Akten und auch seiner Erklärungen vor dem Gerichtshof), er übe den Beruf eines Rechtsbeistands aus, diese Tätigkeit unterliege in den Niederlanden keiner gesetzlichen Regelung und setze weder ein Zeugnis noch die Eintragung in das Register einer Organisation oder eines Berufsstandes voraus. Er fügte hinzu, er habe eine „Praxis“ oder Klientel mit Streitigkeiten über niederländisches Verwaltungs- oder Sozialrecht, er entwerfe deshalb Klagen und nehme mündlich die Interessen seiner Mandanten vor der Abteilung für Verwaltungsrechtsstreitigkeiten des Raad van State der Niederlande, dem Centrale Raad van Beroep und bestimmten ministeriellen Berufungsausschüssen wahr.
Die Klagen vor dem Raad van State machten in Wirklichkeit drei Viertel seiner Tätigkeit aus. Seitdem er sich in Belgien, übrigens nahe der niederländischen Grenze, niedergelassen habe, bearbeite er die Akten zuhause, setze die Schriftsätze dort ab und begebe sich nach Holland nur des Plädierens wegen, was er im Jahre 1973 sechsunddreißigmal getan habe.
Er ist außerdem Hausverwalter, verfaßt Artikel für juristische Zeitschriften und verfügt über ein Sekretariat. Daher äußerte er vor dem niederländischen Gericht den Wunsch, als Person betrachtet zu werden, die ihre Tätigkeit oder einen Teil derselben im Sinne des Artikels 60 Absatz 3 des Vertrages zumindest vorübergehend in Holland ausübe. Angesichts dieser Auskünfte, die sich den vom Richter des Ausgangsverfahrens übermittelten Akten entnehmen lassen, möchte ich Herrn Kortmann fast als Art „fliegenden Holländer“ (flying dutchman) bezeichnen, da er zur Ausübung seiner beruflichen Tätigkeiten zwischen Belgien und Holland hin und her „kreuzt“.
Auf den Vortrag von Herrn Kortmann hin hat der Centrale Raad van Beroep jedenfalls beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die Fragen vorzulegen, ob die Artikel 59 und 60 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft unmittelbare Wirkung haben und ob sie infolgedessen subjektive Rechte der Einzelnen begründen, welche die staadichen Gerichte zu wahren haben. Für den Fall einer Bejahung der ersten Frage möchte das Gericht wissen, welche Bedeutung diesen Bestimmungen, insbesondere denen des letzten Absatzes des Artikels 60, zukommt.
Der Centrale Raad behält sich, je nach der ihm vorgeschlagenen Auslegung, die Prüfung vor, ob Artikel 90 der „Beroepswet“ anzuwenden ist, nach dessen zweitem Absatz jedermann, der weder in den Niederlanden noch in einem Staate mit entsprechender Verbürgung der Gegenseitigkeit einen Wohnsitz hat, verpflichtet ist, auf niederländischem Gebiet einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen.
Ich meine, die Logik gebietet es, zuallererst der Frage der Auslegung der Artikel 59 und 60 des Vertrages nachzugehen, denn erst im Lichte dieser Prüfung werde ich mich alsdann über die unmittelbare Wirkung dieser Bestimmungen äußern können.
Die Tätigkeiten der Angehörigen der selbständigen Berufe, denen selbstverständlich die freiberuflichen Tätigkeiten hinzuzurechnen sind, können einmal durch Angehörige eines Mitgliedstaates ausgeübt werden, die sich in dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaates niederlassen, was voraussetzt, daß sie ihren Wohnsitz oder Aufenthaltsort für immer oder zumindest für eine gewisse Dauer in diesem Staat begründen; diese Tätigkeiten können aber auch als Dienstleistungen über die Grenze hinweg ausgeübt werden.
Für sie gelten im ersten Falle die Vertragsvorschriften über das Niederlassungsrecht (Art. 52 bis 58), was für die Rechtssache Reyners zutraf.
Im zweiten Falle finden die Artikel 59 ff. über den freien Dienstleistungsverkehr Anwendung.
Zu Recht hat der Centrale Raad van Beroep seine Fragen im Bereich der Dienstleistungen angesiedelt.
Hierbei sind noch zwei unterschiedliche Fallagen auseinanderzuhalten:
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Man kann zunächst an eine oder an mehr oder weniger gelegentliche Dienstleistungen denken, deren Erbringer seine berufliche Niederlassung in einem Mitgliedstaat A gewählt hat, deren Empfänger — ein einzelner oder mehrere — aber in einem Mitgliedstaat B ansässig sind. Hiermit meine ich, daß der Erbringer der Dienstleistung in einem solchen Falle wegen der Erfordernisse seiner Berufstätigkeit nicht unbedingt gezwungen ist, die Grenze zwischen den beiden Staaten physisch zu überqueren. Dies ist übrigens die Lage, in der sich Herr Kortmann, zumindest für einen Teil seiner rechtsberatenden Tätigkeit, befindet. Es kann in der Tat davon ausgegangen werden, daß er an seinem Wohnsitz in Belgien die Schriftsätze abfaßt, die er per Post an die Kanzlei derjenigen niederländischen Gerichte verschickt, vor denen die zu bearbeitenden Rechtssachen anhängig sind, ohne daß er in diesem Verfahrensstadium verpflichtet wäre, sich persönlich von seinem Wohnsitz zu entfernen. |
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Doch auch an einen anderen Fall muß gedacht werden: Es ist derjenige, der im übrigen im letzten Absatz des Artikels 60 des Vertrages geregelt ist. Dort heißt es: „Unbeschadet des Kapitels über die Niederlassungsfreiheit kann der Leistende zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit vorübergehend in dem Staat ausüben, in dem die Leistung erbracht wird, und zwar unter den Voraussetzungen, welcher dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt.“ |
Diese Vorschrift zieht eine notwendige Trennungslinie zwischen der Niederlassung, die sich durch die zumindest relative Dauerhaftigkeit als eines ihrer Wesensmerkmale auszeichnet, und den Dienstleistungen, zielt aber gleichzeitig deutlich auf den Fall ab, in dem diese Leistungen ihren Erbringer zur Ausübung einer vorübergehenden Tätigkeit in dem Lande zwingen, in dem sie erbracht werden, das heißt zu einer vorübergehenden physischen Anwesenheit auf dem Gebiet eben dieses Landes.
Nun liegt dieser Fall auch bei Herrn Kortmann insoweit vor, als er sich, seinen eigenen Angaben zufolge, regelmäßig und recht häufig nach Holland begibt, um vor bestimmten Gerichten zu plädieren und sicherlich auch, um dort mit seinen Mandanten in Kontakt zu treten.
Es ist jedoch im ersten wie auch im zweiten Falle klar, daß sowohl die Bestimmungen des Artikels 59 wie auch die des letzten Absatzes des Artikels 60 auf die Verwirklichung der Gleichbehandlung zwischen den Angehörigen eines Mitgliedstaates und den Angehörigen der übrigen Staaten des Gemeinsamen Marktes abzielen, um das in der Überschrift des Titels III des Zweiten Teils des Vertrages ausdrücklich genannte Ziel, nämlich „die Freizügigkeit…“ zu erreichen. Auf diese Weise sichern diese Bestimmungen in dem Sonderbereich der Dienstleistungen die Ausführung der allgemeinen Vorschrift des Artikels 7 des Vertrages, eines integrierenden Bestandteiles der „Grundsätze“ der Gemeinschaft, wonach unbeschadet besonderer Bestimmungen des Vertrages in seinem Anwendungsbereich „jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten [ist]“.
Dieser Leitgedanke liegt auch der Anwendung des Artikels 48 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zugrunde. An ihm orientieren sich ferner die Bestimmungen des Artikels 52 über die Niederlassungsfreiheit, wie Sie in Ihrem Urteil in der Rechtssache Reyners (Rechtssache 2/74, EuGH 21. Juni 1974) entschieden haben.
Es geht sonach weniger darum, eine völlige Freiheit der Dienstleistungen auf dem gesamten Gebiet des Gemeinsamen Marktes zu garantieren, als vielmehr gegen Ende der Ubergangszeit zu einem Verbot jeder Diskriminierung, jeder Ungleichbehandlung zwischen Inländern und sonstigen Angehörigen der Gemeinschaft zu gelangen.
Es erscheint mir unnütz, länger bei diesem Gedanken zu verweilen, den ich bereits im Zusammenhang mit der Rechtssache Reyners entwickelt habe und den zu bekräftigen Ihre Rechtsprechung im übrigen oft Gelegenheit hatte.
Dagegen ist es für die Lösung, die Sie der vorliegenden Vorabentscheidungssache geben werden, von wesentlicher Bedeutung, daß ich mich näher zu der Unterscheidung äußere, die zwischen den Vorschriften über das Niederlassungsrecht und denen zur Regelung des freien Dienstleistungsverkehrs zu treffen ist.
Es ist nämlich hervorzuheben, daß der berufstätige Angehörige eines Mitgliedstaates, der im Sinne des Artikels 52 im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates „ansässig“ ist, schon allein wegen dieser Ansässigkeit dem Recht des Aufnahmelandes untersteht, dessen Staatsgewalt ihm für den Zugang zu seiner Tätigkeit und für deren Ausübung die Bedingungen stellen kann, die für die eigenen Staatsangehörigen gelten, und die ihn infolgedessen den gleichen Kontrollen unterwerfen kann.
Dies heißt, daß dieser ausländische Einwohner, der als Marktbürger privilegiert ist, zwar in den Genuß der Gleichbehandlung kommen muß, sich jedoch den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts nicht entziehen kann, selbst wenn dieses in Zukunft den Rechtsvorschriften der übrigen Staaten der Gemeinschaft angeglichen werden sollte.
Dagegen ist der Erbringer von Dienstleistungen per definitionem kein Einwohner: Er ist nicht „ansässig“. Sein Wohnsitz, sein Hauptaufenthaltsort liegen im Gebiet eines Mitgliedstaates A. Im vorliegenden Falle handelt es sich um Belgien. Entsprechend den Artikeln 59 und 60 kann er — wie ich später noch erläutern werde — ein subjektives Recht geltend machen, seine beruflichen Dienste Empfängern zu erbringen, die im Mitgliedstaat B, also vorliegend den Niederlanden, wohnen.
Hierzu bräuchte er sich sogar — ein vielleicht etwas theoretischer, aber nicht ganz auszuschließender Fall — physisch nie in Holland aufzuhalten. Auch wenn er sich aber recht oft nach dort zu begeben hat, geht er nach der Erbringung seiner Dienstleistung wieder über die Grenze zurück und untersteht dem niederländischen Recht nur, soweit die von ihm vorübergehend ausgeübten Tätigkeiten selbst einer Regelung unterstehen, was, wie uns gesagt wurde, für die Tätigkeit eines freien Rechtsbeistandes in den Niederlanden nicht zutrifft.
Infolgedessen — und dies ist ein wesentliches Merkmal des Unterschiedes zwischen den einfachen nur gelegentlich erbrachten Leistungen von Diensten oder auch der vorübergehenden Tätigkeit einerseits und der Niederlassung andererseits — unterliegt der Erbringer von Dienstleistungen nicht dem Zugriff und der Überprüfung der staatlichen Behörden des Landes, in dem die Dienstleistungen erbracht werden.
Es ist leicht zu verstehen, daß eine solche Rechtslage sowohl auf der Ebene der Standespflichten als auch für die etwaige Auslösung der beruflichen, zivil- oder gar strafrechtlichen Haftung des Erbringers von Dienstleistungen Risiken birgt. Auch unter steuerlichen Gesichtspunkten kann sie nicht ohne Auswirkungen bleiben.
Unschwer lassen sich die Folgen ausmalen, die sie unter anderem im Bereich des Kredits, der Begleichung finanzieller Verpflichtungen oder der Versicherung — von der Rechtsberatung gar nicht zu reden — nach sich ziehen kann.
Aus diesem Grunde ist es bei der Wahrung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung notwendig, dessen Erfordernisse mit den Erfordernissen des Schutzes der Einzelnen als Empfänger der Dienstleistungen miteinander in Einklang zu bringen und die notwendigen Kontrollmittel zu berücksichtigen, die die staatlichen Behörden zu diesem Zweck einsetzen können.
Nach diesen Bemerkungen möchte ich nunmehr untersuchen, ob die den Prozeßbevollmächtigten oder Beiständen vor den Sozialgerichten durch Artikel 48 der niederländischen „Beroepswet“ auferlegte Verpflichtung, im Gebiet der Niederlande ansässig (gevestigd) zu sein, eine durch Artikel 59 oder Artikel 60 Absatz 3 des Vertrages verbotene Diskriminierung darstellt.
Im Unterschied zum Falle Reyners handelt es sich nicht um ein Staatsangehörigkeitserfordernis, sondern um ein Wohnsitzerfordernis, das ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit gilt.
Denn Herr Kortmann, der die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt, beklagt sich in Wahrheit über eine Diskriminierung gegenüber seinen in Holland niedergelassenen oder ansässigen Landsleuten, die allein auf dem Umstand beruht, daß er selbst in Belgien wohnt.
Nun ist zwar das Verbot jeder Diskriminierung dann leicht zu handhaben, wenn die Ungleichbehandlung ausdrücklich oder unmittelbar aus einem Staatsangehörigkeitserfordernis herrührt, heikler wird die Lösung aber in dem Falle, wo man einer versteckten Diskriminierung gegenübersteht.
Dies ist ein Problem, auf das Sie zumindest im Bereich des Artikels 48 des Vertrages bereits gestoßen sind.
In der Rechtssache Sotgiu (Rechtssache 152/73 — EuGH 12. Februar 1974 — Slg. 1974, 164) hatte ich Gelegenheit auszuführen, daß eine solche Sachlage gegeben ist, wenn das einzelstaatliche Gesetz oder die Verordnung für die Gewährung von Leistungen oder Vorteilen, die mit einer Beschäftigung verbunden sind, ohne jede Bezugnahme auf die Staatsangehörigkeit beispielsweise an die Herkunft, den Geburtsort oder den gewöhnlichen Wohnsitz im Staatsgebiet anknüpft, so daß die Vorteile in Wirklichkeit den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten sind und, von Ausnahmen abgesehen, den Angehörigen der übrigen Mitgliedstaaten nicht zugute kommen.
Sie haben damals entschieden, daß „die Vorschriften über die Gleichbehandlung sowohl des Vertrages als auch des Artikels 7 der Verordnung Nr. 1612/68 (über die Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer) … nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit [verbieten], sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen“.
In dem genannten Falle handelte es sich um eine Diskriminierung je nach dem Familienwohnsitz.
Im übrigen bestätigten Sie eine namentlich durch das Urteil vom 13. Dezember 1972 (Marsmann, 44/72 — Slg. 1972, 1248) begonnene Rechtsprechung.
Wenngleich meine heutigen Überlegungen auf den Artikeln 59 und 60 fußen, bin ich der Meinung, daß die gleiche Auslegung zugrunde zu legen ist, soweit das in dem niederländischen Gesetz für Prozeßbevollmächtigte oder Rechtsbeistände vor den Sozialgerichten aufgestellte Erfordernis an deren Wohnsitz im Gebiet des Königreichs der Niederlande anknüpft.
Eine solche Voraussetzung bewirkt nämlich — selbst wenn dies nicht ihr Zweck sein sollte — unvermeidlich, daß ein Rechtsbeistand daran gehindert ist, für die Vertretung vor den niederländischen Gerichten seine Dienste zu erbringen, falls er selbst in einem benachbarten Staate ansässig ist.
Sie steht also der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs im Innern des Gemeinsamen Marktes entgegen.
Selbst wenn man annimmt, der niederländische Gesetzgeber habe nicht beabsichtigt, eine Diskriminierung zu schaffen, sondern sicherstellen wollen, daß die freien Beistände, die bekanntlich keiner beruflichen oder standesrechtlichen Regelung unterworfen sind und für die nicht einmal der Besitz eines Zeugnisses verlangt wird, zumindest ihren Wohnsitz in dem Gebiet haben, in dem die Befugnisse der einzelstaatlichen Behörden ausgeübt werden, so könnte in einem solchen Motiv dennoch keine Rechtfertigung für die durch das Gesetz geschaffene Lage erblickt werden.
Sonach komme ich zu der Auffassung, daß die aus der Anwendung jenes Gesetzes objektiv folgende Ungleichbehandlung gegen die Artikel 59 und 60 letzter Absatz des Vertrages verstößt.
Würde etwas anderes gelten, wenn das Wohnsitzerfordernis auf den Sitz oder Bezirk eines Gerichtes abstellen würde, so daß es im Interesse einer reibungslosen Rechtspflege gerechtfertigt erschiene?
Tatsächlich verlangt das Gesetz in mehreren Mitgliedstaaten von den Rechtsanwälten, daß sie ihren beruflichen Wohnsitz, ihre Praxis in dem Bezirk des Gerichts oder Berufungsgerichts einrichten, bei dem sie zugelassen sind.
Dies gilt namentlich für die Bundesrepublik Deutschland (Art. 27 der Bundesrechtsanwaltsordnung).
In einer anderen Form gilt dies auch für Frankreich: Von Ausnahmen abgesehen dürfen nur die in der Rechtsanwaltsliste des Bezirks eines Tribunal de grande Instance (Landgericht) eingetragenen Anwälte die Parteien vor diesem Gericht vertreten. Man nennt dies „la territorialité de la postulation“ (Gebietsgebundenheit des Rechts zur Parteivertretung), die vom früheren Berufsbild des Avoué (nicht vor Gericht plädierenden Anwalts) überkommen ist. Gleiches gilt auf der Ebene der Cours d'Appel (Berufungsgerichte), deren Avoués die jüngste Reform der Rechtspflegeberufe überlebt haben.
Solche Regelungen ziehen ihre Existenzberechtigung daraus, daß die Gerichte an ihrem Sitz oder jedenfalls in ihrem Bezirk über nahe Hilfspersonen der Rechtspflege verfügen müssen, die den Richtern bekannt und in der Lage sind, in enger Zusammenarbeit mit diesen bei der zügigen Abwicklung der Verfahren mitzuwirken. Es ist hinzuzufügen, daß es sich auch um ein berufsständisches Monopol handelt, auf das die jenen Beruf ausübenden Personen aus offensichtlichen Gründen großen Wert legen.
Im übrigen sei noch darauf hingewiesen, daß in Frankreich der Territorialitätsgrundsatz zwar für die Parteivertretung die Regel bleibt, das Plädieren vor Gericht jedoch nicht an diese Voraussetzung geknüpft ist.
Ich möchte noch bemerken, daß dort, wo das Anwaltsmonopol nicht besteht, das heißt am häufigsten vor den Sozialgerichten, die Anwendung des Territorialitätsgrundsatzes offensichtlich entfällt.
Nun haben wir es vorliegend jedoch nicht mit einem Rechtsanwalt, sondern einem freien Rechtsbeistand zu tun, dessen Aufgabe darin besteht, seinen Mandanten vor einem Gericht Beistand zu leisten, dessen Verfahrensordnung keine anwaltliche Vertretung verlangt.
Aus diesem Grunde tragen die vom Vertreter der Regierung der Bundesrepublik Deutschland vor Gericht abgegebenen Erklärungen, so interessant sie auch sein mochten, meines Erachtens nicht entscheidend zur Lösung des Ihnen gestellten Problems bei.
Und noch etwas: Wenn es die niederländische Regierung für notwendig erachten sollte, von den außerhalb des Landes ansässigen Prozeßbevollmächtigten die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen im Hinblick auf die praktischen Notwendigkeiten, auf eine reibungslose Rechtspflege zu verlangen, so könnte sie meines Erachtens auf eine Regelung zurückgreifen, die eine Zustellungsanschrift bei einem im Gerichtsbezirk ansässigen Rechtsanwalt oder Rechtsbeistand vorschreibt.
Ein solches Erfordernis, das die Übermittlungen der Akten und den Verfahrensablauf erleichtern könnte, würde einerseits den Rechtsunterworfenen selbst eine Garantie bieten, andererseits aber nicht gegen den Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs verstoßen. Es würde keine unzulässige Diskriminierung herbeiführen.
Geht übrigens nicht unsere eigene Verfahrensordnung gerade von diesem System aus, denn die in einem der Mitgliedstaaten zugelassenen Rechtsanwälte sind berechtigt, den Parteien vor dem Gerichtshof beizustehen sowie sie dort zu vertreten, und Artikel 38 Absatz 2 der Verfahrensordnung bestimmt dazu: „In der Klageschrift ist ferner für die Zwecke des Verfahrens eine Zustellungsanschrift am Ort des Gerichtssitzes anzugeben. Hierbei ist eine Person zu benennen, die ermächtigt ist und sich bereit erklärt hat, die Zustellungen entgegenzunehmen“?
Nun verpflichtet die Beroepswet in Artikel 90 zur Angabe einer Zustellungsanschrift, wenngleich nicht zu Lasten der Prozeßbevollmächtigten, sondern der Parteien selbst, die außerhalb der Niederlande wohnen und ein niederländisches Sozialgericht anrufen wollen.
Sicherlich ist es aber nicht unsere Sache zu entscheiden, ob diese Vorschrift gegebenenfalls auf einen in Belgien ansässigen freien Rechtsbeistand angewandt werden könnte. Dies ist vielmehr eine Frage der Auslegung des staatlichen Rechts, die erforderlichenfalls der Centrale Raad van Beroep zu klären hätte.
So kann ich mich jetzt der Frage zuwenden, ob die Artikel 59 und 60 des Vertrages unmittelbare Wirkungen erzeugen.
Unabhängig von den Kriterien, die eine frühere, bereits gefestigte Rechtsprechung erarbeitet hat, findet die Lösung dieses Problems eine kräftige Stütze in den Entscheidungsgründen Ihres Urteils Reyners vom 21. Juni dieses Jahres.
Vor diesem bereits sehr klärenden Hintergrund hege ich, meine Herren, um so weniger Zweifel daran, die unmittelbare Anwendbarkeit der Artikel 59 und 60 Absatz 3 zu bejahen, als Herr Generalanwalt Warner in allerjüngster Zeit in diesem Sinne klar und bestimmt Partei ergriffen hat.
Im übrigen werden mir alle diese übereinstimmenden Gesichtspunkte gestatten, mich kurz zu fassen.
Ich möchte daran erinnern, daß nach Ihrer Rechtsprechung eine gemeinschaftsrechtliche Vorschrift, soll ihr die unmittelbare Wirkung zuerkannt werden, den Kriterien der Klarheit und Genauigkeit gerecht werden muß.
Artikel 59 entspricht mit Sicherheit diesen Voraussetzungen, da er den Staaten untersagt, Gemeinschaftsangehörigen, die Dienstleistungen erbringen und in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen oder Verwaltungspraktiken entgegenzuhalten, die Beschränkungen für die Erbringung von Dienstleistungen auf ihrem Gebiet darstellen. Damit verbietet er sogar, diese Dienstleistungen von anderen Voraussetzungen abhängig zu machen als bei im Inland ansässigen eigenen Staatsangehörigen.
Ebenso enthält der dritte Absatz des Artikels 60 eine unzweideutige Verpflichtung.
Die fragliche gemeinschaftsrechtliche Bestimmung muß zweitens unbedingt und vollständig sein. Weder Artikel 59 noch Artikel 60 Absatz 3 enthalten, abgesehen von der Frist, binnen deren sie in Kraft treten sollten, irgendeine Bedingung, von deren Erfüllung ihre unmittelbare Anwendbarkeit abhinge. Zwar sind bestimmte Ausnahmen vom freien Dienstleistungsverkehr nach den Artikeln 55 und 56 vorgesehen, die in dem uns beschäftigenden Bereich anwendbar sind, doch sind diese, wie Sie wissen, durchaus klar begrenzt, sie sind eng auszulegen und können die unmittelbare Wirkung der Artikel 59 und 60 nicht in stärkerem Maße behindern als in dem von Ihnen entschiedenen Fall des Artikels 52.
Wenn endlich die Bejahung der unmittelbaren Wirkung einer gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung voraussetzt, daß deren Ausführung nicht vom Erlaß späterer staatlicher oder gemeinschaftsrechtlicher Maßnahmen abhängig sein darf, so ist der Umstand, daß nach Artikel 63 des Vertrages der Rat, wie übrigens auch im Falle des Niederlassungsrechts, ein allgemeines Programm zur Beseitigung der Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs auszuarbeiten hat, nicht geeignet, die hier behandelten Artikel des Vertrages des Charakters unmittelbar anwendbarer Normen zu berauben.
Auch hat die Annahme dieses Programms im Dezember 1961, das die Zeitfolge für die Beseitigung der verschiedenen Beschränkungen je nach Art der Tätigkeit wie auch die Voraussetzungen für diese Beseitigung grundsätzlich festsetzte, die Lage völlig bereinigt.
Es bleibt noch der Einwand, Artikel 63 Absatz 2 habe durch die Ermächtigung des Rates zum Erlaß von Richtlinien zur Liberalisierung einer bestimmten Gruppe von Dienstleistungen die in Artikel 59 enthaltene grundsätzliche Verpflichtung vom Erlaß gemeinschaftlicher Rechtsakte abhängig gemacht.
Aber, meine Herren, wir befinden uns insoweit in einer Rechtslage, die sich sehr genau mit jener deckt, die wir in der Rechtssache Reyners vorgefunden haben.
Ganz genauso wie Artikel 52 — und in ähnlichen Worten — gebietet Artikel 59 die schrittweise Beseitigung der Beschränkungen oder Diskriminierungen während der Übergangszeit. Zwar ermächtigt er den Rat, diese Liberalisierung durch Richtlinien herbeizuführen, doch begründet er nichtsdestoweniger — und dies läßt sich nicht im geringsten bestreiten — die Pflicht, ein bestimmtes Ergebnis herbeizuführen, die bei Ablauf der Übergangszeit erfüllt sein mußte und deren Erfüllung durch den Erlaß von Richtlinien zwar erleichtert worden wäre, von dieser aber nicht abhängig sein durfte.
Zu dieser schrittweisen Ausführung ist es nicht gekommen. Nehmen wir dies zur Kenntnis. Aber die Tatsache ihrer Verzögerung durch den Rat, so haben Sie übrigens in der Rechtssache Reyners entschieden, „läßt die Verpflichtung als solche nach Ablauf der für ihre Erfüllung vorgeschriebenen Frist unberührt“.
Diese Auslegung, dies haben Sie ebenfalls bestätigt, „entspricht Artikel 8 Absatz 7 des Vertrages, wonach das Ende der Übergangszeit gleichzeitig der Endtermin für das Inkrafttreten aller im Vertrag vorgesehenen Vorschriften sowie für die Durchführung aller Maßnahmen ist, die zur Errichtung des Gemeinsamen Marktes gehören“.
Somit sind, jedenfalls was die wirksame Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes angeht, die im Kapitel über den freien Dienstleistungsverkehr vorgesehenen Richtlinien überflüssig geworden. Zwar sind sie auch weiterhin von Interesse, jedoch nur, soweit sie die tatsächliche Erbringung dieser Dienstleistungen erleichtern sollen.
Es hat, meine Herren, genügt, in dieser Weise auf die tragenden Säulen Ihrer Entscheidung in der Rechtssache Reyners hinzuweisen, um zu dem Ergebnis zu gelangen, daß die Artikel 59 und 60 Absatz 3 genauso wie Artikel 52 seit dem Ablauf der Übergangszeit unmittelbare Wirkung haben.
In der Reihenfolge der vom holländischen Richter gestellten Fragen beantrage ich sonach, für Recht zu erkennen:
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Die Artikel 59 und 60 Absatz 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sind seit dem Ende der Übergangszeit unmittelbar anwendbare Vorschriften, auch wenn für bestimmte Bereiche die in Artikel 63 Absatz 2 vorgesehenen Richtlinien nicht ergangen sein sollten. |
2. |
Die Artikel 59 und 60 Absatz 3 bezwecken die Beseitigung aller Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs, unter anderem auch solcher, die ein Mitgliedstaat nur deshalb auferlegt, weil der Erbringer dieser Dienstleistungen im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates wohnt oder dort niedergelassen ist. Somit ist das Erfordernis eines Wohnsitzes im Staatsgebiet des ersten Staates, das — auch abgesehen von irgendeinem Staatsangehörigkeitserfordernis — für Prozeßbevollmächtigte und Rechtsbeistände gilt, um diesen den Beistand der Rechtsunterworfenen vor bestimmten staatlichen Gerichten zu ermöglichen, eine durch die genannten Vertragsbestimmungen verbotene Beschränkung. |
( 1 ) Aus dem Französischen übersetzt.