SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS KARL ROEMER
VOM 18. MAI 1972
Herr Präsident,
meine Herren Richter!
In der Vorlagesache, zu der ich heute Stellung nehme, geht es wieder einmal um die Auslegung der Verordnung Nr. 3 des Rates über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (ABl. 1958, S. 561). Auf Ersuchen der Cour d'appel Paris soll folgende Frage geklärt werden:
„Ist nach der Verordnung Nr. 3 der EWG für die Feststellung, ob Arbeitslosenzeiten im Hinblick auf die Bestimmung der Ansprüche eines Wanderarbeitnehmers auf Invalidenrente Arbeitnehmerzeiten gleichgestellt werden können, auf die die Gleichstellung regelnden Bestimmungen der Rechtsordnung, nach der Arbeitslosenzeiten zurückgelegt worden sind, oder der Rechtsordnung des Landes, von dem die Invalidenrente beansprucht wird, abzustellen?“
Dazu muß man zunächst wissen, daß der Kläger des Ausgangsverfahrens, ein italienischer Staatsbürger, jahrelang abwechslungsweise in Italien und in Frankreich eine bezahlte Tätigkeit ausübte. Er war in den Jahren 1938 bis 1946 in Italien beschäftigt, danach von 1947 bis 1951 in Frankreich, dann wieder von 1952 bis 1955 in Italien, anschließend von 1956 bis 1959 in Frankreich und endlich wiederum von 1961 bis 1963 in Italien. Wegen Krankheit verrichtete der Kläger daraufhin anscheinend keine bezahlte Arbeit mehr, sieht man von einer kurzen Beschäftigungsperiode ab, die in der Zeit vom 12. Juni bis 24. Juli 1965 in Italien zurückgelegt worden sein soll.
Nachdem mit Wirkung vom 11. Juni 1965 die Invalidität von Herrn Murru anerkannt worden war, reichte er mit Rücksicht auf seine französischen Beschäftigungszeiten im Juni 1965 bei der Caisse régionale d'assurance Maladie de Paris einen Antrag auf Gewährung französischer Invalidenrente ein. Dieser Antrag hatte indessen keinen Erfolg. Nach französischem Sozialversicherungsrecht (Artikel 250 des Code de la Sécurite sociale — alte Fassung) gilt nämlich die Voraussetzung, daß ein Antragsteller während der letzten zwölf Monate vor der Feststellung der Invalidität 480 bezahlte Arbeitsstunden und für die Zeit zwischen dem Anfang des zwölften sowie dem Anfang des neunten Monats vor der Feststellung der Invalidität 120 bezahlte Arbeitsstunden nachzuweisen hat bzw. daß er sich zu entsprechenden Zeiträumen in einer gleichgestellten Situation (Krankheit mit Entschädigung; festgestellte unfreiwillige Arbeitslosigkeit) befand. Den Nachweis der erforderlichen Arbeitszeit konnte Herr Murru — wie schon nach der eingangs gegebenen Schilderung des Sachverhalts klar ist — nicht erbringen. Was die Arbeitslosigkeit angeht, so war er zwar nachweisbar in der Zeit vom 25. Juli bis 27. November 1964 bei einem Arbeitsamt in Italien, wo er von 1961 an seinen Wohnsitz hatte, als Arbeitssuchender eingetragen. Es handelte sich aber nicht um eine entschädigte Arbeitslosigkeit, und derartige Perioden können nach Auskunft der italienischen Sozialversicherung aufgrund des italienischen Rechts im Hinblick auf die Invalidenrente einer Arbeitszeit nicht gleichgestellt werden. Da es jedoch nach der Ansicht der Caisse régionale darauf ankommt, daß eine Zeit der Arbeitslosigkeit bezahlter Arbeit nach der Rechtsordnung, nach der sie zurückgelegt worden ist, gleichgestellt wird, mußte der Antrag von Herrn Murru zurückgewiesen werden.
Damit wollte sich dieser freilich nicht abfinden. Er wandte sich vielmehr an die Commission de première instance du contentieux de la Sécurité sociale et de la Mutualité sociale agricole de Paris und machte vor ihr zur Verteidigung seines Anliegens geltend, nach französischem Recht seien die Voraussetzungen des Artikels 250 des Code de la Sécurité sociale schon erfüllt, wenn ein Antragsteller als Arbeitsloser lediglich registriert worder ist. Jeder Tag derartiger Arbeitslosigkeit werde, selbst wenn eine Arbeitslosenunterstützung nicht gezahlt worden sei, nach der Rechtsprechung der Cour de Cassation (Urteil vom 13. 4. 1967) 6 Arbeitsstunden gleichgestellt. Diese Rechtslage müsse nach den Vorschriften der Verordnung Nr. 3 über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer für die Beurteilung eines Antrags auf französische Invalidenrente maßgeblich sein, und zwar auch dann, wenn die Arbeitslosigkeit in einem anderen Mitgliedstaat registriert worden ist.
Als das Begehren von Herrn Murru vor der Commission de première instance gleichfalls erfolglos blieb, wandte er sich schließlich an die Cour d'appel Paris. Diese Instanz setzte dann mit Rücksicht darauf, daß sich der Kläger zur Begründung seines Anspruchs auch auf Vorschriften des Gemeinschaftsrechts berufen hat, durch Urteil vom 1. Dezember 1971 das Verfahren aus und legte die bereits erwähnte Frage zur Vorabentscheidung vor.
Zur Beantwortung dieser Frage, zu der nur schriftliche Bemerkungen von den Parteien des Ausgangsverfahrens und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften eingegangen sind, und zum Verständnis des Systems der Verordnung Nr. 3 muß vorweg bemerkt werden, daß es Mitgliedstaaten gibt, in denen sich der Betrag der Invalidenrente nach der Versicherungsdauer bemißt (das ist in Italien der Fall), während andere Mitgliedstaaten (wie z. B. Frankreich) die Invalidenrente nicht von der Versicherungsdauer abhängig machen. Ist ein Arbeitnehmer in mehreren Mitgliedstaaten gegen Invalidität versichert gewesen und bemißt einer dieser Mitgliedstaaten den Leistungsbetrag nach der Versicherungsdauer, so ist gemäß Artikel 26 Absatz 1 der Verordnung Nr. 3 für die Bestimmung des Leistungsanspruchs das Kapitel 3 der Verordnung Nr. 3 anwendbar (also die Vorschriften über Alters- und Hinterbliebenenrenten).
Diese auch für den gegenwärtigen Fall maßgebliche Verweisung bedeutete folgendes. Gemäß Artikel 27 der Verordnung Nr. 3 werden für den Erwerb des Leistungsanspruches „die nach den Rechtsvorschriften jedes Mitgliedstaates zurückgelegten Versicherungszeiten und gleichgestellten Zeiten zusammengerechnet, soweit sie sich nicht überschneiden“. Alsdann bestimmt aufgrund von Artikel 28 der Verordnung Nr. 3 der Versicherungsträger jedes dieser Mitgliedstaaten „nach seinen Rechtsvorschriften, ob die betreffende Person unter Berücksichtigung der in Artikel 27 vorgesehenen Zusammenrechnung der Zeiten die Voraussetzungen für den Anspruch auf die in diesen Rechtsvorschriften vorgesehenen Leistungen erfüllt“. Besteht ein Leistungsanspruch, so bestimmt jeder in Betracht kommende Träger „zunächst den Betrag der Leistung, auf welche die betreffende Person Anspruch hätte, wenn sämtliche nach Artikel 27 zusammengerechneten Versicherungszeiten und gleichgestellten Zeiten ausschließlich nach seinen eigenen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären“. Daraufhin setzt der Versicherungsträger aufgrund dieses Betrages „den geschuldeten Betrag nach dem Verhältnis fest, das zwischen der Dauer der nach seinen Rechtsvorschriften vor Eintritt des Versicherungsfalles zurückgelegten Zeiten und der Gesamtdauer der nach den Rechtsvorschriften aller beteiligten Mitgliedstaaten vor Eintritt des Versicherungsfalles zurückgelegten Zeiten besteht“.
Fragt man sich nun — und das ist für das vorlegende Gericht von besonderer Wichtigkeit —, wie gleichgestellte Zeiten zu bestimmen sind, so kommt es dafür — die Kommission betont es mit Recht — maßgeblich auf die in Artikel 1 Buchstabe r der Verordnung Nr. 3 enthaltene Definition an. Danach bedeutet der Ausdruck „gleichgestellte Zeiten“„die den Versicherungszeiten oder gegebenenfalls den Beschäftigungszeiten gleichgestellten Zeiten, die in den Rechtsvorschriften, nach denen sie zurückgelegt worden sind, bestimmt sind, und zwar soweit sie darin als den Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten gleichwertig anerkannt sind“. Offensichtlich macht die Auslegung dieses Textes keine Schwierigkeiten. Schon nach seinem Wortlaut ist ganz klar, daß über die Gleichstellung allein die Rechtsordnung des Mitgliedstaates bestimmt, in dem die zu beurteilenden Zeiten zurückgelegt worden sind. Das hat der Gerichtshof mit Deutlichkeit auch bereits in dem Urteil der Rechtssache 14/67 (Slg. 1967, 452) ausgesprochen. Dort lesen wir nämlich: „Diese doppelte Verweisung auf die innerstaatlichen Rechtsvorschriften spricht sehr deutlich den Grundsatz aus, daß die genannte Verordnung, soweit sie sich auf „gleichgestellte Zeiten“ bezieht, das innerstaatliche Recht weder ändern noch ergänzen soll, wenn es sich im Rahmen der Bestimmungen der Artikel 48 bis 51 des Vertrages hält. Insbesondere aus dem Satzteil „… soweit sie … als … gleichwertig anerkannt sind“ folgt, daß die Verordnung auch auf die Voraussetzungen verweist, die nach innerstaatlichem Recht erfüllt sein müssen, damit eine bestimmte Zeit als den eigentlichen Versicherungszeiten gleichwertig anerkannt werden kann.“
Wie die Kommission mit Recht hervorhebt, läßt sich insofern ein entscheidender Grundsatz auch aus Artikel 51 des Vertrages entnehmen, ist in ihm doch ausdrücklich die Rede von der „Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften berücksichtigten Zeiten“. Außerdem kann ein analoges Prinzip den in Artikel 1 Buchstabe p und q der Verordnung Nr. 3 gegebenen Definitionen entnommen werden. Dort ist ebenfalls für die Qualifizierung von „Versicherungszeiten“ und „Beschäftigungszeiten“ eindeutig auf die Rechtsvorschriften verwiesen, nach denen die zu beurteilenden Zeiten zurückgelegt worden sind.
Der Kläger des Ausgangsverfahrens beruft sich demgegenüber ohne Überzeugungskraft auf den bereits erwähnten Artikel 28 der Verordnung Nr. 3 und das in Absatz 1 Buchstabe a enthaltene Gebot, der Träger jedes Mitgliedstaates bestimme nach seinen Rechtsvorschriften, ob die Voraussetzungen für den Anspruch auf die in diesen Rechtsvorschriften vorgesehenen Leistungen erfüllt sind. Tatsächlich ist nach dem Gesamtsystem der Artikel 27 und 28 ganz klar, daß die genannte Vorschrift erst zur Anwendung kommt, nachdem ermittelt worden ist (und zwar aufgrund der Rechtsvorschriften des jeweils in Betracht kommenden Mitgliedstaates), welche Zeiten als gleichgestellte Zeiten gelten können. Das folgt aus Artikel 27, wo von einer Zusammenrechnung der „nach den Rechtsvorschriften jedes Mitgliedstaates zurückgelegten Versicherungszeiten und gleichgestellten Zeiten“ die Rede ist. Das ergibt sich auch aus Artikel 28 Absatz 1 Buchstabe a, in dem von der „Berücksichtigung der in Artikel 27 vorgesehenen Zusammenrechnung der Zeiten“ gesprochen wird. Das hat der Gerichtshof im übrigen gleichfalls schon im Urteil 14/67 klargestellt, indem er hervorhob, der Artikel 28 der Verordnung Nr. 3 bestimme den Begriff der gleichgestellten Zeiten ebensowenig wie Artikel 27, insofern sei vielmehr auf Artikel 1 Buchstabe r zurückzugreifen.
Schließlich ist zugunsten der von der Kommission vertretenen Auffassung noch darauf hinzuweisen, daß in der Verordnung Nr. 3 überall dort, wo für die Beurteilung eines Anspruchs fingiert wird, bestimmte Zeiten seien in einem Mitgliedstaat zurückgelegt worden und nach dessen Rechtsordnung zu bewerten, ausdrückliche Anordnungen dieses Inhalts vorhanden sind. Insofern kann etwa auf die Vorschrift des Artikels 33 über die Arbeitslosigkeit verwiesen werden. In ihrem Absatz 2 lesen wir: „Voraussetzung ist, daß diese Zeiten als Versicherungszeiten oder gleichgestellte Zeiten anzurechnen wären, wenn die Arbeitnehmer oder ihnen Gleichgestellte sie im Hoheitsgebiet des ersten Staates zurückgelegt hätten“. Entsprechend ist Artikel 33 Absatz 3 abgefaßt. Er bestimmt: „Hängt nach den in einem Mitgliedstaat geltenden Rechtsvorschriften über ein beitragsfreies System die Leistungsgewährung davon ab, daß Beschäftigungszeiten oder gleichgestellte Zeiten oder Wohnzelten zurückgelegt worden sind, so rechnet der zuständige Träger, soweit erforderlich, die in den Hoheitsgebieten anderer Mitgliedstaaten zurückgelegten Zeiten und gleichgestellten Zeiten an, als ob es Beschäftigungszeiten oder gleichgestellte Zeiten oder Wohnzeiten wären, die nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates zurückgelegt worden sind.“ — Die Artikel 27 und 28 dagegen enthalten derartige Formulierungen, soweit es um die Anspruchsbegründung und die Berücksichtigung gleichgestellter Zeiten geht, offensichtlich nicht.
Entgegen der Ansicht des Klägers, der für seinen Standpunkt außer auf Artikel 28 der Verordnung Nr. 3 eigentlich nur recht vage auf den Geist und die Prinzipien der Verordnung Nr. 3 sowie die Notwendigkeit einer weitherzigen Auslegung im Interesse der begünstigten Wanderarbeitnhmer hinweisen konnte, ist demnach in Übereinstimmung mit der Kommission und der Beklagten des Ausgangsverfahrens auf die vorgelegte Frage wie folgt zu antworten:
Für die Beurteilung der Frage, ob bestimmte Zeiten, insbesondere Zeiten der Arbeitslosigkeit, hinsichtlich eines Anspruches auf Invalidenrente als gleichgestellte Zeiten anzusehen und Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten gleichwertig sind, ist gemäß Artikel 1 Buchstabe r der Verordnung Nr. 3 die Rechtsordnung des Mitgliedstaates maßgeblich, nach der die betreffenden Zeiten zurückgelegt worden sind.