Schlußanträge des Generalanwalts,

HERRN MAURICE LAGRANGE

Aus dem Französischen übersetzt

Herr Präsident, meine Herren Richter,

Der klagende Verband, ein niederländischer Verband des Kohlenbergbaus im Sinne von Artikel 48 des Vertrages vom 18. April 1951, beantragt wegen Vertragsverletzung und Ermessensmißbrauchs die Nichtigerklärung (ich zitiere aus der Klageschrift) „der Entscheidung der Hohen Behörde betreffend die steuerfreien Bergmannsprämien an Untertagearbeiter (‚Bergmannsprämie’ oder auch ‚Schichtprämie’), welche die westdeutschen Kohlenbergwerke ihren Untertagearbeitern seit dem 15. Februar 1956 gewähren und die aus öffentlichen Mitteln der Bundesrepublik finanziert werden. Diese Entscheidung“, so heißt es weiter in der Klageschrift, „ist von der Hohen Behörde nicht veröffentlicht worden“.

Außer der Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung wird beantragt, der Gerichtshof möge:

„erklären, daß die Hohe Behörde verpflichtet ist, durch Entscheidung festzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland durch die Einführung einer steuerfreien Prämie aus öffentlichen Mitteln an Untertagearbeiter im Bergbau ihren Verpflichtungen aus dem Vertrag nicht nachgekommen und mithin gehalten ist, diese Maßnahme aufzuheben“.

Die Hohe Behörde läßt sich nur hilfsweise zur Hauptsache ein, erbebt jedoch, wie Sie wissen, verschiedene Einwendungen zur Zulässigkeit der Klage, unter anderen die, es fehle überhaupt an einer Entscheidung. Diese Frage ist daher an erster Stelle zu untersuchen.

Sie muß untersucht werden einmal im Hinblick auf Artikel 33 (positive Entscheidungen) und sodann im Hinblick auf Artikel 35 (Untätigkeitsklage).

I

Zunächst: Liegt überhaupt eine Entscheidung der Hohen Behörde im Sinne von Artikel 14 des Vertrages vor, die der Kläger mit einer auf Artikel 33 gestützten Klage anfechten kann?

Eine solche Entscheidung ist nicht vorgelegt worden. Es handelt sich vielmehr nach den Ausführungen des klagenden Verbandes, wie wir gesehen haben, um eine nicht veröffentlichte Entscheidung.

Ihr Vorhandensein sei allerdings nachgewiesen durch das Schreiben, das der Vizepräsident der Hohen Behörde in Beantwortung einer Anfrage vom 11. Juli des gleichen Jahres am 7. August 1957 an den Verband gerichtet hat. Dieses Schreiben müsse als Zustellung angesehen werden, die eine Anrufung des Gerichtshofes nach Absatz 3 des Artikels 33 gestatte. Der Text selbst der Entscheidung ist dem Kläger, trotz einem entsprechenden Antrag an die Hohe Behörde vom 22. August 1957, der nicht beantwortet wurde, nie mitgeteilt worden. Dies beweist, nebenbei gesagt, daß es, im Gegensatz zu der Auffassung des Klägers, an einer Zustellung fehlt; es kommt hierauf jedoch nicht an, da diese Frage nur für die Einhaltung der Klagefrist von Bedeutung wäre.

Nach Ansicht des Klägers liegt also eine Entscheidung vor, deren Inhalt zwar bekannt ist, deren Wortlaut und Datum dem Kläger bei Klageerhebung aber unbekannt waren. In seiner Erwiderung erklärt er, nachdem er Kenntnis erhalten hatte von dem Briefwechsel zwischen der Bundesregierung und der Hohen Behörde, der von der Hohen Behörde vorgelegt worden war, die Entscheidung sei in einem Schreiben des Präsidenten der Hohen Behörde an den Bundeswirtschaftsminister vom 21. Juni 1957 zu erblicken, in dem der Standpunkt der Hohen Behörde zur Rechtmäßigkeit der Schichtprämie klar zum Ausdruck kommt.

Nach Ansicht der Hohen Behörde ist eine Entscheidung nie ergangen. Diesen Standpunkt hat sie auch vertreten in ihrem Schreiben an die niederländische Regierung vom 7. Oktober 1957, die von der Hohen Behörde ebenfalls eine „Abschrift der endgültigen Entscheidung“ über die von der Bundesregierung gewährte Schichtprämie für Untertagearbeiter erbeten hatte: „Da eine Entscheidung nicht ergangen ist“, heißt es in diesem Schreiben, „kann eine Abschrift davon der niederländischen Regierung nicht übermittelt werden.“

Meine Herren, auf die dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Tatsachen, die Ihnen vollständig bekannt und die unter den Parteien unstreitig sind, möchte ich nicht zurückkommen. Sie sind festgehalten in dem bei den Akten befindlichen Briefwechsel zwischen der Bundesregierung und der Hohen Behörde sowie zwischen der Hohen Behörde und dem Kläger und schließen jede Diskussion aus. Es ist in diesem Zusammenhang allerdings zu unterscheiden einerseits zwischen dem Rechtsstandpunkt eines jeden der Beteiligten und andererseits dem Verfahren, das jede dieser Stellungnahmen auf Grund des Vertrages nach sich zieht.

In rechtlicher Hinsicht werden zur Frage der Rechtmäßigkeit der Schichtprämie drei verschiedene Standpunkte vertreten: Nach Ansicht der Bundesregierung (die im übrigen am Rechtsstreit nicht beteiligt ist, auch nicht als Nebenintervenientin) kann die Frage nur im Lichte des Artikels 67 des Vertrages (Beeinträchtigung der Wettbewerbsbedingungen) und nicht des Artikels 4 geprüft werden. Es handele sich nicht um eine nach Artikel 4 verbotene Beihilfe, und die Bedingungen für einen Eingriff der Hohen Behörde nach Artikel 67 seien nicht erfüllt. Lediglich aus gutem Willen und ohne ihren Rechtsstandpunkt aufzugeben, habe die Bundesregierung vom 18. Juni 1957 ab dem Bergbau eine Sonderlast zum Ausgleich für die Vorteile auferlegt, die aus der Finanzierung der Schichtprämie mit öffentlichen Mitteln erwachsen.

Nach Ansicht der Hohen Behörde stellt die Schichtprämie eine nach Artikel 4 des Vertrages verbotene Beihilfe dar, soweit sie nicht durch eine angemessene und gleichwertige, vom Bergbau zu tragende Belastung aufgewogen wird; eine Verletzung des Vertrages würde dann nicht mehr vorliegen.

Nach Ansicht des Klägers schließlich ist die Schichtprämie als solche rechtswidrig und durch keinerlei Ausgleichsbelastung mit dem Vertrag in Einklang zu bringen.

Was das Verfahren angeht, so scheint insoweit allgemeine Übereinstimmung zu herrschen: Wenn die Hohe Behörde der Ansicht ist, daß durch die Maßnahmen der Bundesregierung eine vertragswidrige Lage entstanden ist, so steht ihr nur das in Artikel 88 vorgesehene Verfahren zu Gebote.

Dieses Verfahren ist tatsächlich eingeleitet worden. Artikel 88 bestimmt:

„Ist die Hohe Behörde der Auffassung, daß ein Staat einer ihm nach diesem Vertrag obliegenden Verpflichtung nicht nachgekommen ist, so stellt sie diese Verletzung durch eine mit Gründen versehene Entscheidung fest; sie hat dem Staat zuvor Gelegenheit zur Äußerung zu geben…

Die im letzten Satz genannte Voraussetzung ist am 2. Mai 1956 erfüllt worden. Die der Bundesregierung zur Äußerung gesetzte Frist, die ursprünglich Ende Juni 1956 enden sollte, ist wiederholt verlängert worden; später ist davon nicht mehr die Rede. Der Briefwechsel wurde aber fortgesetzt, um eine Lösung im gemeinsamen Einvernehmen zu finden. Auf diese Weise sind die zwei wesentlichen Schreiben entstanden:

1.

das Schreiben des Bundeswirtschaftsministers vom 18. Juni 1957, der, ohne den Rechtsstandpunkt seiner Regierung zur Frage der Rechtmäßigkeit der Schichtprämie aufzugeben, erstmalig, wie wir gesehen haben, eine Lösung ins Auge faßt, die darin besteht, dem Bergbau eine entsprechende Belastung aufzuerlegen, etwa durch den Fortfall der Rückerstattung der Arbeitgeberbeiträge zur Knappschaftskasse, die dem Bergbau bis dahin zugute kam;

2.

das Schreiben der Hohen Behörde vom 21. Juni 1957, die auf diese Frage eingeht und erklärt, der vorgesehene Wegfall der Rückerstattung stelle, ihrer Ansicht nach, eine Ausgleichsbelastung dar, die die Beibehaltung der Schichtprämie gestatte, vorausgesetzt freilich, daß eine Reihe von Bedingungen erfüllt würde, ohne die die Schichtprämie weiterhin als rechtswidrig angesehen werden müsse.

Danach wurde, wie Sie wissen, der Briefwechsel fortgesetzt; sein Ende ist mir nicht bekannt.

Es steht also fest und wird auch vom Kläger anerkannt, daß das Verfahren nach Artikel 88 in seinem ersten Stadium steckengeblieben ist, das darin besteht, dem betroffenen Staat Gelegenheit zur Äußerung zu geben; es war bis zur Klageerhebung noch nicht zu einer Entscheidung gekommen, die eine Vertragsverletzung feststellt; eine solche Entscheidung ist im übrigen auch bis zur Stunde noch nicht ergangen.

Es ist daher allein von Bedeutung, ob das Schreiben der Hohen Behörde vom 21. Juni 1957 eine nach Artikel 33 anfechtbare „Entscheidung“ im Sinne von Artikel 14 des Vertrages darstellt.

Wie mir scheint, meine Herren, drängt sich eine verneinende Antwort auf.

Ohne Zweifel nicht aus Gründen der Form. Ich glaube, daß ein übertriebener Formalismus insoweit schädlich wäre, und teile damit ganz allgemein die Auffassung mehrerer Autoren, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben, insbesondere die von Steindorff in „Die Nichtigkeitsklage im Recht der EGKS“, 1952, Seite 20 ff., und Heinrich Matthies in „La décision de la Haute Autorité en tant qu'objet du recours en annulation“, Inhalt eines Vortrags vor dem Kongreß in Stresa. Die Maßnahmen der Hohen Behörde können in vielfacher Form getroffen werden: durch Verordnungen oder allgemeine Entscheidungen, die vom Kollegium der Hohen Behörde beschlossen und im „Amtsblatt“ mit der Unterschrift des „für die Hohe Behörde“ handelnden Präsidenten veröffentlicht werden; durch einfache Schreiben, die vom Präsidenten der Hohen Behörde in deren Namen an den Empfänger gerichtet, die aber auch im „Amtsblatt“ veröffentlicht werden und deren Inhalt, wenn nicht auch sogar deren Fassung, gleichfalls durch kollegialen Beschluß festgelegt werden muß; durch Einzelgenehmigungen, die einfach zugestellt werden usw. Die Terminologie des Vertrages selbst ist nicht immer einheitlich, da man zum Beispiel nebeneinander die Ausdrücke „Beschluß“ (délibération) und „Entscheidung“ (décision) findet. Schließlich ist da noch die heikle Frage der Entscheidungen, die kraft Delegation oder auf Grund übertragener Verordnungsgewalt ergangen sind, zum Beispiel auf dem Gebiet der Rechtsstellung der Bediensteten.

Ich selbst bin versucht, mich der Auffassung von Steindorff (a. a. O., S. 25) anzuschließen, wonach:

„mit dem gebotenen Ausschluß der rein tatsächlichen Akte aus dem Bereich der anfechtbaren Maßnahmen sich als Angriffsziel für die Nichtigkeitsklage jede nach außen rechtswirksame Maßnahme der Hohen Behörde [ergibt], die eine Machtausübung darstellt. Jede solche Maßnahme muß als Entscheidung oder Empfehlung im Sinne des Vertrages gelten“.

In der Tat ist festzuhalten, daß die Entscheidung und die Empfehlung die rechtmäßigen Formen darstellen, die im Vertrag vorgesehen sind für die Ausübung der der Hohen Behörde im Vertrag übertragenen Befugnisse. Bei der Ausübung dieser Befugnisse sind gewisse Formvorschriften zu beachten, die eine Garantie sowohl für die Betroffenen als auch für Dritte darstellen (vorherige Anhörung des Beratenden Ausschusses oder des Rats, Begründung in gewissen Fällen, Veröffentlichung usw.). Es sind auch inhaltlich gewisse Bedingungen einzuhalten, das heißt, die Befugnisse sind in den vom Vertrag vorgesehenen Fällen und innerhalb der durch den Vertrag gezogenen Grenzen auszuüben.

Dies gilt insbesondere, wie im vorliegenden Falle, für die Eingriffe der Hohen Behörde. Eine ihrer Aufgaben besteht darin, ständig auf die Einhaltung der im Vertrag niedergelegten Verbote, wie derjenigen des Artikels 4, zu achten. Eine andere ist an die Befugnis geknüpft, zur Gestaltung der Marktbedingungen in den Wirtschaftsablauf einzugreifen: Sie handelt dann nach ihrem Ermessen, häufig nach freiem Ermessen, wenn auch innerhalb gewisser Grenzen. In der vorliegenden Rechtssache haben wir es mit dem ersten Fall zu tun: Es ist zu prüfen, ob die Maßnahmen der Bundesregierung mit dem Vertrag, insbesondere mit den Verboten des Artikels 4, zu vereinbaren sind oder nicht. Das ist die Frage, mit der sich die Hohe Behörde auseinanderzusetzen hat. Gelangt sie dabei zu einem negativen Ergebnis, so bleibt sie untätig. Vielleicht hat sie darin unrecht; in diesem Falle käme eine Untätigkeitsklage in Betracht (worauf ich gleich zu sprechen kommen werde). Im umgekehrten Falle greift sie ein, um die ihrer Ansicht nach rechtswidrige Lage zu beseitigen. Sie kann dies jedoch nur unter den im Vertrag niedergelegten Voraussetzungen tun, das heißt mit Hilfe einer Entscheidung oder Empfehlung auf Grund einer ausdrücklich übertragenen Befugnis und gemäß den im Vertrag geregelten Formen. Sollte eine solche Befugnis fehlen, dann müßte sie gemäß Artikel 95 Absatz 1 erst geschaffen werden. Es gibt daher letzten Endes in einem solchen Fall nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Untätigkeit oder Eingriff.

Es leuchtet nach alledem ein, daß eine bloße Stellungnahme, in der die Hohe Behörde die Gründe darlegt, die sie veranlassen, eine bestimmte Lage unter bestimmten Umständen nicht für vertragswidrig zu halten, ob sie in einem Schreiben zum Ausdruck gekommen ist oder in einer Erklärung an die Gemeinsame Versammlung oder in irgendeiner sonstigen Weise, keine „nach außen rechtswirksame Maßnahme ist, die eine Machtausübung darstellt“, um mit Steindorff zu sprechen: Sie stellt keine Entscheidung im Sinne der Artikel 14 und 33 dar.

Als entsprechende Beispiele aus den einzelstaatlichen Rechtsordnungen seien zwei Urteile des französischen „Conseil d'Etat“ angeführt: Merveilleux,26. Mai 1944, Rec, Seite 155, und Cer ciat,27. April 1953, Rec., Seite 195.

Eine weitere Auslegung hätte darüber hinaus mißliche Folgen. Die bei der Anwendung des Vertrages auftretenden Fragen sind häufig sehr heikel, und die Folgen eines eventuellen Eingriffs können sehr schwerwiegend sein (der vorliegende Rechtsstreit ist hierfür ein Beispiel). Es wäre nicht gut, wenn jede Äußerung einer Rechtsansicht durch die Hohe Behörde die Möglichkeit eröffnen würde, die Frage zu irgendeinem Zeitpunkt vor den Gerichtshof zu bringen, etwa anläßlich eines nichtveröffentlichten Briefes, hinsichtlich dessen folglich auch keine Klagefrist läuft. Die ständige Gefahr, daß auf diese Weise ein Rechtsstreit anhängig gemacht werden könnte, würde einen mitunter schon schwierigen Meinungsaustausch noch weiter belasten: Die Beteiligten sind auch ohne eine solche Regelung rechtlich ausreichend geschützt.

Bevor ich diesen Punkt abschließe, möchte ich noch auf ein Argument des Klägers eingehen, das dieser aus einem Urteil des Gerichtshofes der EGKS Nr. 8/55 vom 16. Juli 1956, „Fédération charbonnière de Belgique“, herleitet. In diesem Urteil ( 1 ) ist eine Erklärung als eine im Klagewege anfechtbare Entscheidung angesehen worden, die in einem Schreiben der Hohen Behörde an die belgische Regierung enthalten war und die den Entzug der Ausgleichszahlungen für den Fall androhte, daß bestimmte Bedingungen nicht erfüllt würden. Der wesentliche Unterschied zwischen jenem und diesem Rechtsstreit liegt aber darin, daß in der Sache „Fédéchar“ein Eingriff der Hohen Behörde vorlag. Dieser ergab sich aus einer förmlichen Entscheidung in Verbindung mit einigen Absätzen eines Schreibens, die in Wirklichkeit mit der Entscheidung zusammen eine Einheit bildeten und die der Gerichtshof, trotz der rechtlichen Unzuträglichkeiten eines solchen Verfahrens, in wenig formalistischer Weise wegen ihrer Natur auch als eine Entscheidung angesehen hat. Der angefochtene Absatz hatte zum Gegenstand eine der Eingriffsmodalitäten, die von der Hohen Behörde im Rahmen der ihr nach dem Übergangsabkommen zur Ausgestaltung der Ausgleichsregelung für belgische Kohle übertragenen Befugnisse beschlossen worden waren.

Im vorliegenden Falle fehlt es dagegen, wie wir gesehen haben, an einem Eingriff und damit auch an einer positiven Entscheidung.

II

Liegt aber nicht — und dies leitet über zur zweiten Frage — die Ablehnung eines Eingriffs vor in der Weise, daß die Klage als Untätigkeitsklage nach Artikel 35 angesehen werden kann?

Die im vor Hegenden Falle anwendbare Bestimmung wäre Artikel 35 Absatz 1, wo es heißt: „Ist die Hohe Behörde auf Grund einer Bestimmung dieses Vertrages oder der Durchführungsvorschriften verpflichtet, eine Entscheidung zu erlassen oder eine Empfehlung auszusprechen, und kommt sie dieser Verpflichtung nicht nach…“ Nach Ansicht des Klägers stellt die Einführung der Schichtprämie oder, genauer gesagt, deren Finanzierung aus öffentlichen Mitteln der Bundesrepublik eine nach Artikel 4 des Vertrages verbotene Beihilfe oder Subvention dar und verpflichtet die Hohe Behörde, eine Entscheidung zur Beseitigung dieses Zustands zu erlassen, was, wie wir gesehen haben, nur im Verfahren nach Artikel 88 erfolgen kann. Die Hohe Behörde wäre also gehalten, eine Entscheidung nach Artikel 88 zu erlassen.

In dieser Hinsicht liegen die Voraussetzungen dieses Rechtsstreits ähnlich wie in den Rechtssachen Nr. 7/54 und 9/54, „Groupe-ment des industries sidérurgiques luxembourgeoises“, die zu dem Urteil vom 23. April 1956 geführt haben. Auch damals vertrat der Kläger die Auffassung, daß eine bestimmte Lage, die seinerzeit durch das Vorgehen eines luxemburgischen Unternehmens der öffentlichen Hand geschaffen worden war, mit dem Vertrag nicht zu vereinbaren und die Hohe Behörde gehalten sei, diesen Zustand durch die Feststellung in einer begründeten Entscheidung gemäß Artikel 88 zu beenden, daß die luxemburgische Regierung die ihr nach dem Vertrag obliegenden Verpflichtungen nicht erfüllt habe, weil sie nicht die notwendigen Maßnahmen getroffen habe, um der rechtswidrigen Tätigkeit ein Ende zu setzen. Der einzige tatsächliche Unterschied ist der, daß sich im vorliegenden Fall die angebliche Pflichtverletzung aus einer Maßnahme der Regierung selbst ergäbe.

Dieses Urteil vom 23. April 1956 ist sehr interessant, weil es in der Frage, was im Sinne des Vertrages unter einer im Klagewege anfechtbaren Entscheidung zu verstehen sei, die hier vertretene Auffassung bestätigt. Sie wissen, daß in jener Rechtssache eine erste, auf Artikel 35 Absatz 3 gestützte Klage erhoben worden war gegen eine stillschweigende Entscheidung, die darin zu erblicken war, daß die Hohe Behörde trotz des Antrags des klagenden Verbandes, sie möge den von diesem für rechtswidrig erachteten Zustand beenden, zwei Monate untätig blieb. Die Hohe Behörde hatte es jedoch nach der Klageerhebung, und zwar dieses Mal ausdrücklich, abgelehnt, in einem der umstrittenen Punkte die von dem Kläger beantragte Entscheidung zu erlassen. Der Gerichtshof hat entschieden, daß diese ausdrückliche Weigerung die Rechtslage nicht verändert habe, die entstanden sei mit dem Ablauf von zwei Monaten nach der an die Hohe Behörde gerichteten Aufforderung (stillschweigende ablehnende Entscheidung). Eine Entscheidung über die zweite Klage, die für alle Fälle gegen die ausdrückliche Weigerung erhoben worden, sei, erübrigte sich daher. Die betreffende Stelle aus dem Urteil lautet (RsprGH II d 89):

„Der Gegenstand der Klage ist auch nicht das Schweigen der Hohen Behörde, sondern ihre Weigerung, die Entscheidung im Sinne von Artikel 14 des Vertrages zu erlassen, die sie nach Auffassung des Klägers hätte erlassen müssen.“

Damit ist ausgedrückt, daß die Entscheidungen der Hohen Behörde auf diesem Gebiet nur ergehen können entweder in Form von positiven Entscheidungen, die einen Eingriff anordnen (Art. 33), oder in Form von negativen Entscheidungen, die einen Eingriff ablehnen (Art. 35) ; wobei es im zweiten Fall nicht darauf ankommt, ob die Ablehnung ausdrücklich oder stillschweigend erfolgt.

Die Ablehnung muß aber ordnungsgemäß im Verfahren nach Artikel 35 festgestellt worden sein, das Heißt, es muß eine an die Hohe Behörde gerichtete Aufforderung vorausgehen. Der Wortlaut des Artikels 35 ist insoweit zwingend:

„Ist die Hohe Behörde auf Grund einer Bestimmung dieses Vertrages oder der Durchführungsvorschriften verpflichtet, eine Entscheidung zu erlassen oder eine Empfehlung auszusprechen, und kommt sie dieser Verpflichtung nicht nach, so können je nach Lage des Falles die Staaten,der Rat oder die Unternehmen und Verbände die Hohe Behörde mit der Angelegenheit befassen.

Diese Voraussetzung ist von hervorragender Bedeutung, und zwar nicht nur deswegen, weil mit der an die Hohe Behörde gerichteten Aufforderung die Frist von drei Monaten zu laufen beginnt, innerhalb deren der Betroffene den Gerichtshof anrufen kann, falls die Hohe Behörde keine Entscheidung erlassen sollte, sondern auch wegen des schwerwiegenden Inhalts eines solchen Schrittes: Der Hohen Behörde wird hierdurch Untätigkeit vorgeworfen, und sie wird dazu gezwungen, innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Frist zur Frage der Rechtmäßigkeit ihrer Untätigkeit Stellung zu nehmen; gleichzeitig wird ihr zu verstehen gegeben, daß unmittelbar darauf ein streitiges Verfahren eingeleitet werden kann. Das Verfahren des Artikels 35 dient also in diesem besonderen Fall dazu, der allgemeinen Regel von der Vorentscheidung der Verwaltung Geltung zu verschaffen.

Diese wesentliche Voraussetzung ist im vorliegenden Falle aber nicht erfüllt.

Sie ist offensichtlich nicht dadurch erfüllt, daß der Kläger ein Schreiben vom 11. Juli 1957 an die Hohe Behörde gerichtet hat, das mit folgendem Satz schließt:

„Wir wären Ihnen sehr zu Dank verbunden, wenn Sie uns die Entscheidung, die Sie in dieser Sache erlassen haben, übermitteln würden, damit wir unsere Haltung in dieser Frage festlegen können.“

Hierin kann nicht etwa eine Aufforderung an die Hohe Behörde erblickt werden, sie solle in Anwendung des Artikels 88 gegen die Regierung der Bundesrepublik eine Entscheidung erlassen, um damit die Beseitigung eines für rechtswidrig gehaltenen Zustands zu erreichen. Der Kläger sagt nicht einmal, daß er den Zustand für rechtswidrig hält. Was sein Schreiben vom 22. August 1957 anbelangt, so erklärt der Kläger darin, er „erwäge“ (envisager), die Entscheidung, welche die Hohe Behörde seines Erachtens in der Angelegenheit der Schichtprämie erlassen habe, eventuell beim Gerichtshof anzufechten. Meine Herren, Sie werden jedoch, wenn Sie meinen bisherigen Ausführungen folgen sollten, feststellen, daß es an einer anfechtbaren Entscheidung der Hohen Behörde fehlte.

Andererseits stellt dieses Schreiben, ebensowenig wie das vorhergegangene, auch nicht eine an die Hohe Behörde gerichtete und sie in Verzug setzende Aufforderung dar, gemäß Artikel 88 einzugreifen.

Es könnte allenfalls gesagt werden, der Kläger habe erstmalig in der Klageschrift eine solche Aufforderung an die Hohe Behörde gerichtet. Zu denken ist dabei an folgende, bereits zitierte Stelle des Klageantrags:

„Der Gerichtshof möge

die angefochtene Entscheidung für nichtig erklären;

erklären, daß die Hohe Behörde verpflichtet ist, durch Entscheidung festzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland durch … ihren Verpflichtungen aus dem Vertrag nicht nachgekommen … ist“

Es handelt sich hier aber um einen Klageantrag in einem gerichtlichen Verfahren, der meines Erachtens und aus den soeben dargelegten Gründen die in Artikel 35 vorgeschriebene wesentliche Voraussetzung einer „Vorentscheidung“ nicht ersetzen kann. Diese Erwägungen, meine Herren, die darauf hinauslaufen, die Klage für unzulässig zu erklären, mögen wohl ein wenig formalistisch erscheinen. Ich bin aber der Auffassung, daß eine klare Entscheidung des Gerichtshofes in dieser Sache künftigen Parteien einen Dienst erweisen wird; Avas den Kläger angeht, so erscheint sie auch nicht unbillig, weil noch keine, die Anfechtungsfrist in Lauf setzende Entscheidung nach Artikel 88 ergangen ist, so daß ein Verfahren nach Artikel 35 immer noch ordnungsgemäß eingeleitet werden kann. Vielleicht gestattet es diese Verzögerung auch, zu einer gütlichen Regelung zu gelangen, welche die verschiedenen Interessen befriedigt.

Ich beantrage daher,

die Klage abzuweisen und

dem Kläger die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.


( 1 ) RsprGH II d 225.