16.3.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Gleichstellungsorientierte Investitionen in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 100/02)

Berichterstatterin:

Cinzia DEL RIO

Beschluss des Plenums

20.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

8.11.2022

Verabschiedung im Plenum

14.12.2022

Plenartagung Nr.

574

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

163/5/14

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bekräftigt, dass nur eine stärkere und bessere wirtschaftliche und soziale Konvergenz in der Europäischen Union dazu beitragen kann, die vollständige Gleichstellung der Geschlechter sowie mehr Chancengleichheit zu gewährleisten. Dabei sollte der Schwerpunkt auf Maßnahmen und Strategien im Einklang mit der europäischen Säule sozialer Rechte liegen.

1.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass die meisten Mitgliedstaaten ihre nationalen Aufbau- und Resilienzpläne ausgearbeitet haben, ohne vorab geprüft zu haben, wie die einzelnen Investitionen zur Beseitigung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten sowie zur Erleichterung des Zugangs von Frauen zum und ihres Verbleibs auf dem Arbeitsmarkt beitragen. Nur sehr wenige Staaten verfolgen in den sechs Schwerpunktbereichen für Investitionen ihres jeweiligen nationalen Aufbau- und Resilienzplans einen strategischen Ansatz mit spezifischen und bereichsübergreifenden Maßnahmen und Reformen. Die von der Europäischen Kommission gewählte Vorgehensweise stützt sich auf eine Bewertung der mit den durchgeführten Maßnahmen erzielten Wirkung. Der EWSA empfiehlt der Kommission, für diese Bewertung vergleichbare spezifische Indikatoren vorzusehen, um Verbesserungen in Bezug auf gleiches Entgelt, den Zugang zum Arbeitsmarkt, die Vereinbarkeit von Arbeit und Betreuungsaufgaben sowie die Förderung des Unternehmertums von Frauen messen zu können.

1.3.

In den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen sind direkte und indirekte Maßnahmen mit unterschiedlichen kurz- bis mittelfristigen Auswirkungen vorgesehen, um den Zugang von Frauen zu Beschäftigung und ihren Verbleib im Erwerbsleben zu fördern. Allerdings ist der Rahmen hierfür uneinheitlich und unterscheidet sich von Land zu Land. Der EWSA hält es für vorrangig, bei der Umsetzung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne sowohl die direkten als auch die indirekten Maßnahmen zu verstärken, für die es klare und dauerhafte Investitionskanäle einschließlich einer mittel- bis langfristigen Ressourcenplanung geben muss.

1.4.

In Bezug auf die direkten Maßnahmen zur Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen vertritt der EWSA die Ansicht, dass Anreizen für die Schaffung dauerhafter und hochwertiger Arbeitsplätze für Frauen der Vorzug gegeben werden sollte und diese Anreize zudem nicht als staatliche Beihilfen eingestuft werden sollten.

1.5.

Der EWSA fordert, das Bonussystem für Unternehmen, die die Beschäftigung von Frauen fördern, auszubauen und bei allen öffentlichen Auftragsvergaben anzuwenden. Außerdem sollten die Auftragnehmer in den Spezifikationen für öffentliche Ausschreibungen explizit auf die in puncto Gleichstellung verfolgten Ziele hingewiesen werden.

1.6.

Der EWSA begrüßt die in einigen nationalen Aufbau- und Resilienzplänen vorgesehenen Begleit- und Fördermaßnahmen für Unternehmertum. Er hofft, dass die Unterstützung auch Schulungsmaßnahmen in den Bereichen Finanzen und Management sowie Zugang zu Finanzinstrumenten umfasst.

1.7.

Der EWSA schließt sich der in der Mitteilung der Kommission zur Gleichstellung der Geschlechter dargelegten Auffassung an, dass bei der Umsetzung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne auch Maßnahmen im Steuerbereich ergriffen und Steuerentlastungen für Zweitverdiener in einkommensschwachen Haushalten sowie für weniger wohlhabende Alleinerziehende vorgesehen werden sollten.

1.8.

Zu den in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen vorgesehenen indirekten Maßnahmen gehören Investitionen in die Kinderbetreuung sowie Pflege- und Betreuungsdienste. Nach Ansicht des EWSA ist es prioritär, Mittel für Dienstleistungen, die die Vereinbarkeit von Berufs- und Betreuungszeiten gewährleisten, sowie ergänzende Dienstleistungen bereitzustellen und diese für einkommensschwache Haushalte zugänglich zu machen.

1.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass unverzüglich gezielte Investitionen zur Erhöhung der Zahl der Schülerinnen an Schulen mit Schwerpunkt auf Technik und Naturwissenschaft sowie jener der Studentinnen in technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen (MINT-Fächer) getätigt werden müssen, um die Beschäftigung von Frauen mittel- bis langfristig auch in derzeit männerdominierten Branchen zu stärken.

1.10.

Der EWSA empfiehlt, bei der Planung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne für Abstimmung und Komplementarität mit allen anderen Mitteln und Programmen der EU zu sorgen, wobei dies insbesondere für die Mittel und Programme zur Stärkung der Kohäsion und zur Förderung der ländlichen Gebiete gilt. Bei der im Rahmen des Europäischen Semesters vorgenommenen Bewertung, bei der die Kommission länderspezifische Empfehlungen ausspricht, sollten diese Ziele unter dem Gesichtspunkt der Geschlechtergleichstellung mittels neuer transparenter und leicht zugänglicher Indikatoren berücksichtigt werden, die einen Vergleich zwischen den Ländern ermöglichen und nach Geschlecht aufgeschlüsselt sind.

1.11.

Der EWSA empfiehlt, die Berücksichtigung des Gleichstellungsaspekts bei der Haushaltsplanung auf allen Ebenen der öffentlichen Verwaltung im Rahmen des Europäischen Semesters verbindlich vorzuschreiben.

1.12.

Die verfügbaren Daten zeigen, dass die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft in den meisten Ländern nur zu einem geringen Maße und nur sporadisch einbezogen wurden. Der EWSA empfiehlt ihre umfassende Einbeziehung in die Umsetzung, Überwachung und Bewertung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne auf europäischer, nationaler und lokaler Ebene.

2.   Einleitung

2.1.

In dieser Stellungnahme sollen die von den Mitgliedstaaten in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen geplanten Reformen und Investitionen mit Auswirkungen auf die Förderung der Geschlechtergleichstellung auf der Grundlage der verfügbaren und auch von der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament (EP) und dem EU-Ratsvorsitz aktualisierten Informationen beleuchtet werden. Es sei darauf hingewiesen, dass das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE) für den kommenden schwedischen EU-Ratsvorsitz 2023 (1) derzeit eine Studie über die Gleichstellung der Geschlechter und die durchgängige Berücksichtigung des Gleichstellungsaspekts im Zuge der Erholung nach der COVID-19-Krise erstellt. Darin beschäftigt sich das EIGE mit den in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen vorgesehenen gleichstellungsorientierten Maßnahmen von der Programmplanung bis hin zur Umsetzung und Bewertung der Pläne und evaluiert dabei auch, inwiefern die Mitgliedstaaten die Gleichstellung als Hebel für die Erholung genutzt haben.

2.2.

Am 21. Juli 2020 nahm der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen den Aufbauplan „NextGenerationEU“ sowie den Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 (MFR 2021-2027) an. Zu den Zielen des MFR und von NextGenerationEU gehört auch die Förderung der Chancengleichheit. Dabei soll sichergestellt werden, dass der Gleichstellungsaspekt bei den in den einschlägigen Programmen und Instrumenten vorgesehenen Tätigkeiten und Maßnahmen berücksichtigt wird und diese im Einklang mit der EU-Strategie wirksam zur Verwirklichung der Geschlechtergleichstellung beitragen.

2.3.

Die Verordnung (EU) 2021/241 des Europäischen Parlaments und des Rates (2) zur Einrichtung der Aufbau- und Resilienzfazilität zielt darauf ab, die Erholung nach der Pandemie zu unterstützen, den Zusammenhalt zu fördern und in den ökologischen und den digitalen Wandel zu investieren. In der Verordnung ist ausdrücklich festgelegt, dass die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne die Gleichstellung der Geschlechter fördern müssen. Der EWSA schließt sich dem in der Verordnung vertretenen Standpunkt an, dass Maßnahmen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten wichtig sind, da sie im Einklang mit den Zielen der Europäischen Säule sozialer Rechte stehen.

2.4.

In ihrer Mitteilung über die Jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum 2021 vom 17. September 2020 legt die Kommission Leitlinien für die Aufbau- und Resilienzfazilität dar, in denen die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, besonderes Augenmerk auf benachteiligte Gruppen, Frauen sowie junge Arbeitsmarkteinsteiger zu legen, um für diese hochwertige Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen.

2.5.

In der Delegierten Verordnung der EU vom 28. September 2021 sind die gemeinsamen Indikatoren sowie die Einzelheiten zum Aufbau- und Resilienzscoreboards einschließlich 14 Indikatoren festgelegt. Nur bei vier dieser Indikatoren wird nach Geschlecht aufgeschlüsselt (3). So fehlt beispielsweise bei den Indikatoren 6 und 9 eine Aufschlüsselung nach Geschlecht, da von Frauen geführte Unternehmen, die Fördermittel erhalten, nicht gesondert ausgewiesen werden.

2.6.

Der Angriffskrieg, den Russland in der Ukraine führt, hat das Wirtschaftswachstum erheblich ausgebremst, und die Konjunkturaussichten werden vor allem von der Unsicherheit in Bezug auf die Energieversorgung und vom drastischen Kostenanstieg bestimmt — zwei Faktoren, die die Zuweisung von Mitteln und Investitionen in den nationalen Haushalten stark beeinflussen. Diese Unsicherheit wird sich auch auf die Umsetzung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne auswirken.

2.7.

Die Arbeitswelt und die Gesellschaft insgesamt versuchen die Krise zu überwinden, indem sie auf einen langfristigen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung setzen, worauf auch die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne abzielen. Dieses Ziel lässt sich jedoch nur bei Annahme eines gleichstellungsorientierten Rahmens zur Beseitigung und Überwindung der geschlechtsspezifischen Ungleichheiten und Unterschiede erreichen, die sich leider in einigen Branchen, Bevölkerungsgruppen und Gebieten durch die COVID-19-Krise weiter vergrößert haben (4).

3.   Kontext, Vorbereitung der Finanzierung sowie in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen zugewiesene Ressourcen

3.1.

Die Kommission hat dem EP und dem Rat im Juli letzten Jahres einen Überprüfungsbericht über die Durchführung der Aufbau- und Resilienzfazilität (5) vorgelegt, in dem auch auf geschlechtsspezifische Ungleichheiten eingegangen und der Sachstand in Bezug auf die Beiträge der Mitgliedstaaten auf der Grundlage der vorgelegten nationalen Aufbau- und Resilienzpläne dargelegt wird. Daraus lassen sich die Leitprioritäten der 25 nationalen Aufbau- und Resilienzpläne ablesen, die auf der Grundlage der sechs Schwerpunktbereiche für die Maßnahmen im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität analysiert wurden (6).

3.2.

Der überwiegende Teil der von den Mitgliedstaaten vorgeschlagenen Maßnahmen stellt auf Querschnittsziele ab, die nicht unbedingt speziell auf die Gleichstellung der Geschlechter ausgerichtet sind. Von den insgesamt 129 vorgeschlagenen Maßnahmen wurden bislang nur 13 mit entsprechenden Investitionen eingeleitet. Nicht alle Mitgliedstaaten haben Reformen und Ressourcen vorgesehen, die ausdrücklich auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Geschlechtergleichstellung ausgerichtet sind oder bei denen Frauen als Begünstigte genannt werden. Zudem sind nur wenige innovative Maßnahmen in Branchen mit geringer Frauenbeschäftigung vorgesehen (7). Der Schwerpunkt liegt überwiegend auf der Kinderfürsorge sowie Betreuungs-, Pflege- und Bildungsangeboten. Aus dem Bericht der Kommission geht hervor, dass nur wenige Länder in ihren nationalen Aufbau- und Resilienzplänen einen strategischen Ansatz gewählt haben, der Maßnahmen und Reformen zur Stärkung der Gleichstellung der Geschlechter vorsieht.

3.3.

Andere Mitgliedstaaten setzen verstärkt auf bestimmte Schwerpunktbereiche wie etwa die Stärkung des sozialen und des territorialen Zusammenhalts mit einem Schwerpunkt auf Chancengleichheit, der oft auch das Ziel der Geschlechtergleichstellung umfasst, oder auf spezifische Maßnahmen für vulnerable Gruppen, zu denen häufig auch Frauen und junge Menschen gezählt werden. Außerdem finden sich Maßnahmen zur Flankierung des grünen und des digitalen Wandels mit Schwerpunkt auf dem Bereich berufliche Bildung, da einige Länder beim gleichberechtigten Zugang zu Ausbildungs- und Umschulungsprogrammen für Frauen deutlich im Rückstand sind. Es sei darauf hingewiesen, dass geschlechtsspezifische Gewalt in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen der meisten Mitgliedstaaten nicht als eine der Herausforderungen im Rahmen der Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter genannt wird.

3.4.

Die nationalen Aufbau- und Resilienzplänen wurden mit einer Ex-ante-Bewertung der wirtschaftlichen und sozialen Lage auf nationaler Ebene erstellt. Dabei wurden im Allgemeinen bereits im Vorfeld Ausgabenprioritäten festgelegt, bei denen dem Gleichstellungsaspekt weder in Bezug auf die zugewiesenen Mittel noch bei der inhaltlichen Prüfung der eingereichten Investitionsprojekte Rechnung getragen wurde. Im ursprünglichen Vorschlag der Kommission für eine Verordnung über die Aufbau- und Resilienzfazilität wurde die Gleichstellung der Geschlechter als Ziel überhaupt nicht erwähnt, und Frauen wurden darin nicht als spezifische Zielgruppe von Begünstigten genannt. Erst auf Druck der Wirtschafts- und Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft wurden die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne in der im Februar 2021 veröffentlichten Verordnung um eine geschlechtsspezifische Dimension erweitert. Aus diesem Grund spiegeln sich die geschlechtsspezifische Dimension und die Berücksichtigung des Gleichstellungsaspekts bei der Haushaltsplanung nicht in allen nationalen Aufbau- und Resilienzplänen, sondern nur in denjenigen wider, die von Anfang an gleichstellungsorientierte Ausgaben und Investitionen in ihren Haushalt eingestellt hatten.

3.5.

Gemäß der Aufbau- und Resilienzfazilität müssen die Mitgliedstaaten angeben, wie geschlechtsspezifische Ungleichheiten in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen angegangen werden sollen, wobei im Zuge der Folgenabschätzung jedoch nur die Wirkung der ergriffenen Maßnahmen bewertet wird. Daher ist es wichtig, dass die Europäische Kommission bei der Bewertung die Wirksamkeit der geplanten Maßnahmen und Investitionen anhand vergleichbarer spezifischer Indikatoren misst und dabei die Wirtschafts- und Sozialpartner sowie die Organisationen der Zivilgesellschaft einbezieht. Die bisher erhobenen Daten spiegeln nicht die tatsächliche Situation auf nationaler Ebene wider. Aus diesem Grund lässt sich heute nur schwer abschätzen, wie sich manche Maßnahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts auswirken, insbesondere wenn es sich um übergreifende Querschnittsmaßnahmen innerhalb der sechs Schwerpunktbereiche handelt.

3.6.

Ausgehend von den in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen zugewiesenen Mitteln ist es heute nicht möglich, sich ein klares Bild über die nicht nur aus der Aufbau- und Resilienzfazilität, sondern auch aus ergänzenden nationalen öffentlichen und privaten Mitteln finanzierten Investitionen zu verschaffen, die ausschließlich auf die Gleichstellung der Geschlechter in den vielfältigen Bereichen von Arbeit und Gesellschaft ausgerichtet sind. Eine Quantifizierung der zugewiesenen Mittel wird erst in der Durchführungsphase möglich sein.

3.7.

Laut dem Bericht der Kommission über die in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen vorgesehenen spezifischen Gleichstellungsmaßnahmen schwankt der Anteil dieser Maßnahmen jedoch stark, wobei die Bandbreite von 11 % im schwedischen bis zu weniger als 1 % im kroatischen Plan reicht, wobei der Anteil in den Plänen mehrerer Länder unter 2 % liegt. Dabei müsste jedoch auch den Auswirkungen der in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen vorgesehenen indirekten Maßnahmen sowie den direkten und indirekten Maßnahmen Rechnung getragen werden, die ergänzend zu den nationalen Aufbau- und Resilienzpläne aus NextGenerationEU-Mitteln finanziert werden, wie etwa jene im Rahmen von React EU und des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER).

3.8.

Aus dem Bericht der Europäischen Kommission und den ersten vom EIGE gesammelten Informationen ergibt sich ein uneinheitliches Bild mit Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern. Nicht alle Länder haben nach Geschlecht aufgeschlüsselte Daten vorgelegt, obwohl diese von der Kommission angefordert wurden, damit sie auf der Grundlage einiger gemeinsamer Elemente regelmäßig und rechtzeitig über die gleichstellungsorientierten Ausgaben in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen Bericht erstatten kann.

3.9.

Da nicht alle Mitgliedstaaten im Vorfeld der Ausarbeitung ihrer nationalen Aufbau- und Resilienzpläne eingehende geschlechtsspezifische Analysen vorgelegt haben, lassen sich die Auswirkungen der Maßnahmen auf zusätzliche hochwertige Beschäftigung und auf qualifizierte Arbeitsplätze nicht bewerten. Während 14 Mitgliedstaaten die Gleichstellung der Geschlechter als allgemeinen bereichsübergreifenden Grundsatz eingestuft haben (8), trägt nur einer — Spanien — der durchgängigen Berücksichtigung des Gleichstellungsaspekts als Kriterium in seinem gesamten nationalen Aufbau- und Resilienzplan Rechnung. Italien hat zwar spezifische Maßnahmen für die Gleichstellung der Geschlechter ergriffen und die Auswirkungen der Maßnahmen auch im Hinblick auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze bewertet, doch bestehen nach wie vor Zweifel an ihrer tatsächlichen Wirksamkeit und Qualität (9). In anderen Ländern wurden zur Förderung der Geschlechtergleichstellung indirekte Maßnahmen wie Investitionen in die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und Betreuungs- und Pflegedienste, die Förderung der beruflichen Bildung in MINT-Fächern sowie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Weiterbildung geplant, die sich mittel- bis langfristig auswirken werden, aber heute nicht quantifiziert werden können. Zusätzlich zu diesen Investitionen haben einige Mitgliedstaaten Direktinvestitionen wie Einstellungszuschüsse und Anreize für Unternehmensgründerinnen vorgesehen.

3.10.

Manche Länder haben besonderes Augenmerk auf die geschlechtssensible Auftragsvergabe (gender procurement) (10) gelegt und sehen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, die mit Mitteln aus den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen finanziert werden, Auflagen bezüglich der Einstellung von Frauen und jungen Menschen vor. Es wäre wünschenswert, die Auftragnehmer in den Spezifikationen für öffentliche Ausschreibungen explizit auf die in puncto Gleichstellung verfolgten Ziele hinzuweisen.

3.11.

Zu den in dieser Hinsicht innovativen nationalen Aufbau- und Resilienzplänen gehören beispielsweise jene Spaniens, Italiens und Frankreichs. Spanien demonstriert in seinem nationalen Aufbau- und Resilienzplan diesbezüglich insofern ein starkes Engagement, als darin vorgesehen ist, dass der Gleichstellungsaspekt bei allen öffentlichen Verwaltungsverfahren berücksichtigt werden muss. Italien hat in seinen nationalen Aufbau- und Resilienzplan Leitlinien zur Gewährleistung der Chancengleichheit bei mit Mitteln aus diesem Plan finanzierten Aufträgen aufgenommen, in denen Präferenzmaßnahmen und Musterklauseln für die Ausschreibungen vorgesehen sind. Diese sind je nach Sektor, Art und Natur des Projekts unterschiedlich, wobei sich die Bieter verpflichten müssen, 30 % der für die Vertragsausführung geschaffenen Stellen mit jungen Menschen unter 36 Jahren sowie mit Frauen zu besetzen. Außerdem wird geprüft, ob sich die Unternehmen an den Grundsatz der Geschlechtergleichstellung halten. Frankreich hat in seinem nationalen Aufbau- und Resilienzplan wiederum neue Indikatoren aufgenommen, anhand derer sich die berufliche Gleichstellung und die diesbezüglich im Rahmen eines Aktionsplans erzielten Fortschritte messen lassen. In den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen Irlands und Kroatiens werden hingegen jene Unternehmen finanziell belohnt, die die Kriterien für die Förderung der Geschlechtergleichstellung einführen (11).

3.12.

Aus dem Bericht der Kommission vom Juli 2022 geht hervor, dass die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft nur zu einem sehr geringen Maße und nur sporadisch in die Ausarbeitung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne einbezogen wurden. Seitens der Sozialpartner und anderer Organisationen der Zivilgesellschaft wird große Besorgnis bezüglich der Beteiligung an der Umsetzungs- und Überwachungsphase der Maßnahmen geäußert. So weisen die Gleichstellungsexperten insbesondere darauf hin, dass es ohne zuverlässige, vergleichbare, gezielte, nach Geschlecht aufgeschlüsselte, aber vor allem hochwertige Daten zu den einzelnen Bereichen und Branchen schwierig sein wird, die Auswirkungen der Maßnahmen zu bewerten (12). Der EWSA empfiehlt den EU-Institutionen sowie den nationalen und regionalen Behörden nachdrücklich, die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft, die sich für die Förderung der Chancengleichheit einsetzen, stärker in die Umsetzung, Bewertung und Überwachung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne einzubeziehen.

4.   Bewertung des Kontexts der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne

4.1.

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, die Agenda 2030 der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung umzusetzen, zu deren 17 Zielen auch die Verwirklichung der Gleichstellung der Geschlechter zählt. Ebenso wichtig ist die Umsetzung der in der Kommissionsmitteilung „Eine Union der Gleichheit: Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2020-2025“ (13) festgelegten Ziele in Bezug auf gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an den verschiedenen Wirtschaftszweigen sowie hinsichtlich des geschlechtsspezifischen Lohngefälles.

4.2.

Die Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter umfasst Maßnahmen zur Bekämpfung aller Formen von Diskriminierung und Ungleichheit, auch in Bezug auf die LGBTIQ-Gemeinschaft (14), und muss ein Bezugspunkt für die Umsetzung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne sein. Der EWSA betont, wie wichtig es ist, unter Einbindung aller Interessenträger Schlüsselmaßnahmen umzusetzen, die darauf abzielen, für gleichberechtigte Teilhabe und Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt zu sorgen, gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu gewährleisten, den Zugang von Frauen zu Führungspositionen zu verbessern und ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis in Entscheidungsprozessen und in der Politik sicherzustellen. Der EWSA fordert die rasche Annahme und Umsetzung der Lohntransparenzrichtlinie (15), in der Instrumente und Maßnahmen auf nationaler Ebene festgelegt sind, um das Lohngefälle anzugehen und zu beseitigen. Zudem fordert er eine genaue Prüfung der diesbezüglichen Ursachen und Verantwortlichkeiten.

4.3.

Das Ziel einer besseren Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt muss strukturell und umfassend angegangen werden, wobei auch in Bezug auf abgelegene und ländliche Gebiete wirtschaftliche, bildungsbezogene, geografische, soziale und kulturelle Faktoren zu berücksichtigen sind. In diesem Zusammenhang sollte ein integrierter Ansatz verfolgt werden, bei dem alle europäischen, nationalen und regionalen Institutionen im Rahmen wirksamer Verfahren für einen sozialen Dialog mit sämtlichen Akteuren und auf allen Ebenen systematisch konsultiert werden.

4.4.

Zur Anhebung der Frauenerwerbsquote muss die Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben (Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlaments und des Rates (16)) in allen Mitgliedstaaten rasch umgesetzt werden. Mit dieser Richtlinie werden Vorschriften über Urlaub aus familiären Gründen sowie flexible Arbeitsregelungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingeführt, und es wird eine gerechte Aufteilung der Betreuungs- und Pflegeaufgaben zwischen den Eltern gefördert. Dies trägt auch zur Beseitigung der Hindernisse bei, die die freie Entscheidung der Menschen, Kinder zu haben, einschränken.

4.5.

Die 2019 und 2020 im Rahmen des Europäischen Semesters ausgesprochenen länderspezifischen Empfehlungen zu Maßnahmen zum Abbau geschlechtsspezifischer Ungleichheiten haben einige Mitgliedstaaten dazu veranlasst, den Gleichstellungsaspekt in ihren nationalen Aufbau- und Resilienzplänen zu berücksichtigen (17). Bedauerlicherweise unterscheidet sich der Aktionsrahmen jedoch von Land zu Land.

4.6.

Infolge der Pandemie und ihrer Auswirkungen auf Frauen gab es hierzu nur sporadisch und punktuell länderspezifische Empfehlungen. 2022 erhielten nur drei Länder — Österreich, Deutschland und Polen — länderspezifische Empfehlungen in Bezug auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen und das Funktionieren von Kinderbetreuungsdiensten. 22 weitere Länder erhielten länderspezifische Empfehlungen zu benachteiligten Gruppen (18), aufgrund derer indirekte Maßnahmen im Zusammenhang mit der Beschäftigung oder dem Status von Frauen ergriffen wurden, die sich nur schwer quantifizieren lassen. Der EWSA ist der Auffassung, dass angesichts der Daten zu den Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die wirtschaftliche und soziale Lage von Frauen gleichstellungsorientierte länderspezifische Empfehlungen wünschenswert gewesen wären, um eine kohärente Ex-ante-Programmplanung in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen einschließlich gezielter Investitionen zu fördern.

4.7.

Das EIGE hebt in mehreren Berichten die ungleiche Verteilung der Familienarbeit hervor, insbesondere in den Bereichen Kinderbetreuung sowie Langzeitpflege von älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen (19). Diese Verpflichtungen sind einer der Hauptgründe für die geringe Erwerbsbeteiligung von Frauen (20). Durch die Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen hat sich die Lage weiter verschlechtert. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass der Zusammenhang zwischen unbezahlten Betreuungs- und Pflegediensten und Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben in vielen nationalen Aufbau- und Resilienzplänen anerkannt wurde und darin gezielte Maßnahmen für einen verstärkten Ausbau der Kinderbetreuung vorgesehen wurden (21).

4.8.

Diese Dienstleistungen müssen auch für einkommensschwache Haushalte zugänglich gemacht werden. Die Kriterien für die Preisgestaltung müssen überprüft werden, um die Nutzung dieser Dienstleistungen durch alle zu erleichtern. Besondere Aufmerksamkeit sollte der Förderung des ganztägigen Schulbetriebs in allen Schultypen und auf allen Schulstufen mit schulischen sowie außerschulischen Aktivitäten, der Schaffung eines ergänzenden Dienstleistungsangebots im Kindergarten (wie z. B. eine Betreuung vor und nach den Kernöffnungszeiten) sowie der Ausweitung des staatlichen Angebots an Sommerbetreuung für Mädchen und Jungen gewidmet werden. Hierbei handelt es sich um indirekte Maßnahmen, für die auf Dauer gesicherte Investitionskanäle gefunden werden müssen und leider keine mittel- bis langfristige Ressourcenplanung im Rahmen der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne vorgesehen ist.

4.9.

Der EWSA spricht sich dafür aus, das Personal von Arbeitsämtern in Sachen Geschlechtergleichstellung zu schulen, um dort eine Kultur zu etablieren bzw. zu stärken, die frei von Geschlechterstereotypen ist. Gleichzeitig ist es wichtig, Partnerschaften zwischen Unternehmen und einschlägigen Akteuren in den Bereichen Beschäftigung und Weiterbildung zu fördern, um die Beschäftigung von Frauen in männerdominierten Branchen zu stärken.

4.10.

Der EWSA unterstützt die Idee, vorrangig Anreize für jene Unternehmen zu bieten, die im Zuge aktiver Arbeitsmarktmaßnahmen Frauen einstellen und diesen unbefristete Arbeitsverträge und gute Arbeitsbedingungen bieten. Außerdem müssen Anreize für Begleit- und Fördermaßnahmen für Unternehmertum geboten werden, auch in Form von Unterstützung für Schulungsmaßnahmen in den Bereichen Finanzen und Management sowie Zugang zu Finanzinstrumenten (22).

5.   Spezifische Bewertung

5.1.

Die Krise hat Frauen hart getroffen. Diese sehen sich oftmals gezwungen, sogar ungelernte Tätigkeiten auszuüben. Darüber hinaus müssen Frauen immer häufiger unfreiwillig in Teilzeit arbeiten. Um diesen Trend umzukehren, die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erhöhen sowie hochwertige und qualifizierte Beschäftigung zu fördern, müssen die direkten und indirekten Maßnahmen in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen unbedingt verstärkt werden.

5.2.

Der EWSA empfiehlt im Hinblick auf eine Verkleinerung des Geschlechtergefälles, bei der Planung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne für Abstimmung und Komplementarität mit allen anderen Mitteln und Programmen der EU zu sorgen, wobei dies insbesondere für die Kohäsionsmittel und -programme gilt.

5.3.

Aufgrund der bestehenden geschlechtsspezifischen Unterschiede und Ungleichheiten wirken sich politische Maßnahmen auf Frauen und Männer unterschiedlich aus, weshalb es wichtig ist, dass sämtliche europäischen, nationalen und lokalen Institutionen ergänzend zu den steuerpolitischen Maßnahmen eine an Gleichstellungsfragen orientierte Haushaltsgestaltung praktizieren. Daher empfiehlt der EWSA, die Berücksichtigung des Gleichstellungsaspekts bei der Haushaltsplanung in der Phase des Europäischen Semesters verbindlich vorzuschreiben (23).

5.4.

Der EWSA warnt vor der Gefahr, dass die geplante Aufbau- und Resilienzfazilität die Unterschiede in einigen Branchen wie der grünen und der digitalen Wirtschaft noch weiter vergrößern könnte. Die Gleichstellung der Geschlechter mag zwar eine bereichsübergreifende Priorität sein, werden jedoch keine spezifischen und messbaren Maßnahmen zur Förderung der Berufstätigkeit von Frauen — auch in Spitzenpositionen in Branchen mit vielen weiblichen Beschäftigten — ergriffen, besteht die Gefahr, dass sich das geschlechtsspezifische Beschäftigungsgefälle weiter vergrößert und Frauen noch stärker in schlecht bezahlte Berufe abgedrängt werden.

5.5.

In die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne sollten vergleichbare Indikatoren aufgenommen werden, um Verbesserungen in Bezug auf gleiches Entgelt, den Zugang zu Beschäftigung in den einzelnen Branchen, die Vereinbarkeit von Arbeit und Betreuungsaufgaben, die Vergabe von Vorzugskrediten sowie die Anreize zur Förderung von Unternehmertum und selbstständiger Erwerbstätigkeit von Frauen messen zu können.

5.6.

Es sollten vor allem Anreize für die Einstellung von Frauen in unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen geboten werden, und diese Anreize sollten nicht als staatliche Beihilfe eingestuft werden.

5.7.

Die Verbesserung der Vereinbarkeit von Arbeits- und Betreuungszeiten ist eines der Hauptziele, um das volle Potenzial von Frauen in der Arbeitswelt zu erschließen und die Produktivität der Unternehmen zu steigern. Daher hält es der EWSA für vorrangig, in Dienstleistungen zu investieren, die eine Vereinbarung von Beruf und Betreuungsaufgaben ermöglichen. Dafür bedarf es nicht nur zusätzlicher Dienstleistungen in den Kindergärten sowie eines stufenweisen Übergangs hin zur kostenlosen Bereitstellung von Betreuungs- und Bildungsangeboten für Kinder im Alter von 0 bis 3 Jahren für einkommensschwache Haushalte, sondern auch einer Ausweitung der Investitionen in die Bereitstellung von Langzeitpflege- und Betreuungsdiensten.

5.8.

Um die Verwirklichung der Ziele in Bezug auf die Dienstleistungen, die eine Vereinbarung von Berufstätigkeit und Betreuungs- und Pflegeaufgaben ermöglichen, voranzubringen, müssen Fachkräfte aus diesem Bereich eingestellt und allen an der Erbringung dieser Dienstleistungen Beteiligten — heutzutage überwiegend Frauen — Weiterbildungsmöglichkeiten geboten werden.

5.9.

Der EWSA weist darauf hin, wie wichtig es ist, bei sämtlichen öffentlichen Aufträgen eine Präferenzklausel als Anreiz für die Beschäftigung von Frauen vorzusehen, um jene Unternehmen zu unterstützen, die sich zur Schaffung dauerhafter Arbeitsplätze, zur Stärkung der sozialen Inklusion und zur Verringerung des geschlechtsspezifischen Beschäftigungsgefälles verpflichten.

5.10.

In den naturwissenschaftlichen Fächern gibt es ein stark ausgeprägtes geschlechtsbedingtes Gefälle, das schon in der frühkindlichen Bildung seinen Ursprung hat. Leider umfassen nur wenige nationale Aufbau- und Resilienzpläne Maßnahmen zur Erhöhung der Anzahl der Schülerinnen an Schulen mit Schwerpunkt Technik und Naturwissenschaft sowie jener der Studentinnen in den technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen (MINT-Fächer). Daher sind gezielte Investitionen in Ausbildungsprogramme erforderlich, um die Beteiligung von Mädchen an der Wissenschaft sowie an Forschung und Entwicklung zu stärken. Außerdem sind Investitionen und neue Formen der Unterstützung für Projekte notwendig, die darauf abzielen, die Beteiligung von Frauen an innovativen Aktivitäten zu erhöhen. Diese Maßnahmen werden erst mittel- bis langfristig positive Auswirkungen zeitigen und müssen daher im Rahmen eines strategischen Ansatzes geplant werden.

5.11.

Der EWSA hält es auch für wichtig, wie auch von der Kommission (24) empfohlen, ebenso auf steuerlicher Ebene gemäß den nationalen Rechtsvorschriften zu handeln. Es sollten Steuerentlastungen für Zweitverdiener in einkommensschwachen Familien — häufig sind dies Frauen — vorgesehen werden. Auch Steuererleichterungen für einkommensschwache Alleinerziehende sind wichtig.

5.12.

Zusätzlich zu den in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen vorgesehenen Maßnahmen schlägt der EWSA eine verpflichtende Zertifizierung in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter als flankierende politische Maßnahme vor. Ziel ist es, das Geschlechtergefälle zu verringern und die Arbeitsbedingungen von Frauen zu verbessern, geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen (25), in Abstimmung mit den Sozialpartnern für mehr flexibles und autonomes Arbeiten zu sorgen sowie Frauen, die aus dem Elternurlaub zurückkehren, die Möglichkeit zu bieten, auf freiwilliger Basis in Teilzeit zu arbeiten. Dabei sollte die Bezahlung dem in den einzelnen Mitgliedstaaten üblichen Lohnniveau sowie den nationalen Rechtsvorschriften entsprechen.

5.13.

Der EWSA begrüßt den von der Europäischen Kommission in ihrem Bericht verfolgten Ansatz, die Maßnahmen der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne der einzelnen Länder unter dem Gesichtspunkt der Geschlechtergleichstellung zu überwachen. Dabei wird es darauf ankommen, dass die Vertretungen der Kommission in den Mitgliedstaaten einen besonderen Schwerpunkt auf die bestehenden Gleichstellungsmaßnahmen legen und dafür sorgen, dass transparente und leicht zugängliche Daten zur Verfügung stehen.

5.14.

Der EWSA empfiehlt, die Wirtschafts- und Sozialpartner sowie die Zivilgesellschaft umfassend in die Umsetzung, Überwachung und Bewertung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne einzubeziehen und zu diesem Zweck auch spezielle Kontrollgremien auf europäischer und nationaler Ebene einzurichten, die eine koordinierte Planung der Gleichstellungsinitiativen fördern.

Brüssel, den 14. Dezember 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Siehe Studie des EIGE Gender equality and gender mainstreaming in the COVID-19 recovery, Veröffentlichung voraussichtlich 2023.

(2)  Verordnung (EU) 2021/241 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Februar 2021 zur Einrichtung der Aufbau- und Resilienzfazilität (ABl. L 57 vom 18.2.2021, S. 17).

(3)  Diese Indikatoren sind: a) in unterstützten Forschungseinrichtungen tätige Forschende; b) Zahl der Teilnehmenden, die nach ihrer Teilnahme eine schulische/berufliche Bildung absolvieren; c) Anzahl der Personen, die einen Arbeitsplatz haben oder auf Arbeitssuche sind; d) Anzahl junger Menschen im Alter von 15 bis 29 Jahren, die Unterstützung erhalten.

(4)  Siehe Forschungsbericht des EIGE, Gender equality and the socio-economic impact of the COVID-19 pandemic.

(5)  COM(2022) 383 final.

(6)  Die Niederlande haben ihren nationalen Aufbau- und Resilienzplan später als die anderen Länder vorgelegt, und jener Ungarns ist derzeit wegen Fragen im Zusammenhang mit der Achtung der Rechtsstaatlichkeit auf Eis gelegt.

(7)  Siehe Fußnote 1 sowie den Artikel PNRR Italia, Gender Gap e politiche per l’innovazione e la digitalizzazione nel PNRR: quali misure? von Marusca de Castries, Università degli Studi di Roma Tre, und Barbara Martini, Università di Roma Tor Vergata, September 2022.

(8)  Siehe Fußnote 1.

(9)  Siehe Fußnote 6.

(10)  Die geschlechtssensible Auftragsvergabe ist eine von der Kommission eingeführte innovative Strategie zur Förderung von Investitionen in die Gleichstellung durch die Aufnahme von spezifischen gleichstellungsorientierten Vergabekriterien bzw. Anforderungen für die Teilnahme an Ausschreibungen oder von Zuschlagskriterien, die soziale Parameter umfassen. Sie zielt darauf ab, die Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, mehr Frauen in Spitzenpositionen zu bringen und das Lohngefälle zu verringern.

Das EIGE hat 2022 seinen Bericht Gender-responsive public procurement: the key to fair and efficient public spending in the EU veröffentlicht. Darin wird aufzeigt, wie die Geschlechtergleichstellung über die Vergabe öffentlicher Aufträge kanalisiert und unterstützt und gleichzeitig die Wirksamkeit und die Qualität der öffentlichen Ausgaben mittels Fallstudien und Empfehlungen verbessert werden kann.

(11)  Daten aus der Analyse des EIGE, siehe Fußnote 1.

(12)  EP-Briefing zum Thema Gender equality in the Recovery and Resilience Facility vom April 2022, in dem die in einer Reihe von Studien von Forschungszentren bzw. Hochschulen in den Mitgliedstaaten geäußerten Bedenken aufgegriffen werden.

(13)  Mitteilung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den EWSA und den Ausschuss der Regionen vom 5. März 2020 (COM(2020) 152 final).

(14)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Eine Union der Gleichheit: Strategie für die Gleichstellung von LGBTIQ-Personen 2020-2025“ (COM(2020) 698 final) (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 128).

(15)  Über den Vorschlag für eine Richtlinie über Lohntransparenz wird derzeit im Trilog verhandelt.

(16)  Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige und zur Aufhebung der Richtlinie 2010/18/EU des Rates (ABl. L 188 vom 12.7.2019, S. 79).

(17)  Europäisches Parlament: CSRs and RRPs — Thematic overview on genderrelated issues, veröffentlicht im Oktober 2021.

(18)  Siehe Fußnote 14.

(19)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Betreuung von Menschen mit Behinderungen und älteren Menschen durch Angehörige — rapide Zunahme während der Pandemie“ (Initiativstellungnahme) (ABl. C 75 vom 28.2.2023, S. 75), in der wichtige Empfehlungen in Bezug auf die zu ergreifenden Maßnahmen vorgelegt werden.

(20)  Bericht des EIGE: Gender Mainstreaming — Gender stakeholder consultation, 2019.

(21)  Siehe Fußnote 1.

(22)  Spanien hat in seinem nationalen Aufbau- und Resilienzplan 36 Mio. EUR zur Unterstützung von Unternehmensgründerinnen vorgesehen, und Italien stellt in seinem nationalen Plan 400 Mio. EUR bereit, um die Beteiligung von Frauen an unternehmerischen Tätigkeiten zu unterstützen.

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Investitionen mit Geschlechterperspektive zur Verbesserung der Gleichstellung in der EU“ (ABl. C 100 vom 16.3.2023, S. 16), in der Vorschläge zur Förderung von Investitionen in weibliches Unternehmertum unterbreitet werden.

(23)  Diskussionspapier der Europäischen Kommission: Gender Budgeting Practices: Concepts and Evidence, Juni 2022.

(24)  Siehe Fußnote 10.

(25)  Die Mitgliedstaaten wurden aufgefordert, das — bislang nur von zwei europäischen Ländern ratifizierte — IAO-Übereinkommen Nr 190 über Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz zu ratifizieren.