28.2.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 75/75


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Betreuung von Menschen mit Behinderungen und älteren Menschen durch Angehörige — rapide Zunahme während der Pandemie“

(Initiativstellungnahme)

(2023/C 75/11)

Berichterstatter:

Pietro Vittorio BARBIERI

Beschluss des Plenums

24.2.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

29.9.2022

Verabschiedung auf der Plenartagung

26.10.2022

Plenartagung Nr.

573

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

170/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist besorgt über die Lebensbedingungen der Bürgerinnen und Bürger, die Langzeitbetreuung für Angehörige mit Behinderungen oder chronischen bzw. degenerativen Erkrankungen wie etwa Demenz und Krebs leisten.

1.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass deren Situation während der COVID-19-Pandemie noch gravierender geworden ist, sodass strukturelle Veränderungen in Bezug auf die sozialpolitischen Maßnahmen und die Sozialdienstleistungen unerlässlich sind.

1.3.

Zur Optimierung der sozialpolitischen Maßnahmen und zur bestmöglichen Festlegung der erforderlichen Unterstützung hält der EWSA eine gemeinsame Definition der Rolle und des Status von Personen für erforderlich, die Langzeitbetreuung für Angehörige mit Behinderungen oder chronischen bzw. degenerativen Erkrankungen wie Demenz und Krebs leisten. Dazu ist es u. a. notwendig, die spezifischen Merkmale dieser Tätigkeit zu beschreiben und diesbezügliche Leistungsstufen festzulegen sowie die Rolle der Betroffenen auch im Bereich der gemeindenahen Dienstleistungen stärker anzuerkennen.

1.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Tätigkeit pflegender Angehöriger im Rahmen soziologischer Studien und statistischer Erhebungen eingehender definiert werden muss. Insbesondere sollte dabei darauf eingegangen werden, wie sich die Langzeitbetreuung auf die pflegenden Angehörigen auswirkt, und zwar unabhängig davon, ob sie gleichzeitig einer beruflichen Beschäftigung nachgehen oder nicht.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass es im Bereich der Betreuung durch Angehörige gemeinsamer Maßnahmen der Behörden, der Arbeitgeber im Rahmen des sozialen Dialogs und nicht zuletzt der betreuenden Familienmitglieder selbst sowie ihrer Vertretungsorganisationen bedarf, um zu gewährleisten, dass diese von der Konzipierung der öffentlichen Maßnahmen bis hin zu ihrer Umsetzung durchgehend einbezogen werden.

1.6.

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, dass Gesundheitsschutzdienstleistungen, einschließlich Vorsorge- und regelmäßiger Facharztuntersuchungen, zur Verfügung stehen und dass Bürgerinnen und Bürger, die die Langzeitpflege ihrer Angehörigen übernehmen, eine angemessene Schulung zum Schutz ihrer eigenen Gesundheit erhalten.

1.7.

Der EWSA fordert, unter denjenigen, die gezwungen sind, ihre Erwerbstätigkeit aufzugeben, um langfristig einen aufgrund einer chronischen bzw. degenerativen Erkrankung oder einer Behinderung pflegebedürftigen Angehörigen zu betreuen, im Rahmen der nationalen Rentensysteme spezifische Umfragen zur Erhebung von Daten durchzuführen, anhand derer der Anspruch auf alternative Vergütungsformen abgestuft und angepasst werden kann.

1.8.

Der EWSA stellt fest, dass in Bezug auf die Langzeitbetreuung von Angehörigen nach wie vor ein Geschlechtergefälle besteht, und fordert im Einklang mit seiner Stellungnahme „Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter“ (1), dass entsprechende Abhilfemaßnahmen ergriffen werden, u. a. eine Stärkung der Umsetzung der bereits in der Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlaments und des Rates (2) enthaltenen Leitlinien.

1.9.

Der EWSA weist darauf hin, dass die breite Öffentlichkeit bislang nur zu einem geringen Maß für die Lebensbedingungen der Betroffenen sensibilisiert ist, und fordert die Schaffung eines Europäischen Tages der pflegenden Angehörigen, um das Bewusstsein für dieses Phänomen zu schärfen und geeignete Strategien und Unterstützungsmaßnahmen zu fördern.

1.10.

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, Dienste und Unterstützung im Bereich Wohnen sowie Haushaltsdienstleistungen bereitzustellen, wobei insbesondere der Gesundheits- und Krankenpflegebedarf sowie der Bedarf an psychologischer Unterstützung für die Betreuungsperson, die Kernfamilie sowie die betreuungsbedürftige Person zu berücksichtigen sind.

1.11.

Der EWSA betont, wie wichtig es ist, für den Fall unvorhergesehener Ereignisse, die auf längere Sicht oder vorübergehend eine Betreuung unmöglich machen, Notdienste zu fördern und bereitzustellen, ebenso wie Hilfsdienste, um die Folgen einer dauerhaften Be- und Überlastung einzudämmen. Zudem sollten Erleichterungen und vereinfachte Verfahren vorgesehen werden, die den bürokratischen Aufwand für pflegende Angehörige verringern.

1.12.

Der EWSA hält es für wesentlich, Dienstleistungen und Unterstützung bereitzustellen, die es Menschen mit Behinderungen ermöglichen, ein selbstständiges Leben außerhalb der eigenen Familie zu führen, u. a. durch die Vermittlung von Autonomie, alternative Wohnlösungen und Möglichkeiten für ein unabhängiges Leben, was sich zwangsläufig auch positiv auf die Belastung von Angehörigen auswirkt, die ansonsten zur Langzeitpflege verpflichtet wären.

1.13.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen (u. a. Transferleistungen) in Erwägung zu ziehen, um der Gefahr einer Verarmung derjenigen entgegenzuwirken, die — trotz spezifischer Maßnahmen, Dienstleistungen und Unterstützung zu deren Bekämpfung — gezwungen sind, ihre Erwerbstätigkeit vollständig oder teilweise aufzugeben, um langfristig ihre Angehörigen betreuen zu können.

1.14.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen zu ergreifen, um das Angebot an Langzeitbetreuungskräften sowohl in qualitativer als auch quantitativer Hinsicht zu fördern.

1.15.

Der EWSA fordert, die Arbeitgeber dazu anzuhalten und dabei zu unterstützen, pflegenden Angehörigen über die diesbezüglich schon bestehenden nationalen Rechtsvorschriften hinaus flexible Arbeitsbedingungen und betriebliche Sozialmaßnahmen anzubieten.

2.   Bestandsaufnahme

2.1.

Aus den 2018 veröffentlichten Eurostat-Statistiken über die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben (3) geht hervor, dass von den über 300 Mio. Menschen in der Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen in der EU etwa ein Drittel Betreuungsaufgaben wahrnahm. Dies bedeutet, dass rund 100 Mio. Menschen Kinder unter 15 Jahren und/oder pflegebedürftige Angehörige (Kranke, ältere Menschen und/oder Menschen mit Behinderungen) über 15 Jahren betreuten. Rund 200 Mio. Menschen in der EU hatten wiederum keinerlei Betreuungspflichten. Von den pflegenden Angehörigen betreute die Mehrheit (74 %) Kinder unter 15 Jahren, die im selben Haushalt leben. Von den übrigen 26 % kümmerten sich 3 % um außerhalb des Haushalts lebende Kinder, 7 % um Kinder, die sowohl im selben Haushalt als auch außerhalb davon leben, 4 % um Kinder und zugleich um pflegebedürftige Angehörige sowie 12 % ausschließlich um pflegebedürftige Familienmitglieder.

2.2.

Im Jahr 2018 nahm jeder dritte EU-Bürger im Alter von 18 bis 64 Jahren Betreuungspflichten wahr (34,4 % gegenüber 65,6 % ohne Betreuungspflichten). Innerhalb der Gruppe derer, die Betreuungspflichten wahrnahmen, stellt sich die Verteilung wie folgt dar: 28,9 % kümmerten sich ausschließlich um Kinder unter 15 Jahren, 4,1 % betreuten pflegebedürftige Angehörige ab 15 Jahren und nur weniger als 2 % betreuten sowohl kleine Kinder als auch pflegebedürftige Angehörige.

2.3.

Die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger erfolgte überwiegend durch Frauen (die Betreuungspersonen waren zu 63 % Frauen und zu 37 % Männer). Innerhalb der Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen gehörten die pflegenden Angehörigen überwiegend zu den älteren Altersgruppen: 48,5 % waren zwischen 55 und 64 Jahren alt und 35 % zwischen 45 und 54 Jahren. Der Anteil der 18 — bis 44-Jährigen an den pflegenden Angehörigen belief sich auf nur 5,5 %.

2.4.

In der EU-28, also in den derzeitigen 27 Mitgliedstaaten plus Großbritannien vor seinem EU-Austritt, klaffte eine Lücke von 3,3 Prozentpunkten zwischen jenen Männern (2,5 %) und jenen Frauen (5,9 %), die angaben, dass sie ihre Arbeitszeit verkürzt haben oder in ihrer derzeitigen oder einer früheren Position länger als einen Monat nicht erwerbstätig waren, um kranke, ältere und/oder behinderte Angehörige zu betreuen. Das größte Gefälle verzeichnete diesbezüglich Bulgarien (6,8 Prozentpunkte), das niedrigste Zypern (1,1 Prozentpunkte), aber überall änderten Frauen ihr Berufsleben häufiger als Männer (Eurostat, 2018).

2.5.

Im Jahr 2018 gaben 29,4 % der Beschäftigten in der EU-28 an, dass sie wegen Betreuungsaufgaben prinzipiell flexible Arbeitszeiten nutzen und ganze Tage Pflegeurlaub in Anspruch nehmen können. Dabei zeigten sich jedoch Unterschiede zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Der höchste Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit der Möglichkeit, flexible Arbeitszeiten zu nutzen und Pflegeurlaub zu nehmen, wurde in Slowenien (60,4 %) verzeichnet, gefolgt von Finnland (57,1 %) und Dänemark (55,1 %). Am niedrigsten war der Anteil in Ungarn (7,5 %), Polen (7,3 %) und Zypern (3,8 %). Andererseits gab ein Viertel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (25,2 %) an, dass es ihnen nicht möglich ist, flexible Arbeitszeiten zu nutzen oder ganze Tage Pflegeurlaub in Anspruch zu nehmen. Auch bei dieser Gruppe gab es erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten: Betrug ihr Anteil in Lettland 6,9 % und in Slowenien 7,7 %, belief er sich in Polen auf 58,6 % und in Zypern 58,7 % (Eurostat, 2018).

2.6.

Was die Auswirkungen auf die Gesundheit betrifft, so erhielten Elizabeth Blackburn, Carol Greider und Jack Szostak 2009 den Nobelpreis für Medizin für ihre Erkenntnisse über die biologischen Auswirkungen des Stresses, dem Langzeitpflegepersonen typischerweise ausgesetzt sind. Sie stellten fest, dass die Telomere von Müttern, die Kinder mit besonderen Bedürfnissen längerfristig betreuen, verkürzt sind, wodurch ihre Lebenserwartung um neun bis siebzehn Jahre sinkt. Die Auswirkungen von Dauerstress sind in der internationalen wissenschaftlichen Literatur gut belegt.

2.7.

In der Anhörung vom 4. Juli 2022 erklärte die Europäische Kommission, dass im Bereich der informellen Pflege 33 Mrd. bis 39 Mrd. Stunden geleistet würden, was 2,4 % bis 2,7 % des EU-BIP entspricht. Der mehrjährige Finanzrahmen, d. h. der Betrag der EU-Investitionen in innovative Zukunftsprojekte, macht weniger als die Hälfte dieses Betrags aus, nämlich etwa 1,02 % des BIP.

2.8.

Aus persönlichen Berichten, die von Menschen mit Behinderungen vertretenden NRO zusammengetragen wurden, geht hervor, dass die Möglichkeiten pflegender Angehöriger, soziale Kontakte zu unterhalten und eigenen kulturellen oder sportlichen Interessen nachzugehen, aufgrund der häufig kaum planbaren Pflegetätigkeit und des Fehlens alternativer Pflegeangebote, wozu sehr oft verschärfend noch ein Mangel an Zeit und Platz für die eigene Erholung und Entspannung hinzukommt, stark beeinträchtigt und eingeschränkt sind.

2.9.

Aus statistischen Untersuchungen und den Erfahrungsberichten der Betroffenen geht klar hervor, dass es im Bereich der Langzeitbetreuung von Angehörigen mit Behinderungen bzw. chronischen oder degenerativen Erkrankungen ein Geschlechtergefälle gibt, bei dem die Frauen den Großteil der Last zu stemmen haben. Dies bedeutet, dass es vor allem Frauen sind, die ihre Berufstätigkeit aufgeben, in der Karriere zurückstecken oder in Teilzeit arbeiten müssen und, allgemeiner betrachtet, stärker von materieller wie auch immaterieller Armut betroffen sind.

2.10.

In der EU geben 25 % der Frauen und 3 % der Männer an, dass sie aufgrund der Betreuung von Angehörigen, jungen oder älteren Menschen sowie Kranken keinen Zugang zu einer bezahlten Beschäftigung haben oder unfreiwillig nur in Teilzeit arbeiten können (4).

2.11.

Pflegende Angehörige, die ihre Erwerbstätigkeit aufgeben, zahlen häufig keine Sozialversicherungsbeiträge, aufgrund derer sie Anspruch auf eine künftige Altersrente erwerben könnten, und sind damit später unausweichlich auf Sozialleistungen und Armutsbekämpfungsmaßnahmen angewiesen.

2.12.

Der Abbau und die Kürzungen beim Angebot personen- und haushaltsbezogener Dienstleistungen führen in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten — wenn auch zu einem unterschiedlichen Grad — zu einer noch größeren Überlastung derjenigen, die ihre Angehörigen mit Behinderungen oder chronischen bzw. degenerativen Erkrankungen, einschließlich Krebs, betreuen.

2.13.

Da diese pflegenden Angehörigen nicht im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses tätig sind, kommen sie auch nicht in den Genuss von Gesundheitsschutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Prävention von Erkrankungen, die für Arbeitnehmer gestärkt und konsolidiert wurden.

2.14.

Aus den Erfahrungsberichten pflegender Angehöriger geht hervor, dass diese sich nicht aus freien Stücken für eine (Langzeit-)Betreuung entschieden haben, sondern sich wegen der Unzulänglichkeit des Pflegeangebots, und weil sie ihre Angehörigen nicht in einer Einrichtung unterbringen wollen, dazu gezwungen sahen. Und auch dann, wenn ein gutes Pflegeangebot vorhanden ist, müssen Angehörige stets einen mehr oder weniger großen Betreuungsaufwand übernehmen.

2.15.

Aufgrund fehlender Alternativen, Unterstützung und Hilfsdienste sind Menschen mit Behinderungen häufig nicht in der Lage, ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben außerhalb ihrer Herkunftsfamilie zu führen.

2.16.

Aus der Eurofound-Erhebung Living, Working and COVID-19 (5) geht hervor, dass die formelle und informelle häusliche Pflege während der Pandemie erheblich zugenommen hat, während die Inanspruchnahme institutionalisierter Pflege zurückgegangen ist.

2.17.

Tendenziell wenden die EU-Mitgliedstaaten systematisch deutlich mehr Sozialausgaben für die institutionalisierte Betreuung und Pflege auf als für autonomes Wohnen und eine selbständige Lebensführung. Dies steht im Widerspruch zu der Forderung, die die Europäische Kommission in der EU-Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2021-2030 an die Mitgliedstaaten richtet, gute Deinstitutionalisierungsverfahren im Bereich der psychischen Gesundheit und für alle Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kinder, umzusetzen, um den Übergang von der institutionellen Betreuung zu gemeindenahen Diensten zu unterstützen.

2.18.

Zu einer Überlastung kommt es bei der Betreuung von Personen mit unterschiedlichen Profilen — Menschen mit psychischer oder schwerer kognitiver Behinderung, Altersdemenz sowie chronischen, degenerativen oder Krebserkrankungen —, deren jeweilige Bedürfnisse die Intensität, Dauer und Form der erforderlichen Betreuung bestimmen, wobei der Betreuungsbedarf im Laufe der Zeit auch zunehmen und in der Folge zu einer Überbelastung führen kann. In vielen Fällen müssen die Angehörigen nicht nur die Betreuung, sondern auch die strikt krankenpflegerischen Tätigkeiten selbst übernehmen.

2.19.

In Bezug auf pflegende Angehörige bestehen nach wie vor zahlreiche, wenn auch unterschiedlich ausgeprägte Vorurteile, wie z. B. dass die Lage, in der diese sich befinden, schlicht Schicksal sei, aber auch das genaue Gegenteil davon, dass sie sich nämlich aus freien Stücken und ganz bewusst aus emotionalen Gründen dafür entschieden hätten, ihre Angehörigen zu betreuen. Da Menschen mit Behinderungen in bestimmten Situationen keine andere Wahl haben, als die Hilfe der Angehörigen in Anspruch zu nehmen, ist es für sie schwierig, persönliche Autonomie zu erlangen bzw. ein eigenständiges Leben zu führen, was ihre Entscheidungsfreiheit einschränkt oder sie daran hindert, ihren eigenen Weg zu gehen.

2.20.

Wenngleich große qualitative Unterschiede zwischen den Unterstützungsdiensten bestehen, spielt die Bewältigung von Notfällen (Erkrankung des Pflegenden, spezifische Engpässe, wohnraumbezogene Schwierigkeiten, Konflikte, Überforderung durch Stress usw.) bei außergewöhnlichen Ereignissen und damit verbundenen Belastungen und Sorgen eine besonders wichtige Rolle.

2.21.

Bei steigendem Druck und Fehlen einer alternativen Lösung zur Betreuung durch Familienmitglieder führt die Aussicht darauf, den pflegenden Angehörigen in absehbarer Zeit zu verlieren, weil dieser seine persönliche Autonomie einbüßt, von einer degenerativen Erkrankung betroffen ist, altert und versterben wird, begründeterweise zu großer Angst, die umso ausgeprägter ist, als keinerlei gute Betreuungsalternative besteht. Lasten die Betreuungsaufgaben ausschließlich auf den Angehörigen, führt dies insbesondere in Fällen mit sehr hohem Betreuungsaufwand zu einer Isolation der gesamten Kernfamilie, mit den vorhersehbaren Auswirkungen auch auf die Gesundheit der Betroffenen.

2.22.

Im EU-Recht ist keine einheitliche Anerkennung für pflegende Angehörige vorgesehen, die Familienmitglieder mit einer chronischen oder degenerativen Erkrankung bzw. einer Behinderung betreuen. Auch der Wert ihrer Dienste sowie die mit ihrer Arbeit verbundenen Risiken und Bedürfnisse werden nur unzureichend anerkannt.

2.23.

Selbst wenn es an Studien mangelt, die sämtliche Aspekte eines solchen Zusammenhangs erfassen und belegen und gegebenenfalls bewährte Verfahren aufzeigen können, scheint es einen Zusammenhang zwischen, einerseits, starker Ausgrenzung, hohem Risiko und Benachteiligung und, andererseits, der Qualität und Quantität der Dienstleistungen zu geben, die für die betroffenen Familien und die betreuungsbedürftigen Personen bzw. die Menschen mit Behinderung zur Verfügung stehen, um Letzteren eine selbständige Lebensführung zu ermöglichen und Haushaltsdienstleistungen, insbesondere Gesundheits- und Rehabilitationsdienste, bereitzustellen.

2.24.

In der Richtlinie (EU) 2019/1158 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige wurde zwar eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, um das Geschlechtergefälle bei den pflegenden Angehörigen zu reduzieren und für eine bessere Vereinbarkeit von Betreuungsaufgaben und Berufstätigkeit zu sorgen, jedoch wurde es abgesehen von einer Analyse der tatsächlichen Auswirkungen in den Mitgliedstaaten darin verabsäumt, auch diejenigen pflegenden Angehörigen zu berücksichtigen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, ihren Beruf aufgegeben haben oder in Rente sind.

2.25.

Wie bei der Anhörung der Thematischen Studiengruppe „Rechte von Menschen mit Behinderungen“ vom 16. September 2021 deutlich wurde, wird die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger, die die Langzeitbetreuung von Angehörigen mit Behinderungen oder chronischen bzw. degenerativen Erkrankungen übernehmen, vielfach von gemeinnützigen Organisationen geleistet, denen die pflegenden Angehörigen selbst angehören.

2.26.

In der EU-27 arbeiten rund 6,3 Mio. Menschen in der Langzeitpflege, was 3,2 % der gesamten Erwerbsbevölkerung der EU entspricht (basierend auf den Daten der Arbeitskräfteerhebung 2019). Es bestehen große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, und der sehr niedrige Anteil in einigen Ländern (Griechenland, Zypern, Rumänien, Polen, Bulgarien, Estland, Litauen, Kroatien, Italien, Ungarn, wo dieser 1,8 % oder weniger beträgt) spiegelt wohl die dortige Abhängigkeit von informeller Pflege durch Angehörige sowie von den Familien selbst engagierten Hauspflegekräften wider, die in diesen Statistiken nicht erfasst werden.

2.27.

Eine Eurofound-Studie aus dem Jahr 2020 hat ergeben, dass die Löhne in der Langzeitpflege und anderen sozialen Diensten 21 % unter dem Durchschnitt liegen, weshalb die Stiftung dazu aufruft, Tarifverhandlungen in der Branche zu fördern, um dieses Problem anzugehen (6).

3.   Eine politische Strategie für Betreuungs- und Pflegekräfte

3.1.

Es muss eine gemeinsame Definition der Rolle und des Status von Personen gefunden werden, die Langzeitbetreuung für Angehörige mit Behinderungen oder chronischen bzw. degenerativen Erkrankungen wie Demenz und Krebs leisten, indem u. a. die spezifischen Merkmale dieser Tätigkeiten beschrieben sowie diesbezügliche Leistungsstufen festgelegt werden. Eine solche Definition muss die Anerkennung des Status der pflegenden Angehörigen, der einschlägigen politischen Maßnahmen sowie der Unterstützungsdienste in der EU fördern.

3.2.

Im Zuge einer umfassenden Überprüfung der sozialpolitischen Maßnahmen ist es notwendig und angezeigt, die Einbindung und Beteiligung der (betreuenden wie auch der betreuten) Bürgerinnen und Bürger an der gemeinsamen Planung der sie betreffenden Dienste und vor allem an der strategischen Festlegung der diesbezüglichen politischen Maßnahmen zu stärken und sicherzustellen.

3.3.

Im Hinblick auf eine Bestandsaufnahme sollte eine Studie zu den Lebensbedingungen der Bürgerinnen und Bürger durchgeführt werden, die Langzeitbetreuung für Angehörige mit Behinderungen oder chronischen bzw. degenerativen Erkrankungen wie etwa Demenz und Krebs leisten.

3.4.

Um eine angemessene Faktenbasis für die Politikgestaltung zu schaffen, sollte Eurostat seine Erhebung Reconciliation of work and family life aus dem Jahr 2018 aktualisieren und dabei eingehender untersuchen, wie sich die Langzeitbetreuung von Angehörigen auf die betreuenden Familienmitglieder auswirkt, und zwar unabhängig davon, ob diese gleichzeitig eine Beschäftigung nachgehen oder nicht.

3.5.

Bürgerinnen und Bürger, die Langzeitbetreuung für Angehörige leisten, sollten einen angemessenen Gesundheitsschutz genießen (einschließlich Maßnahmen zur Prävention von Unfällen im Rahmen ihrer Pflegetätigkeiten sowie von Krankheiten bzw. Erkrankungen infolge ihrer Pflegetätigkeiten), der jenem der Arbeitnehmer und Selbstständigen möglichst ähnlich ist.

3.6.

Es sollten wirtschaftliche, rechtliche und wirkungsbezogene Analysen durchgeführt werden, um gemeinsame, faire und nachhaltige Kriterien für die Anerkennung der Betreuung von Angehörigen bei gleichzeitiger Ausübung einer regulären Erwerbstätigkeit als Schwerarbeit zu ermitteln.

3.7.

Mithilfe von wirtschaftlichen, rechtlichen und wirkungsbezogenen Analysen sollten auch Maßnahmen zur finanziellen Unterstützung derjenigen zu ermittelt werden, die ihre Erwerbstätigkeit aufgeben, um einen älteren oder aufgrund einer chronischen bzw. degenerativen Erkrankung oder einer Behinderung pflegebedürftigen Angehörigen zu betreuen.

3.8.

Im Einklang mit der EWSA-Stellungnahme „Gleichstellungsstrategie“ (7) müssen Maßnahmen ergriffen werden, um das bei den pflegenden Angehörigen bestehende Geschlechtergefälle anzugehen und die Umsetzung der bereits in der Richtlinie (EU) 2019/1158 enthaltenen diesbezüglichen Leitlinien zu stärken.

3.9.

Der Erfolg und die Wirksamkeit von Strategien und Dienstleistungen für pflegende Angehörige hängen eng mit den politischen Maßnahmen und den Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen zusammen, die ein eigenständiges Leben außerhalb ihrer Herkunftsfamilie führen wollen bzw. können, aber auf die Betreuung in dieser Familie angewiesen sind.

3.10.

Bislang ist nur ein fragmentarisches und unvollständiges Wissen und Bewusstsein für dieses Thema vorhanden, und das auch nur in einem beschränkten Kreis von Beobachtern und sozialen Akteuren. Dieser Mangel muss auch durch konkrete Sensibilisierungsinitiativen ausgeglichen werden, die auf eine Stärkung angemessener Unterstützungsstrategien und -maßnahmen abzielen. Der EWSA fordert daher die Einführung eines Europäischen Tages der pflegenden Angehörigen.

3.11.

Der EWSA fordert die EU auf, eng mit den Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten, um die Lebensbedingungen sowohl von pflegenden Angehörigen als auch ihrer Kernfamilien zu verbessern und zu verhindern, dass sie diese Betreuungsarbeit nicht nur deshalb leisten, weil sie de facto gar keine andere Wahl haben. Konkrete Maßnahmen zur Umsetzung dieses Ziels sollten u. a. Folgendes umfassen:

Anerkennung und Aufwertung des Beitrags der Betroffenen auch im Bereich der gemeindenahen Dienste;

Bereitstellung von Dienstleistungen und Unterstützung in Bezug auf Wohnen, um Isolation, Marginalisierung sowie psychische und physische Überlastung zu vermeiden;

Stärkung der Haushaltsdienstleistungen unter besonderer Berücksichtigung des Gesundheits- und Krankenpflegebedarfs;

Bereitstellung psychologischer Unterstützung für pflegende Angehörige und die betroffenen Kernfamilien;

Erleichterungen und vereinfachten Verfahren zur Erledigung von Amtswegen;

Bereitstellung von Notdiensten für den Fall, dass ein unerwartetes Ereignis eintritt oder die Betreuung nicht erfolgen kann;

Bereitstellung von Hilfsdiensten, um die Folgen einer dauerhaften psychischen und physischen Be- und Überlastung der Angehörigen einzudämmen;

Maßnahmen — u. a. Transferleistungen —, um der Gefahr einer Verarmung pflegender Angehöriger, die ihre Erwerbstätigkeit aufgeben oder zeitlich reduzieren, sowie der betroffenen Kernfamilien insgesamt entgegenzuwirken;

Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Förderung des Angebots an Langzeitbetreuungskräften sowohl in qualitativer als auch quantitativer Hinsicht;

wo immer möglich, Förderung von Maßnahmen zur Erlangung persönlicher Autonomie, von alternativen Wohnlösungen sowie einer eigenständigen Lebensführung für Menschen mit Behinderungen;

Verbesserungen für pflegende Angehörige auf der Grundlage gemeinsamer Maßnahmen der Behörden (Anerkennung und Stärkung der Rolle pflegender Angehöriger, Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit von Dienstleistungen, Gesundheit der pflegenden Angehörigen, Förderung von Not- und Unterstützungsdiensten sowie von Sozialschutz- und Vergütungsregelungen für pflegende Angehörige usw.), der Arbeitgeber im Rahmen des sozialen Dialogs sowie der pflegenden Angehörigen selbst und ihrer Vertretungsorganisationen, wobei sicherzustellen ist, dass diese von der Konzipierung öffentlicher Maßnahmen bis hin zu ihrer Umsetzung durchgehend einbezogen werden.

Brüssel, den 26. Oktober 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 77.

(2)  Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige und zur Aufhebung der Richtlinie 2010/18/EU des Rates (ABl. L 188 vom 12.7.2019, S. 79).

(3)  „Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben“, Eurostat 2018.

(4)  ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 19, Ziffer 3.8.

(5)  https://www.eurofound.europa.eu/publications/report/2020/living-working-and-covid-19

(6)  Eurofound (2020), Long-term care workforce: Employment and working conditions.

(7)  ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 77.