22.11.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 443/51


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Kosten des Verzichts auf EU-politisches Handeln — die Vorteile des Binnenmarkts“

(Sondierungsstellungnahme)

(2022/C 443/07)

Berichterstatter:

Philip VON BROCKDORFF

Ko-Berichterstatterin:

Émilie PROUZET

Befassung

Vorsitz des Rates der Europäischen Union, 26.1.2022

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

27.6.2022

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

63/1/1

Verabschiedung im Plenum

13.7.2022

Plenartagung Nr.

571

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

194/0/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Nach Auffassung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) geht es beim Binnenmarkt darum, durch soziale und wirtschaftliche Konvergenz den Wohlstand zu steigern. Auf diese Weise sollen Ungleichheiten abgebaut und sichergestellt werden, dass die Verschärfung der sozialen Ungleichgewichte nicht zu schwerwiegenden Hindernissen für die europäische Integration führt.

1.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die nationalen Rechtsvorschriften, die den Binnenmarkt behindern könnten, der Europäischen Kommission mitgeteilt werden und mit entsprechenden Kommentaren und Einschätzungen versehen sein müssen. Sonst bleiben diese Verfahren unwirksam und schaffen unnötige Hindernisse.

1.3.

Bezüglich der nationalen Zertifizierung empfiehlt der EWSA den Mitgliedstaaten, sich im Rahmen der „verstärkten Zusammenarbeit“ zu weniger restriktiven nationalen Maßnahmen zu verpflichten.

1.4.

Der EWSA fordert auch eine wirksame Umsetzung und Durchsetzung bereits ausgehandelter und beschlossener Richtlinien wie des Pakets „Bessere Rechtsetzung“.

1.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass das Gesetz über digitale Dienste (1) und das Gesetz über digitale Märkte (2) entscheidende Schritte zur Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen für alle Akteure auf den digitalen Märkten sind. Die größtmögliche Harmonisierung des Anwendungsbereichs des Gesetzes über digitale Märkte sollte zudem Vorrang haben.

1.6.

Der freie Datenverkehr ist ebenfalls von entscheidender Bedeutung für die Innovation in Europa, für das Wachstum der Unternehmen und die Unterstützung des digitalen Binnenmarkts.

1.7.

Der EWSA betont, dass territoriale Angebotsbeschränkungen die Entwicklung des Binnenmarkts behindern, und fordert die Europäische Kommission auf, die wettbewerbswidrigen Auswirkungen solcher Beschränkungen zu bekämpfen.

1.8.

Der EWSA empfiehlt ein koordiniertes Vorgehen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Vermarktung von Produkten, die von der Krise in der Ukraine betroffen sind. Die Krise infolge der Aggression Russlands hat zu erheblichen Lieferbeschränkungen geführt.

1.9.

Der EWSA empfiehlt wirksamere nationale politische Maßnahmen und die Schaffung von Mobilitätsanreizen, wobei ein Schwerpunkt auf aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, wie z. B. Lohnergänzungsleistungen für Arbeitnehmer aus der EU liegen sollte.

1.10.

Der EWSA weiß, dass die Kapitalmarktunion ein komplexes Projekt ist. Er stellt jedoch fest, dass in der EU immer noch 27 Kapital- und Finanzmärkte bestehen, die nicht als ein Ganzes funktionieren, weshalb der Binnenmarkt seine Potenziale nicht voll entfalten kann.

1.11.

In dieser Zeit großer Unsicherheit muss die Wettbewerbspolitik besonders auf die Umsetzung der Übergangsprozesse ausgerichtet werden, denen sich die EU verschrieben hat. Zudem ist jedwede Form von Handels-, Sozial-, Regulierungs-, Steuer- oder Umweltdumping, die eine Verzerrung des Wettbewerbs bewirkt, zu untersagen.

1.12.

Schließlich ist der EWSA der Auffassung, dass eine „offene strategische Autonomie“ insbesondere in Schlüsselbereichen angestrebt werden sollte, um Resilienz, Diversifizierung und eine ehrgeizige Handelsagenda zu fördern.

2.   Hintergrund

2.1.   Zweck des Binnenmarkts

2.1.1.

Der Zweck des EU-Binnenmarkts liegt in der Beseitigung von Hindernissen für den Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr, um die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit in der gesamten EU zu steigern.

2.2.   Gemeinsame Verantwortung für den Binnenmarkt

2.2.1.

Das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts fällt in die gemeinsame Verantwortung der EU und der Mitgliedstaaten. Derzeit gibt es jedoch bei der Auslegung und Anwendung des EU-Rechts noch viele Unterschiede. Diese Unterschiede sind in vielen Fällen ungerechtfertigt oder unverhältnismäßig und stellen definitiv ein Hindernis für den freien Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr dar.

2.3.   Zuständigkeit der Mitgliedstaaten

2.3.1.

Objektiv gesehen kann es schlüssige Gründe für Abweichungen zwischen den Mitgliedstaaten geben, doch werden diese nicht immer angegeben. Zudem bemühen sich die Mitgliedstaaten nicht immer darum, die Gründe für Abweichungen auf nationaler Ebene gegen mögliche negative Auswirkungen auf den Binnenmarkt abzuwägen. Folglich bestehen in der EU nach wie vor viele regulatorische und sonstige Hindernisse, die dafür sorgen, dass der Binnenmarkt unvollendet und fragmentiert ist, bspw. durch:

nationale Rechtsvorschriften, die mit der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips begründet werden;

die Nichteinhaltung des gemeinhin geltenden Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung;

die Zunahme von Überregulierung, die auch als „Gold Plating“ bezeichnet wird, und von nicht konformen Umsetzungen durch Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten, die auf EU-Ebene vereinbarte EU-Rechtsvorschriften übermäßig umsetzen. Eine Reihe von Hindernissen für den Binnenmarkt sind auf eine fehlerhafte oder unvollständige Anwendung der EU-Rechtsvorschriften zurückzuführen. Zudem wenden die Mitgliedstaaten nationale Vorschriften an, die den Zielen des Binnenmarkts zuwiderlaufen. Daher haben eine ungenaue oder fehlerhafte Umsetzung durch die Mitgliedstaaten und eine mangelnde Durchsetzung durch die Kommission sowohl auf EU-Ebene als auch auf nationaler Ebene negative Folgen für Bürgerinnen und Bürger sowie für Unternehmen;

die Anwendung bevorstehender europäischer Maßnahmen auf nationaler Ebene durch Regierungen und Parlamente, die die Umsetzung von EU-Strategien zu antizipieren und dabei nationale Interessen in den Vordergrund zu rücken versuchen, obwohl die Ausarbeitung der entsprechenden Strategien durch die Kommission noch nicht abgeschlossen ist. Ein Beispiel hierfür ist die EU-Strategie zur Förderung der Kreislaufwirtschaft;

die Priorisierung nationaler Interessen gegenüber Fragen im Zusammenhang mit strategischen europäischen Ökosystemen.

2.4.   Die wirtschaftlichen Kosten der Beschränkungen des Binnenmarkts

2.4.1.

Die vorstehend genannten Beispiele veranschaulichen die wichtigsten Kosten des Verzichts auf EU-politisches Handeln, während mehrere Studien die enormen wirtschaftlichen Vorteile eines vollendeten Binnenmarkts aufzeigen. Dem zusammenfassenden Bericht des Europäischen Parlaments zufolge liegen diese Vorteile zwischen 650 Mrd. und 1,1 Billionen EUR pro Jahr, was zwischen 5 und 8,6 % des BIP der EU entspricht (3).

2.4.2.

In dieser von RAND Europe im Auftrag des Europäischen Parlaments durchgeführten Studie wurde untersucht, welche wirtschaftlichen Auswirkungen geringere Handelshemmnisse auf den Binnenmarkt hätten. Der Studie zufolge würden die sich aus geringeren Handelshemmnissen ergebenden Verbesserungen bei den Handelsströmen, dem Wirtschaftswachstum und der Schaffung von Arbeitsplätzen zu wirtschaftlichen Vorteilen im Umfang von 183 bis 269 Mrd. EUR pro Jahr führen (4).

2.4.3.

Die Einschätzung der Kommission bezüglich eines vollständig integrierten digitalen Binnenmarkts der EU gibt auch Aufschluss über das ungenutzte Potenzial. Nach Angaben der Europäische Kommission könnten so Innovationen gefördert, ein jährlicher Beitrag von 415 Mrd. EUR zur EU-Wirtschaft geleistet und Hunderttausende neue Arbeitsplätze geschaffen werden (5).

2.4.4.

All dies deutet auf den erheblichen potenziellen wirtschaftlichen Nutzen (und die damit verbundenen Sozialleistungen) hin, die ein vollständigerer Binnenmarkt hätte bieten können. In anderen Worten: dies entspricht den wirtschaftlichen Gesamtkosten oder dem entgangenen Mehrwert und dem nicht erzielten Gemeinwohl aufgrund des Verzichts auf EU-politisches Handeln.

2.4.5.

Trotz der Beschränkungen hat der Binnenmarkt bisher dazu beigetragen, den wirtschaftlichen Wohlstand der EU zu erhalten und zu fördern. Die Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz der EU-Wirtschaft müssen jedoch durch weitere Binnenmarktreformen sowie durch die Beseitigung strategischer Abhängigkeiten gestärkt werden. Es muss auch eine Unternehmenskultur in der EU gefördert werden, in der innovative Unternehmen aller Größenordnungen, insbesondere KKMU sowie Start-up-Unternehmen, wirksamer unterstützt werden und florieren können, um zu einer resilienteren und von Zusammenhalt geprägten Gesellschaft beizutragen. Ebenso wichtig ist, dass ein reibungslos funktionierender Binnenmarkt die Vision eines sozialeren Europas voranbringt, eines Europas, bei dem das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger ganz oben auf der politischen Agenda steht und eine Absenkung der sozialen Standards auf den kleinsten gemeinsamen Nenner vermieden wird.

3.   Hemmnisse

3.1.

Die bestehenden Hindernisse umfassen Regulierungsfragen, Fragen des nationalen Rechts, Steuerfragen, Logistik- und Versorgungsfragen sowie andere weiter differenzierte Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten, die den Handel in der EU nach wie vor erschweren.

3.2.

Dadurch werden auch zentrale Wirtschaftsbereiche wie der Dienstleistungssektor behindert, der nach wie vor in nationale Märkte zersplittert ist aufgrund

traditionell restriktiver nationaler Vorschriften, die häufig mit dem Subsidiaritätsprinzip begründet werden;

einer mangelhaften Umsetzung und Anwendung der Dienstleistungsrichtlinie, was eine Einschränkung der Niederlassungsfreiheit, des freien Dienstleistungsverkehrs und der Dienstleistungsfreiheit zur Folge hat;

nationaler Handelsgesetze, die Unternehmen in ihrer Geschäftstätigkeit einschränken. Solche Gesetze beeinträchtigen häufig die Wettbewerbsfähigkeit des Sektors, sind protektionistisch und erschweren Investitionen vertrauenswürdiger und legaler Unternehmen in anderen Mitgliedstaaten;

nationaler Anforderungen, die den freien Warenverkehr einschränken. Häufig melden die Mitgliedstaaten neue nationale technische Anforderungen nicht gemäß dem in der Richtlinie (EU) 2015/1535 des Europäischen Parlaments und des Rates (6) festgelegten Verfahren oder wenden den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung bei nicht harmonisierten Tätigkeiten nicht an, etwa durch Überregulierung bei der Umsetzung bestimmter Richtlinien.

3.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass Vertragsverletzungsverfahren langwierig und kostspielig sind und dass das Ergebnis ungewiss ist. Die dadurch entstehenden übermäßigen Kosten halten Unternehmen davon ab, ihre Geschäftstätigkeit auszuweiten oder anderswo in der EU zu investieren. Darüber hinaus werden Verbrauchern durch diese Einschränkungen eine größere Auswahl, bessere Dienstleistungen und niedrigere Preise vorenthalten. Der EWSA fordert zudem ein entschlosseneres Handeln der Kommission bei der Anwendung von Vertragsverletzungsverfahren.

3.4.

Diese Kosten wirken sich auf die Gesamtwirtschaft und beeinträchtigen die Wettbewerbsfähigkeit, das Wachstumspotenzial und die weitere Entwicklung der Marktwirtschaft.

3.5.

Zwar betreffen externe Schocks die EU ebenso wie alle anderen Volkswirtschaften, doch hängen die Reaktion auf diese Schocks und deren Auswirkungen an den Märkten im Wesentlichen von den Strategien der einzelnen Mitgliedstaaten vor Ort und den Maßnahmen zur Ankurbelung der Konjunktur ab. Der Krieg in der Ukraine hat die Abhängigkeit der EU von globalen Wertschöpfungsketten offenbart. Durch die aktuelle Krise werden die Wirtschaftszweige wahrscheinlich unterschiedlich beeinträchtigt. Allerdings besteht kein Zweifel daran, dass die Architektur des Binnenmarkts Schwachstellen aufweist. Hierzu gehören insbesondere die Einschränkungen des freien Verkehrs von Waren, Dienstleistungen und wesentlichen Rohstoffen.

3.6.

Schließlich sei darauf hingewiesen, dass rund 82 % der im Binnenmarkt gehandelten Güter harmonisierten Vorschriften unterliegen und etwa 18 % des Warenhandels innerhalb der EU von Bestimmungen über eine gegenseitige Anerkennung abgedeckt ist. Trotzdem kommt es immer noch zu neuen Fällen nationaler technischer Vorschriften, die dem EU-Recht zuwiderlaufen. Darüber hinaus kam es in jüngster Zeit in vielen Mitgliedstaaten zu einer Zunahme der nationalen Kennzeichnungspflichten für Lebensmittel und Getränke, was mit Verbraucherschutz- und Umweltbelangen begründet wurde. Gleichzeitig gibt es Schwierigkeiten bei der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung. Dies wird dadurch belegt, dass 71 % der KMU, die die Anwendung des bestehenden Systems der gegenseitigen Anerkennung nicht harmonisierter Waren beantragt hatten, der Marktzugang verweigert wurde.

4.   Beseitigung der Hemmnisse

4.1.

Die nachstehend genannten Maßnahmen würden dazu beitragen, einige der potenziellen wirtschaftlichen Vorteile des Binnenmarkts zu erschließen.

4.2.   Wirksamere Nutzung der vorhandenen Instrumente

4.2.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Entwürfe nationaler Rechtsvorschriften, die den Binnenmarkt behindern könnten, der Kommission mitgeteilt werden und mit entsprechenden Kommentaren und Einschätzungen versehen sein müssen. Ohne die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Notifizierung und Stellungnahme/Bewertung bleiben solche Verfahren unwirksam. Daher ist eine wirksamere Überwachung nötig, um die Harmonisierung der Produktmarktregulierung zwischen den EU-Mitgliedstaaten zu unterstützen. So kam es im Einzelhandel in jüngster Zeit zu einem Anstieg nationaler Einschränkungen in Form von Genehmigungspflichten und Anforderungen in Bezug auf den inländischen Fertigungsanteil. Dies läuft den Artikeln 28 und 30 AEUV zuwider. So werden bei Käufen von Produkten, die im Binnenmarkt bereits rechtmäßig in Verkehr gebracht wurden, häufig erneute Prüfungen auf nationaler Ebene durchgeführt. In Bezug auf Dienstleistungen vertritt der EWSA auch die Auffassung, dass das in der Dienstleistungsrichtlinie vorgesehene Mitteilungsverfahren nicht so gut funktioniert wie erwartet. In Bezug auf die Niederlassungsfreiheit stellt der EWSA mit Bedauern fest, dass die Mitgliedstaaten keinen Kompromiss über den Vorschlag für eine sogenannte Notifizierungsrichtlinie erzielt haben. Diese hätte die Mitgliedstaaten stärker dazu verpflichtet, der Kommission Entwürfe von Gesetzen oder Verordnungen über Genehmigungsregelungen für Dienstleistungen (und somit für die Stadtplanung) mitzuteilen (7). Der EWSA ersucht die Kommission und die Mitgliedstaaten auch, bei der Mitteilung technischer Vorschriften durch Mitgliedstaaten detailliertere Angaben zur Begründung und Verhältnismäßigkeit vorzulegen. Zudem muss sichergestellt werden, dass die mitgeteilten Vorschriften unabhängig von dem angewandten Mitteilungsverfahren angemessen geprüft werden (8). Nach Auffassung des EWSA ist im Hinblick auf die Gesetzgebung ein konzeptueller Übergang von der Mindestharmonisierung zu einer größtmöglichen Harmonisierung erforderlich.

4.2.2.

Ein weiterer Problembereich ist die Anwendung von Maßnahmen, mit denen geplante EU-Vorschriften vorzeitig umgesetzt werden. Hierzu zählen beispielsweise nationale Zertifizierungsanforderungen, die gezielt darauf ausgerichtet sind, insbesondere im Agrar- und Lebensmittelsektor ein gewisses Maß an Schutz zu gewährleisten. Der EWSA vertritt die Auffassung, dass solche Einschränkungen reiner Protektionismus sind und dass aufgedeckte Einschränkungen für Einzelhändler häufig viel zu lange in Kraft bleiben, weil es langwierig und aufwendig ist, sie zurückzunehmen. Um dies zu verhindern, könnten sich die Mitgliedstaaten nach Auffassung des EWSA stattdessen zu weniger restriktiven nationalen Maßnahmen über den im Vertrag vorgesehenen Weg der „verstärkten Zusammenarbeit“ verpflichten. Darüber hinaus verweist der EWSA auf das Paneuropäische Private Pensionsprodukt, das als Standardrahmen für die Unterstützung des Binnenmarkts auch in anderen Bereichen angewandt werden könnte.

4.2.3.

Der EWSA ist auch der Auffassung, dass derartige Probleme im Rahmen des Europäischen Semesters wirksam angegangen werden könnten. Konkret könnte die Kommission verhältnismäßige Maßnahmen ergreifen, wenn Verpflichtungen im Zusammenhang mit den länderspezifischen Empfehlungen nicht eingehalten werden. Beispielsweise könnte sie in solchen Fällen die Auszahlung etwaiger EU-Mittel aussetzen. Dies steht im Einklang mit den von der Kommission herausgegebenen Leitlinien für die Mitgliedstaaten zu den Aufbau- und Resilienzplänen, deren Fokus auf der Beseitigung regulatorischer und sonstiger Hindernisse für den Binnenmarkt sowie auf den Bedingungen liegt, unter denen die Mitgliedstaaten die Auflagen des Europäischen Semesters erfüllen müssen.

4.2.4.

Schließlich fordert der EWSA eine wirksame Umsetzung und Durchsetzung der bereits ausgehandelten und verabschiedeten Richtlinien. In diesem Zusammenhang sollten sich die Kommission und die Mitgliedstaaten dazu verpflichten, vorbehaltlich fundierter Folgenabschätzungen das Paket „Bessere Rechtsetzung“ umzusetzen.

4.3.   Erschließung des Potenzials des digitalen Binnenmarkts

4.3.1.

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass der Aufschwung der digitalen Wirtschaft in Europa Chancen für wirtschaftliches Wachstum bietet. Die potenziellen wirtschaftlichen Vorteile könnten durch eine stärkere Integration der digitalen Dienste in den Mitgliedstaaten erschlossen werden.

4.3.2.

Vor diesem Hintergrund ist der EWSA der Auffassung, dass das Gesetz über digitale Dienste (DSA) und das Gesetz über digitale Märkte (DMA) ein entscheidender Schritt zur Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen für alle Akteure auf digitalen Märkten sind. DSA und DMA sind unabhängig vom Standort des Diensteanbieters oder dem für die Erbringung der Dienstleistung geltenden Recht auf bestimmte Dienste ausgerichtet. Dabei gehen sie in zweckmäßiger Weise die Frage der Gleichbehandlung europäischer und globaler Online-Anbieter an. Nach Ansicht des EWSA muss zudem unbedingt verhindert werden, dass die Vervielfachung der nationalen Rechtsvorschriften zu einer weiteren Fragmentierung des Binnenmarkts führt.

4.3.3.

Darüber würde die EU durch eine verstärkte Nutzung von Online-Diensten und eine Verbesserung der digitalen Infrastruktur finanziell erheblich profitieren. Die Kommission empfiehlt diesbezüglich, zur kompletten elektronischen Auftragsvergabe und Rechnungsstellung überzugehen. Schätzungen zufolge könnte durch einen vollständigen Übergang zur elektronischen Auftragsvergabe ein beachtlicher jährlicher Zugewinn von 50 bis 75 Mrd. EUR erzielt werden (9).

4.3.4.

Schließlich ist der EWSA der Auffassung, dass der freie Datenverkehr für die Innovation in Europa, das Wachstum von Unternehmen aller Größenordnungen, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verwirklichung eines digitalen Binnenmarkts entscheidend ist. Die Rechtsvorschriften zur Unterstützung des freien Datenverkehrs sind bereits in Kraft. In diesem Zusammenhang gilt es allerdings, ungerechtfertigte Anforderungen an die Datenlokalisierung zu vermeiden.

4.4.   Beseitigung von Versorgungsengpässen

4.4.1.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Geoblocking-Verordnungen von 2018 zur Erleichterung des Handels innerhalb der EU beigetragen haben. Dennoch sind Verbraucher in Europa nach wie vor vom Geoblocking von Waren und Dienstleistungen betroffen. Der EWSA betont, dass es anhaltende territoriale Angebotsbeschränkungen gibt, die in Form unterschiedlicher Praktiken zutage treten. Hierzu zählen unter anderem die Weigerung, einen bestimmten Händler zu beliefern, oder die Drohung, seine Belieferung einzustellen, die Begrenzung der Mengen, die den Mitgliedstaaten für den Verkauf zur Verfügung stehen, unerklärliche Unterschiede bei Produktpaletten und Preisen zwischen den EU-Mitgliedstaaten oder die Beschränkung der Sprachoptionen für die Produktverpackung. Der EWSA merkt an, dass territoriale Angebotsbeschränkungen die Entwicklung des Binnenmarkts behindern und seine potenziellen Vorteile für die Verbraucher mindern. Er fordert die Kommission auf, die wettbewerbswidrigen Auswirkungen solcher Angebotsbeschränkungen anzugehen, damit ein voll funktionsfähiger Binnenmarkt entstehen kann.

4.4.2.

Die russische Invasion in der Ukraine hat erhebliche Risiken in Bezug auf die Energie- und Ernährungssicherheit aufgezeigt, die ein einheitliches strategisches Vorgehen der EU erfordern. Der EWSA vertritt die Auffassung, dass ein gut funktionierender Binnenmarkt diese Strategie begünstigen und den Preisdruck, der die Kaufkraft in der gesamten EU rasch mindert, teilweise abfedern kann. In dieser Hinsicht begrüßt der EWSA die auf EU-Ebene unternommenen Bemühungen um eine freiwillige Zusammenarbeit bei der gemeinsamen Beschaffung von Gas, deren Ziel in einer Minderung des auf den Energiepreisen lastenden Drucks besteht.

4.4.3.

Der EWSA bedauert jedoch, dass die Mitgliedstaaten für andere von der Krise in der Ukraine betroffene Produkte bislang kein koordiniertes Vorgehen angestrebt haben.

4.5.   Verbesserung der grenzüberschreitenden Mobilität von Arbeitnehmern und Fachkräften

4.5.1.

Die EU-weite Mobilität von Arbeitnehmern und Fachkräften ist trotz der Maßnahmen der EU zur Erleichterung der Freizügigkeit nach wie vor ein Problem. Das führt u. U. zu einem verringerten Angebot und zu Missverhältnissen zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt für Bereiche wie den IT- und dem High-Tech-Sektor. Die europäischen und nationalen Daten lassen darauf schließen, dass der Umfang der Mobilität sowohl zwischen als auch innerhalb von Ländern im internationalen Vergleich nach wie vor gering ist.

4.5.2.

Insbesondere empfiehlt der EWSA wirksamere nationale politische Maßnahmen zur Schaffung von Mobilitätsanreizen, wobei ein Schwerpunkt auf aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, wie z. B. Lohnergänzungsleistungen für Arbeitnehmer aus der EU und Arbeitnehmer aus Drittländern mit Flüchtlingsstatus, liegen sollte. Diesbezüglich vertritt der EWSA die Auffassung, dass die Mobilität zusätzlich gefördert werden könnte, indem potenzielle Aufnahmeländer Arbeitsuchenden finanzielle Anreize bieten, eine Beschäftigung außerhalb ihres Mitgliedstaats oder ihrer Region aufzunehmen. Darüber hinaus bedarf es weiterer Anstrengungen, um bessere Informationen über Arbeitsplätze in anderen EU-Ländern sowie Angebote zur logistischen Unterstützung bei Umzügen in andere Länder — etwa bei der Suche nach einer Unterkunft, einer Schule für die Kinder oder einer Beschäftigung für den/die Partner(in) oder bei der Registrierung für steuerliche Zwecke — bereitzustellen. Der EWSA weist jedoch darauf hin, dass die Arbeitskräftemobilität in der EU unter der bisher verfolgten fragmentarischen Herangehensweise gelitten hat. Folglich gilt es, weitere fragmentarische Maßnahmen, insbesondere auf nationaler Ebene, zu vermeiden.

4.5.3.

Die Anerkennung von Diplomen und Befähigungsnachweisen — für die Besetzung freier Stellen in Bereichen mit anhaltendem Arbeitskräftemangel von entscheidender Bedeutung — ist in der gesamten EU nach wie vor problematisch. Nach Auffassung des EWSA ist das bestehende System nach wie vor zu stark von den einzelnen Regierungen abhängig, wobei die Mitgliedstaaten ihre eigenen Vorschriften anwenden können. Die Kommission sollte dafür sorgen, dass die Mitgliedstaaten ihre Vorgehensweise bei der Anerkennung von Diplomen und sonstigen Qualifikationen stärker aufeinander abstimmen.

4.5.4.

Schließlich kann die Mobilität von Arbeitnehmern und Fachkräften in der EU nur dann verbessert werden, wenn die bestehenden Bestimmungen besser durchgesetzt werden und der Informationszugang sowie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten verbessert werden. Der EWSA stellt fest, dass einige Mitgliedstaaten weiteren Binnenmarktreformen gegenüber abgeneigt sein könnten, da sie befürchten, dass diese auf kurze Sicht zu Arbeitsplatzverlusten und Einbußen in bestimmten Wirtschaftszweigen führen könnten. Dies gilt insbesondere für Länder, die bereits Rückstände aufweisen, sowie für Länder und Wirtschaftszweige mit einer geringen Produktivität. Theoretisch wäre die Arbeitnehmerfreizügigkeit einer Lösung für dieses Problem zuträglich. Aus nationaler Sicht könnte dies jedoch vorübergehend zu einem Verlust an Ressourcen und einer potenziellen Abwanderung von Fachkräften führen.

4.6.   Verbesserung der Kapitalströme und Finanzdienstleistungen innerhalb der EU

4.6.1.

Dieselben Erwägungen gelten für die EU-Kapitalmärkte. Der EWSA ist sich bewusst, dass der Aufbau der Kapitalmarktunion ein komplexes Unterfangen ist, das darauf abzielt, die Kapitalmärkte der EU-Mitgliedstaaten zu vertiefen und weiter zu integrieren. Hierfür ist es erforderlich, dass in einer Vielzahl von Bereichen Maßnahmen ergriffen und regulatorische Änderungen vorgenommen werden. Darüber hinaus bringt dies nicht nur auf EU-Ebene, sondern auch auf Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten Verantwortlichkeiten mit sich. Der EWSA stellt fest, dass die EU 2022 noch weit von der angestrebten Vollendung der Kapitalmarktunion entfernt ist. Wenngleich insbesondere mit dem Paket zur Förderung der wirtschaftlichen Erholung über die Kapitalmärkte gewisse Fortschritte erzielt werden konnten, bestehen in der EU nach wie vor 27 Kapitalmärkte, die nicht als ein Ganzes funktionieren. Das europäische Finanzwesen weist nach wie vor eine starke Fragmentierung entlang nationaler Grenzen auf, wobei Sparer und Anleger übermäßig von den jeweiligen nationalen Rahmenbedingungen abhängig sind. Dies gilt auch für allgemeine Finanzdienstleistungen, einschließlich für Privatkunden sowie in Bezug auf Inlandseinlagen.

4.6.2.

Nach Ansicht des EWSA beeinträchtigt dies sowohl die wirtschaftliche Erholung als auch das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Die wirtschaftlichen Vorteile der Kapitalmarktunion liegen auf der Hand. Allerdings erfordert die Vollendung der Kapitalmarktunion sowohl die politische Unterstützung der einzelnen Mitgliedstaaten als auch wirksame Initiativen der Kommission, einschließlich solcher, die auf die Stärkung der internationalen Rolle des Euro abzielen. Zudem ist nicht zu unterschätzen, welch wichtige Rolle die Digitalisierung für die Kapitalmarktunion spielt.

4.7.   Ein wesentlich stärkerer politischer Wille zur Beseitigung von Beschränkungen auf dem Binnenmarkt

4.7.1.

In dieser Zeit großer Unsicherheit plädiert der EWSA für eine Wettbewerbspolitik, die besonders auf den Erfolg der von der EU selbst eingeleiteten Übergangsprozesse abzielt. Diese erfordern eine ehrgeizige Handels- und Investitionspolitik, außerordentliche öffentliche und private Investitionen, Innovation, weitere soziale, wirtschaftliche und ökologische Fortschritte und einen gut funktionierenden Binnenmarkt. All dies muss durch einen rechtlichen und finanziellen Rahmen flankiert werden, der gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Interessenträger, Regionen und Bürger in der gesamten EU gewährleistet. Die Integrität des EU-Binnenmarkts und die Vermeidung seiner Fragmentierung sind hierfür Schlüsselfaktoren. Ein gut funktionierender Binnenmarkt und eine gut funktionierende Wettbewerbspolitik, die Unternehmen und Verbrauchern unter gleichen Rahmenbedingungen den Zugang zu einem enormen Wettbewerbsmarkt ermöglichen, sind von größter Bedeutung. Dadurch werden Effizienz und Innovation gefördert und ein Umfeld geschaffen, in dem erfolgreiche Unternehmen wachsen können.

4.7.2.

Nach Auffassung des EWSA können durch Harmonisierungen und die Beseitigung von Hindernissen für den freien Verkehr im Binnenmarkt Wettbewerb, Innovation und Produktivitätsgewinne gesteigert werden. Jedwedes Handels-, Sozial-, Regulierungs-, Steuer- oder Umweltdumping, das eine Verzerrung des Wettbewerbs bewirkt, muss untersagt werden. Der EWSA erwartet von allen Mitgliedstaaten, dies zu respektieren. Er fordert, dass unsere externen Partner die Grundwerte und Grundrechte der EU in den Bereichen Soziales, Wirtschaft und Umwelt achten.

4.7.3.

Der EWSA rät dazu, dass der Binnenmarkt nicht länger als ideales globales Handelsabkommens gepriesen werden sollte, dessen Bestimmungen in Verhandlungen angepasst werden können. Der Binnenmarkt ist viel mehr als das. Es geht auch darum, durch soziale und wirtschaftliche Konvergenz den Wohlstand zu steigern. Auf diese Weise sollen Ungleichheiten abgebaut und verhindert werden, dass eine Verschärfung der sozialen Ungleichgewichte und eine allgemeine Zunahme der Armut letztlich zu schwerwiegenden Hindernissen für die europäische Integration werden. Deshalb hebt der EWSA die grundlegenden Sozialrechte und die Rechte der Arbeitnehmer auf angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen hervor, und zwar nicht nur im Hinblick auf ihre Wechselwirkung mit den wirtschaftlichen Freiheiten, sondern auch in Bezug auf den Binnenmarkt und den Arbeitsmarkt, den Wettbewerb und alle anderen politischen Maßnahmen der Union, darunter u. a. Bereiche wie wirtschaftspolitische Steuerung, Handel, Digitalisierung und Umwelt. Damit soll auch die Autonomie der Sozialpartner gewahrt und gestärkt sowie ein klarer Bezug zur Achtung und Förderung kollektiver sozialer Rechte hergestellt werden. Von entscheidender Bedeutung ist zudem, dass die Grundrechte umfassend geschützt und in den Verträgen verankert werden.

4.7.4.

Der EWSA stellt fest, dass der Binnenmarkt kontinuierlich auf Veränderungen reagieren muss, die sich im Zusammenhang mit dem technologischen Wandel, der Globalisierung, Entwicklungen in den Bereichen Bildung, Arbeit und Kapitalmärkte und nicht zuletzt mit globalen Krisen und Konflikten ergeben. Allem Dafürhalten nach ist ein Weitermachen wie bisher nicht möglich. Der derzeitigen Krisenlage und den veränderten Umständen müssen bei der Vorlage von Rechtsvorschriften Rechnung getragen werden.

4.7.5.

Der EWSA ist der Ansicht, dass insbesondere in Schlüsselbereichen eine „offene strategische Autonomie“ anzustreben ist. Dies würde dazu beitragen, Resilienz zu schaffen dank Offenheit, einer ehrgeizigen Handelsagenda, der Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Partnern, Diversifizierung und der Vermeidung von Protektionismus.

4.7.6.

Abschließend bedauert der EWSA, dass der europäische Binnenmarkt selbst nach fast 30-jährigem Bestehen noch nicht vollendet ist.

Brüssel, den 13. Juli 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  COM(2020) 825 final (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 70).

(2)  COM(2020) 842 final (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 64).

(3)  https://www.rand.org/blog/2017/11/why-the-eu-single-market-has-still-not-reached-its.html

(4)  https://www.rand.org/blog/2017/11/why-the-eu-single-market-has-still-not-reached-its.html

(5)  https://www.rand.org/blog/2017/11/why-the-eu-single-market-has-still-not-reached-its.html

(6)  Richtlinie (EU) 2015/1535 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. September 2015 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft (ABl. L 241 vom 17.9.2015, S. 1).

(7)  2016/0398 (COD); https://eur-lex.europa.eu/procedure/DE/2016_398

(8)  Studie über die Bewertung der Verhältnismäßigkeit durch die Mitgliedstaaten bei der Annahme der Anforderungen im Zusammenhang mit Einzelhandelsunternehmen gemäß der Richtlinie 2006/123/EG.

(9)  https://www.rand.org/blog/2017/11/why-the-eu-single-market-has-still-not-reached-its.html