17.8.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

CI 330/1


SCHLUSSFOLGERUNGEN DES RATES ÜBER DEN SCHUTZ SCHUTZBEDÜRFTIGER ERWACHSENER IN DER EUROPÄISCHEN UNION

(2021/C 330 I/01)

Einleitung

In Bezug auf Zivilsachen

1.

Das Haager Übereinkommen vom 13. Januar 2000 über den internationalen Schutz von Erwachsenen („Haager Übereinkommen von 2000“) sieht bei internationalen Sachverhalten den Schutz von Erwachsenen vor, die aufgrund einer Beeinträchtigung oder der Unzulänglichkeit ihrer persönlichen Fähigkeiten nicht in der Lage sind, ihre Interessen zu schützen.

2.

Der Rat hat am 24. Oktober 2008 Schlussfolgerungen angenommen, in denen

a)

die Mitgliedstaaten, die bereits die Zweckmäßigkeit ihres Beitritts zum Haager Übereinkommen von 2000 erkannt haben, ersucht werden, die einschlägigen Unterzeichnungs- und/oder Ratifikationsverfahren schnellstmöglich einzuleiten oder zügig fortzusetzen, und

b)

die Kommission ersucht wird, die Erfahrungen, die aus der Anwendung des Haager Übereinkommens von 2000 resultieren werden, aufmerksam zu verfolgen und dabei die einschlägigen Arbeiten im Rahmen der Haager Konferenz und im Europarat weiter zu beachten.

In diesen Schlussfolgerungen wurde ebenso dargelegt, dass, sobald ausreichende Erfahrungen bezüglich der Funktionsweise des Haager Übereinkommens von 2000 vorliegen, erforderlichenfalls darüber nachgedacht werden könnte, ob es zweckmäßig ist, ergänzende Maßnahmen auf Unionsebene vorzusehen.

3.

In seiner Entschließung vom 18. Dezember 2008 hat das Europäische Parlament die Kommission aufgefordert, sobald ausreichende Erfahrungen bezüglich der Funktionalität des Haager Übereinkommens von 2000 gesammelt wurden, einen Legislativvorschlag zu unterbreiten, mit dem die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten gestärkt sowie die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über den Schutz von Erwachsenen, die Vollmacht bei Geschäftsunfähigkeit sowie eines dauerhaften Betreuungsrechts verbessert werden sollen.

4.

Im Jahr 2009 wurde im Stockholmer Programm betont, dass die Frage, ob zusätzliche Vorschläge für hilfsbedürftige Erwachsene erforderlich sind, im Lichte der Erfahrungen bewertet werden sollte, die bei der Anwendung des Haager Übereinkommens von 2000 von den Mitgliedstaaten, die diesem Übereinkommen angehören oder ihm in Zukunft beitreten werden, gesammelt wurden, und die Mitgliedstaaten wurden ermutigt, dem Übereinkommen so bald wie möglich beizutreten.

5.

In der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 1. Juni 2017 wurden die Mitgliedstaaten aufgefordert, das Haager Übereinkommen von 2000 zu unterzeichnen und zu ratifizieren und die Selbstbestimmung Erwachsener zu fördern, indem sie in ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften ein Gesetz über Vorsorgevollmachten aufnehmen. Ferner richtete das Parlament zu diesem Thema Empfehlungen an die Kommission und stellte fest, dass der Schutz schutzbedürftiger Erwachsener – vor allem von Menschen mit Behinderungen – eine umfangreiche Palette konkreter und zielgerichteter Maßnahmen erforderlich macht. In der genannten Entschließung wurde die Kommission aufgefordert, einen Vorschlag für eine Verordnung anzunehmen, die darauf abzielt, die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern und die automatische Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Bezug auf den Schutz schutzbedürftiger Erwachsener und Vorsorgevollmachten zu gewährleisten.

6.

Das Haager Übereinkommen von 2000 wurde bislang von zehn Mitgliedstaaten ratifiziert und von sechs weiteren unterzeichnet. (1)

7.

Als Menschenrechtsinstrument, das ausdrücklich auch die Dimension der sozialen Entwicklung umfasst, definiert das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (im Folgenden „UN-Behindertenrechtskonvention“), dem sowohl die EU als auch ihre Mitgliedstaaten als Vertragsparteien angehören, den Begriff „Menschen mit Behinderungen“ im weiten Sinne. Die UN-Behindertenrechtskonvention hat in Bezug auf die Rechts- und Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen einen Paradigmenwechsel bewirkt, da darin bekräftigt wird, dass alle Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen sollten. Die Vertragsstaaten werden darin verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit zu unterstützen. Obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention schwerpunktmäßig auf Menschen mit Behinderungen ausgerichtet ist und Behinderungen nicht unter dem Gesichtspunkt der Schutzbedürftigkeit, sondern eher einem menschenrechtsbasierten Ansatz folgend betrachtet, sollte das Haager Übereinkommen von 2000 unter uneingeschränkter Achtung der UN-Behindertenrechtskonvention umgesetzt werden. Mit der Umsetzung dieser beiden Instrumente wird das gleiche Ziel verfolgt: die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu fördern und zu schützen.

In Bezug auf Strafsachen

8.

Im Stockholmer Programm wurde auch ein besonderer Schwerpunkt auf die Stärkung der Rechte des Einzelnen im Strafverfahren gelegt; in Ziffer 2.4 des Stockholmer Programms begrüßte der Europäische Rat den vom Rat angenommenen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten; zudem wurde die Kommission aufgefordert, die vorgesehenen Vorschläge vorzulegen, einschließlich besonderer Garantien für schutzbedürftige Verdächtige oder Beschuldigte (Maßnahme E).

9.

Bislang wurden sechs Maßnahmen zu Verfahrensrechten in Strafverfahren gemäß dem Fahrplan angenommen, nämlich die Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates 2010/64/EU (über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren), 2012/13/EU (über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren) und 2013/48/EU (über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs) sowie die Richtlinien (EU) 2016/343 (über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren), (EU) 2016/800 (über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder (d. h. Personen unter 18 Jahren), die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind) und (EU) 2016/1919 (über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls). Soweit die besonderen Bedürfnisse verdächtiger oder beschuldigter schutzbedürftiger Personen in diesen Richtlinien behandelt werden, müssen sie bei deren Umsetzung berücksichtigt werden.

10.

In der Empfehlung der Kommission vom 27. November 2013 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtigte oder beschuldigte schutzbedürftige Personen wurden die Mitgliedstaaten aufgerufen, bestimmte Verfahrensrechte aller verdächtigen oder beschuldigten schutzbedürftigen Personen zu stärken, die aufgrund ihres Alters, ihrer geistigen oder körperlichen Verfassung oder aufgrund von Behinderungen nicht in der Lage sind, einem Strafverfahren zu folgen oder tatsächlich daran teilzunehmen. Diese Empfehlung betrifft daher schutzbedürftige Erwachsene. Naturgemäß sind darin jedoch keine einklagbaren Rechte oder Pflichten vorgesehen, und bisher hat nur ein Mitgliedstaat mitgeteilt, welche Maßnahmen er ergriffen hat, um dieser Empfehlung nachzukommen.

11.

In Ziffer 2.3.4 des Stockholmer Programms wurden die Kommission und die Mitgliedstaaten ersucht, den Opfern von Straftaten besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Dementsprechend hat der Rat am 10. Juni 2011 eine Entschließung über einen Fahrplan zur Stärkung der Rechte und des Schutzes von Opfern, insbesondere in Strafverfahren, angenommen.

12.

Mit der Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates wurden Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten festgelegt, um sicherzustellen, dass Opfer von Straftaten angemessene Informationen, angemessene Unterstützung und angemessenen Schutz erhalten und sich am Strafverfahren beteiligen können. Die Richtlinie soll das Recht auf Achtung der Würde des Menschen, das Recht auf Leben, körperliche und geistige Unversehrtheit, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das Eigentumsrecht, den Grundsatz der Nichtdiskriminierung, die Gleichheit von Frauen und Männern, die Rechte des Kindes, älterer Menschen und von Menschen mit Behinderung und das Recht auf ein faires Verfahren stärken. Diese Richtlinie lässt die weiterreichenden Bestimmungen in anderen Rechtsakten der Europäischen Union unberührt, die gezielter die Bedürfnisse besonderer Gruppen von Opfern, wie den Opfern des Menschenhandels und den Opfern des sexuellen Kindesmissbrauchs, der sexuellen Ausbeutung und von Kinderpornografie, behandeln.

13.

In der ersten EU-Strategie für die Rechte von Opfern (2020-2025) (2) wird festgestellt, dass es für die schutzbedürftigsten Opfer, wie z. B. behinderte oder ältere Opfer, eine besondere Herausforderung darstellt, ein Strafverfahren zu bewältigen und mit den Folgen einer Straftat umzugehen.

14.

Die Berichte der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, in denen die Umsetzung der Opferschutzrichtlinie (3) und der Richtlinie über die Europäische Schutzanordnung (4) bewertet werden, zeigen, dass weitere Fortschritte erforderlich sind, damit das volle Potenzial dieser Instrumente ausgeschöpft werden kann.

Überlegungen des Rates

Allgemeine Erwägungen

15.

Die EU-Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2021-2030 befasst sich mit den vielfältigen Herausforderungen für Menschen mit Behinderungen einschließlich älterer Menschen mit Behinderungen und zielt darauf ab, bei der Umsetzung aller Bereiche der UN-Behindertenrechtskonvention auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten Fortschritte zu erzielen. Aus der Strategie geht hervor, dass die Kommission mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten wird, um das Haager Übereinkommen von 2000 im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen.

16.

Die COVID-19-Pandemie trifft die gesamte Gesellschaft, wobei bereits schutzbedürftige Erwachsene in besonderem Maße betroffen sind.

17.

Die Alterung der Bevölkerung ist ein Phänomen, das sich auf unsere Gesellschaften auswirkt, da sowohl die Anzahl als auch der Anteil der älteren Menschen in ganz Europa steigt.

18.

Aus dem von der Europäischen Kommission am 20. November 2020 veröffentlichten Bericht über die demografische Alterung 2021 geht hervor, dass die Gesamtbevölkerung der EU langfristig voraussichtlich abnehmen wird und sich die Altersstruktur in den kommenden Jahrzehnten erheblich verändern dürfte. Die Bevölkerungszahl der EU wird den Prognosen zufolge von 447 Millionen im Jahr 2019 auf 424 Millionen im Jahr 2070 zurückgehen, und in diesem Zeitraum wird die Bevölkerung der Mitgliedstaaten angesichts der Entwicklungstrends bei Geburten, Lebenserwartung und Migration dramatisch altern. Das Medianalter wird in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich um fünf Jahre steigen.

19.

Eine beträchtliche Anzahl von Erwachsenen ist mit Einschränkungen konfrontiert: Eurostat geht davon aus, dass ein Fünftel der EU-Bevölkerung bis 2050 in irgendeiner Form behindert sein wird. Viele dieser Erwachsenen sind bereits oder werden in Zukunft schutzbedürftig; aufgrund der zahlreichen Hindernisse, die für Menschen mit schwerer geistiger und/oder körperlicher Behinderung nach wie vor bestehen, sind sie bzw. werden sie ohne angemessene Unterstützung nicht in der Lage sein, ihre Interessen zu schützen.

20.

Diese Situation wirkt sich auf die Rechts- und Handlungsfähigkeit schutzbedürftiger Erwachsener aus, die beim Schutz ihrer Rechte, bei der Verteidigung ihrer Interessen und beim Zugang zur Justiz sowohl in nationalen als auch in grenzüberschreitenden Situationen mit Herausforderungen und Schwierigkeiten konfrontiert sind. In grenzüberschreitenden Situationen, beispielsweise bei Bürgern mit Wohnsitz in einem anderen Staat als dem, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, können diese Schwierigkeiten durch zusätzliche Hindernisse in Bezug auf Sprache, Vertretung oder den Zugang zur Justiz und generell zu öffentlichen Diensten noch verschärft werden.

21.

In Anbetracht der Schlussfolgerungen des Rates von 2020 „Zugang zur Justiz – die Chancen der Digitalisierung nutzen“, in denen auf die Bedürfnisse schutzbedürftiger Erwachsener im Hinblick auf den digitalen Zugang zur Justiz eingegangen wird, sollte besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, dass die Verbesserung der digitalen Kompetenzen dieser Menschen und ihres Zugangs zu Informationen weiter unterstützt wird, um ihre Rechte zu schützen.

22.

Die Freizügigkeit und die Aufenthaltsfreiheit von Personen in der EU sind Eckpfeiler der Unionsbürgerschaft, und Schutzbedürftigkeit darf für die uneingeschränkte Ausübung von Rechten kein Hindernis sein.

23.

Im Rahmen ihres Gedankenaustauschs auf dem informellen Treffen vom 29. Januar 2021 betonten die Justizministerinnen und -minister die Bedeutung des Haager Übereinkommens von 2000 als Mittel zur Stärkung des Schutzes schutzbedürftiger Erwachsener. Sie hoben hervor, dass ein erster Schritt darin bestehen sollte, die Zahl der Ratifizierungen durch die Mitgliedstaaten zu erhöhen. Sie erörterten ferner die Möglichkeit, den Rahmen innerhalb der EU zu stärken, um den freien Verkehr von Entscheidungen über den Schutz schutzbedürftiger Erwachsener zu erleichtern. In Bezug auf den Bereich des Strafrechts betonten die Minister, dass der bestehende Rechtsrahmen besser umgesetzt werden muss, damit sichergestellt ist, dass schutzbedürftige Erwachsene ihre Rechte uneingeschränkt ausüben können und Schutz genießen, wenn sie Opfer von Straftaten werden.

In Bezug auf Zivilsachen

24.

Gegenwärtig gibt es im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen keine EU-weit einheitlichen Vorschriften des internationalen Privatrechts zum Schutz schutzbedürftiger Erwachsener in grenzüberschreitenden Situationen, und es bestehen Unterschiede zwischen den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht und die Anerkennung und Vollstreckung von Schutzmaßnahmen. Durch die Vielfalt der diesbezüglichen Vorschriften könnte die Ausübung des Rechts schutzbedürftiger Erwachsener, sich im Mitgliedstaat ihrer Wahl frei zu bewegen und ihren Aufenthalt zu nehmen, beeinträchtigt werden. Außerdem könnten diese Bürger dadurch daran gehindert werden, in Bezug auf die Verwaltung ihres Vermögens in einem grenzüberschreitenden Kontext angemessenen Schutz zu erwirken.

25.

Das Recht auf Selbstbestimmung ist ein Grundrecht, und die Vertretungsmacht, mit der ein Erwachsener im Voraus Vorkehrungen für seine Betreuung und/oder Vertretung trifft, sollte innerhalb der EU geachtet werden.

26.

Das Haager Übereinkommen von 2000 sieht bei internationalen Sachverhalten den Schutz von Erwachsenen vor, die aufgrund einer Beeinträchtigung oder der Unzulänglichkeit ihrer persönlichen Fähigkeiten nicht in der Lage sind, ihre Interessen zu schützen. Ziel dieses Übereinkommens ist es, Konflikte zwischen den Rechtsordnungen der Vertragsparteien in Bezug auf die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht und die Anerkennung und Vollstreckung von Maßnahmen zum Schutz von Erwachsenen zu vermeiden und gleichzeitig sicherzustellen, dass eine „Vertretungsmacht“ in einem anderen Vertragsstaat Rechtswirkung hat, sowie einen Mechanismus für die Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Vertragsparteien einzurichten.

27.

Schutzbedürftige Erwachsene können im grenzüberschreitenden Kontext innerhalb der EU mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert sein, z. B. wenn eine in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidung über die Bestimmung eines Vertreters in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt werden muss oder wenn Erledigungen in Bezug auf Immobilien oder Bankkonten der Person im Ausland erforderlich sind, wobei es in vielen Fällen um die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts geht.

28.

Im Rahmen der Konferenz auf hoher Ebene über den Schutz schutzbedürftiger Erwachsener in Europa und die nächsten Schritte vom 30. März 2021 betonten einige Diskussionsteilnehmer, dass es zwar wichtig sei, Erfahrungen zu sammeln und die Ergebnisse der Umsetzung des Haager Übereinkommens von 2000 zu bewerten, die EU aber in ihren Bemühungen um eine Angleichung der Vorschriften des internationalen Privatrechts zum wirksamen Schutz schutzbedürftiger Erwachsener auf der Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung mehr Ambition zeigen und weiter gehen sollte.

In Bezug auf Strafsachen

29.

Die immer umfassendere Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt wird auch an der unweigerlich steigenden Zahl der Personen deutlich, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihrer Staatsangehörigkeit an Strafverfahren beteiligt sind.

30.

Schutzbedürftige Erwachsene, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, können mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert sein, die sie an der vollständigen Ausübung ihrer Verfahrensrechte hindern und das Recht auf ein faires Verfahren beeinträchtigen können.

31.

Die EU und ihre Organe sollten auf die Probleme und Schwierigkeiten, denen Unionsbürger bei der Ausübung ihrer Rechte insbesondere in grenzüberschreitenden Situationen gegenüberstehen, reagieren und müssen für den uneingeschränkten und wirksamen Zugang aller Unionsbürger zur Justiz sorgen.

32.

Im Rahmen der Konferenz auf hoher Ebene über den Schutz schutzbedürftiger Erwachsener in Europa und die nächsten Schritte vom 30. März 2021 wurde betont, dass für schutzbedürftige Personen Verfahrensgarantien gelten sollten; dazu gehört, dass die besonderen Bedürfnisse dieser Menschen ermittelt und anerkannt sowie während der gesamten Dauer ihrer Beteiligung an Strafverfahren berücksichtigt werden und ihnen Unterstützung gewährt wird, damit sichergestellt ist, dass Verdächtige und beschuldigte Personen Art und Folgen des Verfahrens vollständig verstehen und effektiv an dem betreffenden Strafverfahren mitwirken, sowie dass Personen, die als Opfer schutzbedürftig sind, geschützt werden.

Schlussfolgerungen

33.

In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ist der Rat der Auffassung, dass weitere Anstrengungen erforderlich sind, um den Schutz schutzbedürftiger Erwachsener innerhalb der EU sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen zu stärken.

34.

Er fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang – unter Betonung der Notwendigkeit, Doppelregelungen zu vermeiden – auf, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten und unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips die folgenden Maßnahmen zu ergreifen:

DER RAT ERSUCHT DIE MITGLIEDSTAATEN,

In Bezug auf sowohl Zivil- als auch Strafsachen

die verfügbaren Finanzierungsmöglichkeiten aus dem EU-Haushalt wie die Aufbau- und Resilienzfazilität, das Programm „Justiz“ und das Programm „Bürgerinnen und Bürger, Gleichstellung, Rechte und Werte“ soweit möglich zu nutzen, um aktiv Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung der Rechte schutzbedürftiger Erwachsener zu entwickeln, auch im Bereich der digitalen Kompetenzen und Fähigkeiten;

In Bezug auf Zivilsachen

die bereits Vertragspartei des Haager Übereinkommens von 2000 sind, insbesondere durch den Austausch von Erfahrungen und die Entwicklung bewährter Verfahren darauf hinzuwirken, dass Gerichte, Rechtspraktiker und alle an der Umsetzung des Übereinkommens Beteiligten stärker für das Haager Übereinkommen von 2000 sensibilisiert werden;

die Verfahren zur Ratifizierung des Haager Übereinkommens von 2000 voranzutreiben, damit die Ratifizierung so rasch wie möglich abgeschlossen werden kann – insbesondere im Hinblick auf die geplante Spezialkommission zu diesem Übereinkommen, die von der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht für die an solchen Verfahren beteiligten Mitgliedstaaten organisiert wird;

die nicht beteiligt sind, möglichst rasch innerstaatliche Konsultationen über einen möglichen Beitritt zum Haager Übereinkommen von 2000 einzuleiten und/oder voranzutreiben;

sicherzustellen, dass die nationalen Maßnahmen zum Schutz schutzbedürftiger Erwachsener im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention stehen;

In Bezug auf Strafsachen

die ordnungsgemäße und vollständige Umsetzung der Richtlinien 2010/64/EU, 2012/13/EU, 2013/48/EU, (EU) 2016/343 und (EU) 2016/1919 sicherzustellen und bewährte Verfahren auszutauschen, insbesondere in Bezug auf schutzbedürftige Erwachsene;

sich um die Berücksichtigung der Empfehlung der Kommission vom 27. November 2013 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte schutzbedürftige Personen zu bemühen;

die ordnungsgemäße und vollständige Umsetzung der Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI sicherzustellen;

ihre bewährten Verfahren zur Umsetzung der Richtlinie 2012/29/EU auszutauschen, insbesondere im Hinblick auf die Einrichtung – neben den allgemeinen Opferunterstützungsdiensten oder als zu diesen gehörig – integrierter und gezielter spezialisierter Unterstützungsdienste wie der in der EU-Strategie für die Rechte von Opfern 2020-2025 vorgesehenen behindertengerechten und barrierefreien Dienste;

die Nutzung grenzüberschreitender Opferschutzmechanismen innerhalb der EU einschließlich der Europäischen Schutzanordnung zu verstärken; (5)

sicherzustellen, dass schutzbedürftige Erwachsene unabhängig davon, ob es sich um Verdächtige oder beschuldigte Personen oder Opfer handelt, unverzüglich als schutzbedürftig identifiziert werden und dass ihre Schutzbedürftigkeit angemessen bewertet wird, damit sie ihre Rechte nach EU-Recht im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention uneingeschränkt wahrnehmen können.

DER RAT ERSUCHT DIE KOMMISSION,

In Bezug auf Zivilsachen

mögliche Maßnahmen zur Gewinnung weiterer Mitgliedstaaten für eine möglichst rasche Ratifizierung des Haager Übereinkommens von 2000 zu bewerten;

eine eingehende Untersuchung durchzuführen, in deren Rahmen sorgfältig abgewogen und bewertet wird, wie die Europäische Union den Schutz schutzbedürftiger Erwachsener in grenzüberschreitenden Situationen stärken könnte;

zu prüfen, ob die Europäische Union einen Rechtsrahmen benötigt, um den freien Verkehr gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen über den Schutz schutzbedürftiger Erwachsener in Zivilsachen, u. U. auch bezüglich Vertretungsmacht und Patientenverfügungen, zu erleichtern;

dem Europäischen Parlament, dem Rat und dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss einen Bericht über die Ergebnisse der Untersuchung vorzulegen und diesem erforderlichenfalls Gesetzgebungsvorschläge beizufügen;

In Bezug auf Strafsachen

auf der Grundlage einer Untersuchung zu der Frage, wie die Europäische Union in Bezug auf den Schutz schutzbedürftiger Erwachsener im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention künftig vorgehen sollte, zu prüfen, ob die Verfahrensgarantien für schutzbedürftige Erwachsene, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, umfassend gestärkt werden müssen;

sorgfältig abzuwägen, ob für die Ermittlung schutzbedürftiger Erwachsener in Strafverfahren einheitliche, gemeinsame Kriterien festgelegt werden müssen, wobei zu berücksichtigen ist, dass Schutzbedürftigkeit nicht unbedingt eine einzelne, allgemeine Ursache hat, sondern auf ein breites Spektrum von Umständen zurückzuführen sein kann;

die besonderen Bedürfnisse schutzbedürftiger Erwachsener im Zuge der Überwachung und Sicherstellung der ordnungsgemäßen und vollständigen Umsetzung der vorstehend genannten Richtlinien 2010/64/EU, 2012/13/EU, 2013/48/EU, (EU) 2016/343 und (EU) 2016/1919 zu berücksichtigen, sofern in diesen Richtlinien auf die besonderen Bedürfnisse verdächtiger oder beschuldigter schutzbedürftiger Personen eingegangen wird;

den gezielten und spezialisierten Schutz schutzbedürftiger Erwachsener mithilfe der Finanzierungsmöglichkeiten der EU und der EU-Sensibilisierungskampagne für die Rechte der Opfer zu fördern, wie in der EU-Strategie für die Rechte von Opfern (2020-2025) betont wird. Bei dieser Unterstützung und diesem Schutz sollte die Intersektionalität der Viktimisierung berücksichtigt werden;

die besonderen Bedürfnisse schutzbedürftiger Erwachsener im Zuge der Überwachung und Sicherstellung der ordnungsgemäßen und vollständigen Umsetzung der Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI zu berücksichtigen und

mit den Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten, um diesbezüglich horizontale bewährte Verfahren zu ermitteln.


(1)  Statustabelle abrufbar unter https://www.hcch.net/de/instruments/conventions/status-table/?cid=71

(2)  COM(2020) 258 final vom 24. Juni 2020

(3)  Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Umsetzung der Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates, COM(2020) 188 final, 11. Mai 2020.

(4)  Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Europäische Schutzanordnung, COM(2020) 187 final, 11. Mai 2020.

(5)  Richtlinie 2011/99/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Europäische Schutzanordnung.