6.4.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 152/7


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Über das BIP hinausgehende Messgrößen für einen erfolgreichen Wiederaufbau und eine nachhaltige und resiliente europäische Wirtschaft“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 152/02)

Berichterstatter:

Petru Sorin DANDEA

Beschluss des Plenums

25.3.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

23.11.2021

Verabschiedung im Plenum

8.12.2021

Plenartagung Nr.

565

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

209/2/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Nach Ansicht des EWSA ist die Umstellung von einem Wirtschaftssystem, das vor allem auf Wachstum ausgerichtet ist, auf eine nachhaltige Wirtschaft unvermeidlich. Die in dieser Stellungnahme enthaltenen Vorschläge für neue Indikatoren sind angesichts der enormen Komplexität und Herausforderungen, die dieser Wandel mit sich bringt, nur ein Beispiel für einen Ansatz zur Einführung von Messgrößen in den Bereichen Soziales, Wirtschaft und Umwelt.

1.2.

Der EWSA empfiehlt die Ausarbeitung von Indikatoren, die den politischen Entscheidungsträgern bessere Informationen vermitteln und so politische Maßnahmen fördern können, die zum Aufbau einer Kreislaufwirtschaft beitragen. So könnten beispielsweise Daten zum Gehalt an Materialien aus natürlichen Rohstoffen in bestimmten langlebigen Gütern in Kombination mit deren durchschnittlicher Nutzungsdauer und potenzieller Verwertungsquote den politischen Entscheidungsträgern gute Rückschlüsse über den Investitionsbedarf im Recyclingsektor geben.

1.3.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass ein kompakter Anzeiger mit über das BIP hinausreichenden Indikatoren entwickelt werden sollte, der dann in das Scoreboard für den europäischen Grünen Deal integriert werden könnte. Für die Entwicklung dieses Anzeigers könnte das vom deutschen Institut für zukunftsfähige Ökonomie (ZOE) entwickelte Konzept „EU-Doughnut bis 2030“ herangezogen werden. Der Anzeiger könnte in den Prozess der europäischen Governance einbezogen werden, wenn es darum geht, mit Blick auf das Erreichen der Ziele des Europäischen Semesters Fortschritte zu bewerten und notwendige Maßnahmen festzulegen. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass es im europäischen Governance-Prozess eine neue Perspektive geben muss, die auf das Wohlergehen der Bürger ausgerichtet ist.

1.4.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) empfiehlt den Mitgliedstaaten, bevorzugt von den Vereinten Nationen vorgeschlagene Indikatoren einzusetzen, sofern ihre nationalen Gegebenheiten dies zulassen, und die von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihren Berichten über eine bessere Messung von Wohlergehen und Wohlstand formulierten Vorschläge aufzugreifen.

1.5.

Der EWSA teilt die von den europäischen Sozialpartnern auf dem Gipfel von Porto zum Ausdruck gebrachte Auffassung, dass die vorgeschlagenen 14 Indikatoren ein Scoreboard zur Ergänzung des BIP bilden könnten, das bei der Konzipierung von Maßnahmen zur Unterstützung eines nachhaltigen Wachstumsmodells verwendet werden kann.

1.6.

Investitionen in eine kohäsive Gesellschaft, in nachhaltige Entwicklung, Human- und Sozialkapital und Lebensqualität werden entscheidend dazu beitragen, Chancen für moderne Unternehmen zu schaffen und in der Zukunft für Arbeitsplätze, Wohlstand und nachhaltiges Wachstum sorgen. Der EWSA ist daher der Auffassung, dass Indikatoren über das BIP hinaus nicht nur dem Monitoring und der Messung der Fortschritte dienen sollten, sondern über die Entwicklung der Politik informieren, die Kommunikation verbessern und die Festlegung von Zielen fördern sollten.

1.7.

Die Europäische Kommission hat unlängst eine Mitteilung (1) zur Ausrichtung von Finanzierungen auf nachhaltige Tätigkeiten vorgelegt. Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission. Er hält es für notwendig, eine Reihe von Indikatoren zu entwickeln, die einerseits die „Ökologisierung“ von Finanzierungen und andererseits den Grad der „Ökologisierung“ von Wirtschaftszweigen abbilden können. Diese Indikatoren können den politischen Entscheidungsträgern eine bessere Orientierungshilfe bei der Gestaltung öffentlicher Anreize für nachhaltige Tätigkeiten an die Hand geben. Sie könnten auch ein wichtiges Instrument des Monitorings für die Regierungen der Mitgliedstaaten sein. Ein Monitoring ist notwendig, um nachzuverfolgen, wie schnell Investitionen in nachhaltige Vorhaben fließen. Denn wenn zu zögerlich investiert wird, besteht die Gefahr, dass die Ressourcen erschöpft sind, bevor Alternativen bereitstehen. Dies würde zu einer Preisexplosion mit drastischen Auswirkungen auf die Wirtschaft führen. Bei einer überstürzten Investitionstätigkeit bestünde hingegen die Gefahr, dass Investitionen an vielen Sektoren vorbeigehen. So würde die Wirtschaftstätigkeit, welche die für Investitionen erforderlichen Mittel generiert, verlangsamt.

1.8.

Im Kampf gegen den Klimawandel hält es der EWSA außerdem für erforderlich, bestehende Indikatoren auf den Prüfstand zu stellen, um eine bessere Überwachung der Fortschritte zu ermöglichen. Manche Indikatoren bilden die negativen Auswirkungen einiger Wirtschaftstätigkeiten auf die Umwelt nicht vollständig ab. Weiterhin sollte einige Indikatoren angepasst werden, um die Ziele der EU besser widerzuspiegeln.

1.9.

Die Digitalisierung und die Ökologisierung der Wirtschaft erfordern erhebliche Umstellungen in verschiedenen Branchen. Damit diese Änderungen zu möglichst geringen sozialen Kosten vollzogen werden können, sind Maßnahmen zum Schutz der Arbeitskräfte erforderlich, um mittel- und langfristig eine gerechte Verteilung der erforderlichen Arbeit auf die Erwerbsbevölkerung zu gewährleisten. Außerdem schließt sich der EWSA dem Vorschlag der europäischen Sozialpartner an, Indikatoren für Tarifverhandlungen zu entwickeln. Die Tarifverhandlungen sorgen im Allgemeinen für den Schutz der Arbeitnehmer, können aber über berufsbildungspolitische Maßnahmen auch die notwendige Mobilität fördern, die angesichts der Herausforderungen durch die Umstrukturierung der Wirtschaft notwendig ist. Die gerechte Verteilung der in der Wirtschaft vorhandenen Beschäftigungsmöglichkeiten kann durch intelligente Arbeitszeitprogramme erreicht werden, die von den Sozialpartnern ausgehandelt werden.

1.10.

Eine wesentliche Umstellung des Wirtschaftssystems ist nicht ohne eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz möglich. Der EWSA hält neue Erhebungen (nach Art der Eurobarometer) für erforderlich, um zu erfassen, wie das geänderte Wirtschaftsmodell in der Gesellschaft wahrgenommen wird.

1.11.

Auch die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission sollten die Entwicklung von Initiativen zur besseren Messung des Wohlergehens und zur Analyse der Umweltauswirkungen der Wirtschaft (wie etwa diejenige des deutschen Forschungsinstituts ZOE, das ein System von Indikatoren, bekannt unter der Bezeichnung „EU-Doughnut bis 2030“, entwickelt hat) unterstützen.

2.   Einführung

2.1.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist weltweit immer noch der wichtigste makroökonomische Indikator zur quantitativen Darstellung der Wirtschaftstätigkeit. Allerdings hat sich in weiten Kreisen die Auffassung durchgesetzt, dass mit dem BIP weder das tatsächliche Wohlergehen noch die Entwicklung einer Gesellschaft oder gar die negativen Umweltauswirkungen einiger Wirtschaftstätigkeiten abgebildet werden können.

2.2.

Die Väter des BIP wussten um die Grenzen des Konzepts, und seit den 90er-Jahren wird zunehmend „über das BIP hinaus“ debattiert. Es hat sich also ein Bedarf an anderen Indikatoren herausgebildet, die den globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts — darunter Klimawandel, Armut, Ressourcenerschöpfung, Gesundheit und Lebensqualität — Rechnung tragen. Ein Meilenstein auf dem Weg zu geeigneteren Indikatoren zur Messung dieser Fortschritte, die besser in den Entscheidungsprozess eingefügt und in der öffentlichen Debatte genutzt werden können, war die 2007 (2) von der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament, dem Club of Rome, der OECD und dem WWF veranstaltete hochrangige Konferenz „Beyond GDP“. Später wies die Kommission für die Messung von Wirtschaftsleistung und sozialem Fortschritt (3) unter Vorsitz von Joseph E. Stiglitz, Amartya Sen und Jean-Paul Fitoussi in ihrem Abschlussbericht darauf hin, dass das BIP auch in anderer Hinsicht eine unzureichende Messgröße ist (Zweifel an der Art und Weise, wie die Produktivität gemessen wird, und die Ausklammerung des Humankapitals).

2.3.

Seit einigen Jahren müssen sich die politischen Entscheidungsträger in Europa etlichen neuen Prioritäten stellen. So sind etwa der digitale und ökologische Wandel und die sozialen Aspekte in vielen Politikbereichen immer stärker in den Vordergrund getreten. Ungeachtet der COVID-19-Pandemie, die sich zweifellos tiefgreifend und negativ auf die europäische Wirtschaft auswirken wird, gibt es nach wie vor andere Herausforderungen (Klimawandel, wachsende Ungleichheiten und langsames Produktivitätswachstum). Investitionen in eine kohäsive Gesellschaft, in nachhaltige Entwicklung, Human- und Sozialkapital und Lebensqualität werden entscheidend dazu beitragen, Chancen für moderne Unternehmen zu schaffen und in der Zukunft für Arbeitsplätze, Wohlstand und nachhaltiges Wachstum sorgen. Daher sollten Indikatoren über das BIP hinaus zu Instrumenten werden, die nicht nur der Überwachung und Messung dienen, sondern auch Informationen über die Politikentwicklung liefern, die Kommunikation verbessern und die Festlegung von Zielen fördern.

2.4.

Mit dieser Initiativstellungnahme möchte der EWSA einen konstruktiven Beitrag zur Erarbeitung von Indikatoren für Wohlergehen und Entwicklung leisten, die die klassischen Wirtschaftsindikatoren ergänzen. In der Stellungnahme wird ferner auf einen ungedeckten Datenbedarf hingewiesen. Es werden Wege aufgezeigt, wie diese Indikatoren besser in die europäische und nationale Politikgestaltung eingebettet werden können, damit die EU gestärkt aus der derzeitigen Krise hervorgehen kann und die Widerstandsfähigkeit gegenüber künftigen Schocks verbessert wird.

2.5.

Sicherlich hat es noch nie einen so großen Bedarf an Indikatoren zur Erarbeitung und Umsetzung politischer Maßnahmen gegeben, mit denen ein nachhaltiges Weltwirtschaftsmodell, das allen Menschen auf der Welt Wohlergehen in Aussicht stellt, geschaffen werden kann. Das derzeitige Wirtschaftsmodell setzt vor allem auf kontinuierliches Wachstum, um Systemstabilität herzustellen, überfordert dabei aber unseren Planeten mit seinen begrenzten Ressourcen.

2.6.

Die Europäische Kommission hat in einem im Juni veröffentlichen Diskussionspapier (4) bekräftigt, dass ergänzend zum BIP Indikatoren entwickelt werden müssen, die eine bessere Überwachung des Wandels von Gesellschaft und Wirtschaft durch die Umsetzung politischer Maßnahmen zur Förderung des europäischen Grünen Deals ermöglichen. Ferner werden darin die Anstrengungen einiger Länder in den letzten Jahren beschrieben, ergänzende Instrumente zur Überwachung der Auswirkungen wirtschaftlicher Tätigkeiten auf das Wohlergehen und die Umwelt zu entwickeln.

2.7.

Weltweit gibt es eine Reihe von Initiativen zur Entwicklung von Indikatoren, die einerseits den Politikern die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zur Förderung der Nachhaltigkeit und andererseits eine bessere Information über den Prozess der Umgestaltung des Wirtschaftsmodells ermöglichen sollen. Eine dieser bemerkenswerten Initiativen ist das Konzept „EU-Doughnut bis 2030“ (5). Bei diesem neuen Konzept handelt es sich um eine politische Zusammenfassung bestehender Anzeiger und eine Auswahl von 30 Indikatoren für eine wirksamere Politikgestaltung, die zudem in der Öffentlichkeit ein besseres Verständnis für die Erfordernisse im Zusammenhang mit der Transformation des Wirtschaftssystems schaffen soll.

3.   Allgemeine und besondere Bemerkungen

3.1.

Die Debatte zum Thema „Über das BIP hinaus“ hat bei Institutionen, Forschern und Politikern ein starkes Echo ausgelöst. So wurden in der OECD, den Vereinten Nationen, der Europäischen Kommission und bei Eurostat Vorschläge für Indikatoren zur besseren Messung von Wohlergehen und Wohlstand auf individueller, gemeinschaftlicher oder nationaler Ebene vorgelegt. Im Jahr 2015 haben die Vereinten Nationen die Ziele für nachhaltige Entwicklung angenommen, für die 169 Unterziele und 200 Indikatoren festgelegt wurden. Im Jahr 2018 legte die hochrangige Expertengruppe der OECD zwei Berichte (6) vor, in denen eine bessere Messung des Wohlergehens empfohlen wird. Sie rät dazu, bestehende Indikatoren zu verbessern oder neue Indikatoren einzuführen. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten der Verwendung bestimmter Indikatoren, die die UN vorgeschlagen hat, entsprechend den nationalen Besonderheiten Vorrang einräumen sollten. Er regt an, die in den Berichten der OECD enthaltenen Vorschläge zur Verbesserung der Messung von Wohlergehen und Wohlstand aufzugreifen.

3.2.

Unlängst haben die europäischen Sozialpartner — Business Europe, der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), SGI Europe und UEAPME (7) — ein gemeinsames Dokument unterzeichnet, in dem ergänzende Indikatoren für das BIP empfohlen werden, die ebenfalls soziale, wirtschaftliche und ökologische Gegebenheiten erfassen. Der EWSA teilt die von den europäischen Sozialpartnern zum Ausdruck gebrachte Auffassung, wonach die vorgeschlagenen 14 Indikatoren ein Scoreboard zur Ergänzung des BIP bilden könnten, das bei der Konzipierung von Maßnahmen zur Unterstützung eines nachhaltigen Wachstumsmodells verwendet werden kann.

3.3.

Der EWSA beteiligt sich seit 2011 an der europäischen Debatte über das BIP und darüber hinaus. Er hat Stellungnahmen (8) erarbeitet, in denen neue Indikatoren zur Messung von Wohlbefinden und Wohlstand vorgeschlagen wurden, sowie Umfragen durchgeführt, um diejenigen Faktoren besser herauszuarbeiten, die den europäischen Bürgerinnen und Bürger das Gefühl eines guten und erfüllten Lebens vermitteln. Der EWSA sieht eine Notwendigkeit, neue Indikatoren zu entwickeln, mit denen die wirtschaftliche Resilienz in Bezug auf die Anpassungs- und Transformationsfähigkeit gemessen werden kann, die aber auch dem Grundsatz „niemanden zurückzulassen“ Rechnung tragen.

3.4.

Damit wir unseren Planeten künftigen Generationen in einem mindestens ebenso guten Zustand wie heute überlassen können, muss unser Wirtschaftsmodell, das auf der ungezügelten Ausbeutung der Natur beruht, überdacht werden. Tatsache ist, dass die Kreislaufwirtschaft, die eine rationellere Nutzung der natürlichen Ressourcen gewährleistet, immer mehr Unterstützung findet. Der EWSA schlägt deshalb vor, Indikatoren zu entwickeln, um den politischen Entscheidungsträger, die Maßnahmen zur Entwicklung der Kreislaufwirtschaft fördern können, entsprechende Informationen an die Hand zu geben. So könnte beispielsweise der Gehalt an Materialien aus natürlichen Rohstoffen in bestimmten langlebigen Gütern in Kombination mit deren durchschnittlicher Nutzungsdauer und potenziellen Verwertungsquote den politischen Entscheidungsträgern gute Rückschlüsse über den Investitionsbedarf im Recyclingsektor geben.

3.5.

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass ein kompakter Anzeiger mit über das BIP hinausreichenden Indikatoren erstellt werden sollte, der dann in das Scoreboard für den europäischen Grünen Deal integriert werden könnte. Für die Entwicklung dieses Anzeigers könnte das vom deutschen Institut für zukunftsfähige Ökonomie (ZOE) entwickelte Konzept „EU-Doughnut bis 2030“ herangezogen werden. Der Anzeiger könnte in den Prozess der europäischen Governance einbezogen werden, wenn es darum geht, mit Blick auf das Erreichen der Ziele des Europäischen Semesters Fortschritte zu bewerten und notwendige Maßnahmen festzulegen. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass es im europäischen Governance-Prozess eine neue Perspektive geben muss, die auf das Wohlergehen der Bürger ausgerichtet ist.

3.6.

Der EWSA empfiehlt der Kommission und den Mitgliedstaaten, Ziele für jeden dieser Indikatoren festzulegen. Dies würde es ermöglichen, das Konzept der „Entfernung bis zum Ziel“ für eine bessere Überwachung der Fortschritte und ein besseres Verständnis zu nutzen.

3.7.

Die Europäische Union hat sich das ehrgeizige Klimaschutzziel gesetzt, bis 2050 in Bezug auf die Kohlenstoffemissionen die Klimaneutralität zu erreichen. Dies bedeutet, dass Investitionen in solche Wirtschaftstätigkeiten umgelenkt werden müssen, die die Umwelt nicht schädigen. Die Europäische Kommission hat unlängst eine Mitteilung (9) zur Ausrichtung von Finanzierungen auf nachhaltige Tätigkeiten vorgelegt. Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission. Er hält es für notwendig, eine Reihe von Indikatoren zu entwickeln, die einerseits die „Ökologisierung“ von Finanzierungen und andererseits den Grad der „Ökologisierung“ von Wirtschaftszweigen abbilden können. Diese Indikatoren können den politischen Entscheidungsträgern eine bessere Orientierungshilfe bei der Gestaltung öffentlicher Anreize für nachhaltige Tätigkeiten an die Hand geben. Sie könnten auch ein wichtiges Instrument des Monitorings für die Regierungen der Mitgliedstaaten sein. Ein Monitoring ist notwendig, um nachzuverfolgen, wie schnell Investitionen in nachhaltige Vorhaben fließen. Denn wenn zu zögerlich investiert wird, besteht die Gefahr, dass die Ressourcen erschöpft sind, bevor Alternativen bereitstehen. Dies würde zu einer Preisexplosion mit drastischen Auswirkungen auf die Wirtschaft führen. Bei einer überstürzten Investitionstätigkeit bestünde hingegen die Gefahr, dass Investitionen an vielen Sektoren vorbeigehen. So würde die Wirtschaftstätigkeit, welche die für Investitionen erforderlichen Mittel generiert, verlangsamt.

3.8.

Im Kampf gegen den Klimawandel hält es der EWSA außerdem für erforderlich, bestehende Indikatoren auf den Prüfstand zu stellen, um eine bessere Überwachung der Fortschritte zu ermöglichen. Ein Beispiel hierfür ist der Indikator für Treibhausgasemissionen. Der diesbezügliche Eurostat-Indikator lässt die Emissionen einiger Sektoren, darunter etwa des Luftverkehrs, unbeachtet. Weiterhin sollten einige Indikatoren angepasst werden, um die Ziele der EU besser widerzuspiegeln.

3.9.

Die Digitalisierung und die Ökologisierung der Wirtschaft erfordern erhebliche Umstrukturierungen in verschiedenen Wirtschaftszweigen, sowohl bezüglich ihres Beitrags zum BIP als auch ihres beschäftigungspolitischen Beitrags. Damit diese Änderungen zu möglichst geringen sozialen Kosten vollzogen werden können, sind Maßnahmen zum Schutz der Arbeitskräfte erforderlich, um mittel- und langfristig eine gerechte Verteilung der erforderlichen Arbeit auf die Erwerbsbevölkerung zu gewährleisten. Außerdem schließt sich der EWSA dem Vorschlag der europäischen Sozialpartner an, Indikatoren für Tarifverhandlungen zu entwickeln. Die Tarifverhandlungen sorgen im Allgemeinen für den Schutz der Arbeitnehmer, können aber über berufsbildungspolitische Maßnahmen auch die notwendige Mobilität fördern, die angesichts der Herausforderungen durch die Umstrukturierung der Wirtschaft notwendig ist. Die gerechte Verteilung der in der Wirtschaft vorhandenen Beschäftigungsmöglichkeiten kann durch intelligente Arbeitszeitprogramme erreicht werden, die von den Sozialpartnern ausgehandelt werden.

3.10.

Eine wesentliche Umstellung des Wirtschaftssystems ist nicht ohne eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz möglich. Deshalb benötigen die politischen Entscheidungsträger während dieses schwierigen Prozesses neben statistischen Indikatoren auch statistische Erhebungen und Studien, um den Grad des Verständnisses und der Akzeptanz des Wandels in der Gesellschaft im Auge zu behalten. Der EWSA hält neue Erhebungen (nach Art der Eurobarometer) für erforderlich, um zu erfassen, wie das geänderte Wirtschaftsmodell in der Gesellschaft wahrgenommen wird. Auch die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission sollten die Entwicklung von Initiativen zur besseren Messung des Wohlergehens und zur Analyse der Umweltauswirkungen der Wirtschaft (z. B. das vom deutschen Forschungsinstitut ZOE entwickelte System von Indikatoren, das in der Studie „EU-Doughnut bis 2030“ vorgestellt wurde) (10) unterstützen.

3.11.

Nach Ansicht des EWSA ist die Umstellung von einem Wirtschaftssystem, das vor allem auf Wachstum ausgerichtet ist, auf eine nachhaltige Wirtschaft unvermeidlich. Die in dieser Stellungnahme enthaltenen Vorschläge für neue Indikatoren sind angesichts der enormen Komplexität und Herausforderungen, die dieser Wandel mit sich bringt, nur ein Beispiel für einen Ansatz zur Einführung von Messgrößen in den Bereichen Soziales, Wirtschaft und Umwelt.

Brüssel, den 8. Dezember 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  COM(2021) 188 final, EU-Taxonomie, Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen, Nachhaltigkeitspräferenzen und treuhänderische Pflichten: Finanzielle Mittel in Richtung des europäischen Grünen Deals lenken (ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 72).

(2)  Synthesebericht der Konferenz Beyond GDP: https://ec.europa.eu/environment/beyond_gdp/proceedings/bgdp_proceedings_summary_notes.pdf.

(3)  Bericht der Kommission zur Messung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und des sozialen Fortschritts: https://ec.europa.eu/eurostat/documents/8131721/8131772/Stiglitz-Sen-Fitoussi-Commission-report.pdf.

(4)  . https://ec.europa.eu/info/publications/economic-policy-making-beyond-gdp-introduction_en.

(5)  . https://zoe-institut.de/en/publication/a-compass-towards-2030

(6)  OECD (2018), Beyond GDP: Measuring what counts for economic and social performance, OECD Publishing, Paris — https://doi.org/10.1787/9789264307292-en.

OECD (2018), For Good Measure: Advancing Research on Well-Being Metrics Beyond GDP, OECD Publishing, Paris — https://doi.org/10.1787/9789264307278-en.

(7)  https://est.etuc.org/wp-content/uploads/2021/05/FINAL-BEYOND-GDP-SOCIAL-PARTNERS-EU.pdf.

(8)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Das BIP und mehr — die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Auswahl zusätzlicher Indikatoren“ (Initiativstellungnahme) (ABl. C 181 vom 21.6.2012, S. 14).

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung für Stabilität, Wachstum und Beschäftigung — Instrumente für bessere wirtschaftspolitische Steuerung der EU „Stärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung für Stabilität, Wachstum und Beschäftigung — Instrumente für bessere wirtschaftspolitische Steuerung der EU“, COM(2010) 367 final (ABl. C 107 vom 6.4.2011, S. 7).

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Jenseits des BIP — Messgrößen für nachhaltige Entwicklung“ (ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 53).

(9)  COM(2021) 188 final, EU-Taxonomie, Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen, Nachhaltigkeitspräferenzen und treuhänderische Pflichten: Finanzielle Mittel in Richtung des europäischen Grünen Deals lenken (ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 72).

(10)  Bericht des Instituts für zukunftsfähige Ökonomie (ZOE): A Compass towards 2030 (https://zoe-institut.de/en/publication/a-compass-towards-2030/).


ANHANG

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Erste Analyse der Studie „EU-Doughnut bis 2030“.