EUROPÄISCHE KOMMISSION
Brüssel, den 31.3.2021
COM(2021) 144 final
BERICHT DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DEN RAT
über die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren
1.Einleitung
Die Unschuldsvermutung und das Recht auf ein faires Verfahren sind in den Artikeln 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
(im Folgenden „Charta“) und in Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert.
Mit der Richtlinie (EU) 2016/343 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (im Folgenden „Richtlinie“) soll das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren gestärkt werden, indem gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung festgelegt werden.
Die Richtlinie ist das vierte Instrument, das auf der Grundlage von Artikel 82 Absatz 2 Buchstabe b des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) angenommen wurde. Dieser bildet die Rechtsgrundlage für den Erlass von Mindestvorschriften über „die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren“. Die Richtlinie gilt in 25 Mitgliedstaaten.
Die EU hat in diesem Bereich sechs Richtlinien verabschiedet: Neben der Richtlinie 2016/343 gibt es Richtlinien über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen, das Recht auf Belehrung und Unterrichtung, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand und auf Kommunikation mit Dritten während des Freiheitsentzugs, über Verfahrensgarantien für Kinder und über Prozesskostenhilfe. Die Europäische Kommission hat zu den ersten drei Richtlinien bereits Berichte über die Umsetzung erstellt. Die Richtlinien tragen zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens bei und stärken somit den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen und anderen gerichtlichen Entscheidungen.
Nach Artikel 12 der Richtlinie ist die Kommission verpflichtet, dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Bericht über die Umsetzung der Richtlinie vorzulegen.
Der vorliegende Bericht stützt sich in erster Linie auf Informationen, die die Mitgliedstaaten der Kommission durch Mitteilung nationaler Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie übermittelt haben. Er stützt sich auch auf öffentlich zugängliche Informationen der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte und auf von der Kommission finanzierte Studien externer Interessenträger.
Zwar sind die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 11 verpflichtet, der Kommission bis zum 1. April 2020 und danach alle drei Jahre die verfügbaren Daten zu übermitteln, aus denen hervorgeht, wie die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte umgesetzt worden sind, bislang ist jedoch nur Österreich dieser Verpflichtung nachgekommen. Durch die fehlenden Informationen aus den Mitgliedstaaten wird die umfassende Bewertung der praktischen Umsetzung der Richtlinie behindert.
Der Bericht konzentriert sich daher auf die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten bislang zur Umsetzung der Richtlinie ergriffen haben. In dem Bericht wird bewertet, ob die Mitgliedstaaten die Richtlinie umgesetzt haben und ob die nationalen Rechtsvorschriften die Ziele der Richtlinie verwirklichen und ihre Anforderungen erfüllen.
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat die Richtlinie (EU) 2016/343 bisher mehrfach ausgelegt, und diese Auslegung wurde in dem vorliegenden Bericht berücksichtigt.
2.Allgemeine Beurteilung
Gemäß Artikel 14 mussten die Mitgliedstaaten die Richtlinie bis zum 1. April 2018 in nationales Recht umsetzen. Zu diesem Zeitpunkt hatten 11 Mitgliedstaaten – Bulgarien, Griechenland, Kroatien, Lettland, Luxemburg, Malta, Österreich, Rumänien, Slowakei, Schweden und Zypern – der Kommission nicht alle erforderlichen Maßnahmen mitgeteilt. Daher leitete die Kommission im Mai 2018 gegen diese Mitgliedstaaten Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 258 AEUV wegen mangelnder oder unvollständiger Mitteilung der Umsetzungsmaßnahmen ein. Die meisten der Mitgliedstaaten sind der Verpflichtung inzwischen nachgekommen, und die Vertragsverletzungsverfahren wurden eingestellt. Nach Vollständigkeitsprüfungen wurden jedoch vier Vertragsverletzungsverfahren bisher nicht eingestellt, da einige Bestimmungen der Richtlinie nach wie vor umzusetzen sind. Darüber hinaus wurden im Februar 2021 drei neue Vertragsverletzungsverfahren wegen unvollständiger Mitteilung eingeleitet.
Der Ansatz zur Umsetzung der Richtlinie unterscheidet sich zwischen den Mitgliedstaaten. Einige Mitgliedstaaten führten neben rechtlichen oder praktischen Umsetzungsmaßnahmen spezifische Maßnahmen zur ausdrücklichen Umsetzung der in der Richtlinie verankerten Rechte ein. In anderen Mitgliedstaaten wurde davon ausgegangen, dass die bestehenden Maßnahmen bereits weitgehend den Anforderungen der Richtlinie entsprechen, und es wurden keine spezifischen Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie erlassen. Auch wenn dem Fehlen ausdrücklicher Umsetzungsbestimmungen bisweilen zumindest teilweise durch praktische Umsetzungsmaßnahmen und die Rechtsprechung abgeholfen wird, ist dies nicht immer der Fall.
Dies führt dazu, dass die nationalen Vorschriften häufig nicht ausreichen, um bestimmte wesentliche Bestimmungen der Richtlinie vollständig einzuhalten. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Anwendungsbereich der nationalen Maßnahmen enger gefasst ist als in Artikel 2 der Richtlinie festgelegt. Die Bewertung hat in mehreren Mitgliedstaaten auch weitere Mängel aufgezeigt, insbesondere hinsichtlich der öffentlichen Bezugnahme auf die Schuld und in Bezug auf das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen.
Ein solcher Verstoß gegen die Einhaltung aller Bestimmungen der Richtlinie beeinträchtigt die Wirksamkeit der in der Richtlinie vorgesehenen Rechte. Die Kommission wird alle geeigneten Abhilfemaßnahmen ergreifen, einschließlich Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 258 AEUV.
3.Einzelne Punkte der Überprüfung
3.1.Anwendungsbereich (Kapitel 1 – Artikel 2)
Artikel 2 legt den Anwendungsbereich der Anforderungen der Richtlinie fest. Sie gilt für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind und für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat.
Auch wenn einige Mitgliedstaaten Artikel 2 nicht ausdrücklich umgesetzt haben, entspricht der Anwendungsbereich der nationalen Maßnahmen, mit denen die Rechte der Richtlinie umgesetzt werden, zumeist der Richtlinie. In einem Mitgliedstaat gelten die Umsetzungsmaßnahmen jedoch nur für Personen, die inhaftiert oder angeklagt wurden, nicht aber für De-facto-Verdächtige, was die Einhaltung der Richtlinie erheblich behindert. In einigen wenigen Mitgliedstaaten ergeben sich Probleme bei der Einhaltung der Bestimmung, da der zeitliche Anwendungsbereich der nationalen Maßnahmen stärker begrenzt ist. Diese Begrenzungen des zeitlichen Anwendungsbereichs könnten auch den persönlichen Geltungsbereich beeinträchtigen, wenn sie sich auf die Art und Weise der Einleitung des Verfahrens oder auf den Zeitpunkt auswirken, zu dem eine Person als verdächtig gilt.
Diese Probleme hinsichtlich der Einhaltung sind wesentlich, da sie sich auch auf den Anwendungsbereich der Unschuldsvermutung auswirken und den Umfang nationaler Bestimmungen zur Umsetzung spezifischer Rechte gemäß der Richtlinie einschränken können.
3.2.Unschuldsvermutung (Kapitel 2)
Kapitel 2 der Richtlinie befasst sich mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung. Gemäß Artikel 3 müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde. In einem Mitgliedstaat gilt der Grundsatz für Angeklagte und Häftlinge, nicht aber für Verdächtige, die nicht inhaftiert sind.
3.2.1.Öffentliche Bezugnahme auf die Schuld – Artikel 4
Lediglich in sechs Mitgliedstaaten stimmen die Rechtsvorschriften vollumfänglich mit Artikel 4 Absatz 1 überein, der fordert, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass, solange die Schuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde, in öffentlichen Erklärungen von Behörden und in nicht die Frage der Schuld betreffenden gerichtlichen Entscheidungen nicht so auf die betreffende Person Bezug genommen wird, als sei sie schuldig. Dies gilt unbeschadet der Strafverfolgungsmaßnahmen, die dazu dienen, den Verdächtigen oder die beschuldigte Person zu überführen, sowie unbeschadet der vorläufigen Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die von einer gerichtlichen oder sonstigen zuständigen Stelle getroffen werden und auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen. Auf dieser Grundlage und im Einklang mit Erwägungsgrund 16 hat der Gerichtshof folgendermaßen entschieden: „Diese Richtlinie regelt … nicht die Voraussetzungen, unter denen die Untersuchungshaft angeordnet werden kann“.
In einigen wenigen Mitgliedstaaten wurde Artikel 4 Absatz 1 zwar nicht ausdrücklich umgesetzt, die Anforderungen der Richtlinie werden jedoch durch allgemeine Bestimmungen zur Unschuldsvermutung oder zur Begrenzung der Verbreitung von Informationen sowie durch die Rechtsprechung erfüllt.
Es wurden jedoch in 19 Mitgliedstaaten Probleme hinsichtlich der Einhaltung der Bestimmung festgestellt, sodass diese die höchste Zahl an Problemen aufweist.
In einigen Mitgliedstaaten sind diese Probleme hauptsächlich auf die fehlende Umsetzung zurückzuführen, und in 13 Mitgliedstaaten resultieren sie in erster Linie aus der eingeschränkteren Reichweite nationaler Vorschriften, die nicht alle Behörden oder Verfahrensabschnitte oder gerichtliche Entscheidungen umfassen, wie dies in der Richtlinie gefordert wird.
In einigen Fällen haben die Probleme, die in Bezug auf die Einhaltung festgestellt wurden, in der Praxis geringere Auswirkungen, da das Verbot öffentlicher Bezugnahme auf die Schuld in einem nationalen Kontext als wesentlicher Aspekt des Grundsatzes der Unschuldsvermutung angesehen werden kann. Darüber hinaus gewährleisten die Bestimmungen über Verleumdung und die Veröffentlichung von Informationen in den Medien, Datenschutzvorschriften oder nicht rechtsverbindliche Leitlinien oder andere praktische Umsetzungsmaßnahmen bereits eine teilweise Einhaltung der Anforderungen der Richtlinie in der Praxis.
In anderen Mitgliedstaaten scheint die praktische Durchführung problematisch zu sein. So zeigt die Praxis beispielsweise, dass Richter und Staatsanwälte Artikel 4 Absatz 1 in der Regel zwar einhalten, andere Stellen wie Minister oder Mitglieder des Parlaments den Angeklagten jedoch manchmal als schuldig bezeichnen.
Das nationale Recht von 12 Mitgliedstaaten steht nicht vollständig im Einklang mit Artikel 4 Absatz 2, laut dem die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass bei einem Verstoß gegen die in Artikel 4 Absatz 1 festgelegte Verpflichtung geeignete Maßnahmen zur Verfügung stehen.
In vier Mitgliedstaaten ist dies darauf zurückzuführen, dass der Anwendungsbereich der nationalen Maßnahmen zur Umsetzung von Artikel 4 Absatz 1 eingeschränkt ist, beispielsweise wenn die Umsetzung auf gerichtliche Entscheidungen beschränkt ist, es jedoch keine Maßnahmen für Behörden gibt.
Gemäß Artikel 4 Absatz 3 hindert die in Artikel 4 Absatz 1 festgelegte Verpflichtung, nicht so auf Verdächtige und beschuldigte Personen Bezug zu nehmen, als seien sie schuldig, die Behörden nicht daran, Informationen über ein Strafverfahren öffentlich zu verbreiten, wenn dies im Zusammenhang mit den strafrechtlichen Ermittlungen oder im öffentlichen Interesse unbedingt erforderlich ist. Das nationale Recht einiger Mitgliedstaaten entspricht dem aus einem oder mehreren der folgenden Gründe nicht in vollem Umfang. Die maßgeblichen nationalen Maßnahmen decken nicht alle Behörden oder Arten von Informationen ab, es fehlt die Anforderung „unbedingt erforderlich“ oder es fehlen eindeutige Voraussetzungen zur Beschränkung der Verbreitung von Informationen. In einigen Fällen haben Probleme im Zusammenhang mit der Einhaltung der Bestimmung in der Praxis geringere Auswirkungen, da auch nicht rechtsverbindliche Leitlinien maßgeblich sind, wie etwa Presseleitlinien für den Kontakt mit Journalisten und die Bereitstellung von Informationen an diese.
3.2.2.Darstellung von Verdächtigen und beschuldigten Personen — Artikel 5
Gemäß Artikel 5 Absatz 1 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen vor Gericht oder in der Öffentlichkeit nicht durch den Einsatz von physischen Zwangsmaßnahmen so dargestellt werden, als seien sie schuldig. Viele Mitgliedstaaten haben es versäumt, spezifische Vorschriften zur Umsetzung dieser Bestimmung zu erlassen.
Gemäß Artikel 5 Absatz 2 hindert Artikel 5 Absatz 1 die Mitgliedstaaten nicht daran, physische Zwangsmaßnahmen einzusetzen, wenn dies im konkreten Fall aus Gründen der Sicherheit erforderlich ist oder dazu dient, einen Verdächtigen oder eine beschuldigte Person daran zu hindern, zu entkommen oder mit Dritten Kontakt aufzunehmen. In zwei Mitgliedstaaten wurden Probleme im Zusammenhang mit dem Fehlen einer Garantie für die Durchführung einer Einzelprüfung festgestellt.
Darüber hinaus scheint in einigen Mitgliedstaaten die Einhaltung von Artikel 5 auch in der Praxis problematisch zu sein. In einigen wenigen Mitgliedstaaten werden beispielsweise unabhängig von dem Grund, aus dem sich die beschuldigte Person in Untersuchungshaft befindet, Handschellen verwendet. Während sie zum Gerichtssaal gebracht wird, kann die beschuldigte Person in Handschellen von der Öffentlichkeit und der Presse gesehen und fotografiert werden. In anderen Mitgliedstaaten ist in Gerichtssälen die Nutzung von Glaskästen weit verbreitet.
3.2.3.Beweislast – Artikel 6
Artikel 6 Absatz 1 verlangt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Dies gilt unbeschadet einer Verpflichtung des Richters oder des zuständigen Gerichts, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu ermitteln, und unbeschadet des Rechts der Verteidigung, gemäß dem geltenden nationalen Recht Beweismittel vorzulegen.
In Erwägungsgrund 22 der Richtlinie wird festgestellt, dass ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vorläge, wenn die Beweislast von der Strafverfolgungsbehörde auf die Verteidigung verlagert würde. Dies gilt unbeschadet der Anwendung von Tatsachen- oder Rechtsvermutungen bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person. In den Mitgliedstaaten, in denen diese Vermutungen bestehen, erfüllen sie die in Erwägungsgrund 22 genannten Voraussetzungen, d. h. sie sind widerlegbar, wahren die Verteidigungsrechte und sind begrenzt und stehen in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten legitimen Ziel. Offenbar werden solche Vermutungen in begrenztem Umfang und in Bezug auf spezifische Fälle wie Verkehrsdelikte, Verleumdung, Betrug im gewerblichen Bereich und Drogendelikte angewandt. Die Rechtsvorschriften zweier Mitgliedstaaten stehen nicht vollständig im Einklang mit Artikel 6 Absatz 1, da ihr nationales Recht die Beweislast in bestimmten Fällen ohne klare Grenzen von der Strafverfolgungsbehörde weg verlagert. In einem dieser Mitgliedstaaten wird die Rolle des Staatsanwalts vom Richter übernommen, der dann die Beweislast übernimmt.
Artikel 6 Absatz 2 verlangt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass jeglicher Zweifel hinsichtlich der Frage der Schuld dem Verdächtigen oder der beschuldigten Personen zugutekommt, einschließlich in Fällen, wenn das Gericht prüft, ob die betreffende Person freigesprochen werden sollte. In einigen Mitgliedstaaten wird dieser Grundsatz zwar nicht ausdrücklich umgesetzt, es handelt sich jedoch um einen allgemeinen, in der Rechtsprechung anerkannten Grundsatz. Nur ein Mitgliedstaat erfüllt Artikel 6 Absatz 2 nicht vollumfänglich. Beschließt nämlich die Staatsanwaltschaft oder der Strafverteidiger, einen Zeugen nicht ins Kreuzverhör zu nehmen, liegt es im Ermessen des Richters, zu schlussfolgern, dass der Strafverteidiger und der Mandant die Position dieses Zeugen akzeptieren, wodurch die Unschuldsvermutung beeinträchtigt wird.
3.2.4.Recht, die Aussage zu verweigern, und Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen – Artikel 7
Nach Artikel 7 Absatz 1 müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in Bezug auf die Straftat, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, die Aussage zu verweigern. In einigen wenigen Mitgliedstaaten steht die Umsetzung jedoch nicht vollständig im Einklang mit der Richtlinie, da die nationalen Maßnahmen einen begrenzteren Anwendungsbereich haben.
Dies wirkt sich auch auf die Einhaltung von Artikel 7 Absatz 2 aus, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, sicherzustellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, sich nicht selbst belasten zu müssen. Darüber hinaus haben andere Mitgliedstaaten Artikel 7 Absatz 2 nicht ausdrücklich umgesetzt. In einem von ihnen wurde dieses Recht dennoch mehrmals von den obersten Gerichtshöfen anerkannt, während in zwei Mitgliedstaaten das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, weder im nationalen Recht noch in der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe ausdrücklich garantiert ist.
In zwei Mitgliedstaaten wurden andere Probleme hinsichtlich der Einhaltung der Bestimmung festgestellt. Diese Probleme gelten als besonders wichtig, da sie offensichtlich in direktem Widerspruch zu dem Recht stehen, sich nicht selbst belasten zu müssen. Denn hier liegen Maßnahmen vor, die die Ausübung dieses Rechts bestrafen oder Verdächtige oder beschuldigte Personen zwingen könnten, auf Umstände außer der strafrechtlichen Verantwortung hinzuweisen.
Alle Mitgliedstaaten haben Artikel 7 Absatz 3 umgesetzt, laut dem die Wahrnehmung des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, nicht der Beschaffung von Beweismitteln durch die zuständigen Behörden entgegensteht, die mithilfe gesetzlich vorgesehener Zwangsmittel rechtmäßig erlangt werden können.
Artikel 7 Absatz 4, laut dem die Mitgliedstaaten ihren Justizbehörden gestatten können, kooperatives Verhalten von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Verurteilung zu berücksichtigen, wurde von den Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich umgesetzt. Dennoch verbietet keiner der Mitgliedstaaten dies, und nach allgemeinen Strafverfahrensvorschriften ist es normalerweise möglich, bei der Verurteilung Verhalten zu berücksichtigen, das als kooperativ angesehen werden kann.
Gemäß Artikel 7 Absatz 5 darf die Wahrnehmung des Rechts, die Aussage zu verweigern, oder des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, durch Verdächtige und beschuldigte Personen, weder gegen sie verwendet werden noch als Beweis dafür gewertet werden, dass sie die betreffende Straftat begangen haben. In 14 Mitgliedstaaten gibt es keine nationalen Vorschriften, die negative Schlussfolgerungen ausdrücklich verbieten. Es wird jedoch nicht davon ausgegangen, dass dies die Beachtung der Bestimmung in einigen dieser Mitgliedstaaten beeinträchtigt, da diese entweder aus den allgemeinen Bestimmungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln abgeleitet werden kann oder aus der Rechtsprechung hervorgeht, dass diese Vorschrift in der Praxis ständig befolgt wird. Ein Beispiel dafür ist, wenn Verfassungsgerichte das Verbot, negative Schlussfolgerungen zu ziehen, als integralen Bestandteil des Aussageverweigerungsrechts und des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, betrachten. Es wird davon ausgegangen, dass die Lücke in anderen Mitgliedstaaten auch die Beachtung der Bestimmung beeinträchtigt, da die allgemeinen Bestimmungen nicht ausreichen oder ihr Anwendungsbereich nicht weit genug gefasst ist. In einem Mitgliedstaat ist die Einhaltung der Bestimmung trotz der Umsetzung von Artikel 7 Absatz 5 nur teilweise gegeben, da die Gerichte zwar sorgsam darauf achten, dass keine negativen Schlussfolgerungen aus dem Schweigen oder der Weigerung des Angeklagten gezogen werden, Beweise zu liefern, mit denen er sich selbst belastet, sich dieser Schutz jedoch nicht auf De-facto-Verdächtige erstreckt.
3.3.Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung (Kapitel 3)
Kapitel 3 der Richtlinie besteht aus zwei Artikeln: Artikel 8 betrifft das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung und Artikel 9 legt das Recht auf eine neue Verhandlung fest, wenn gegen Artikel 8 verstoßen wurde.
3.3.1.Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung – Artikel 8
Das nationale Recht aller 25 Mitgliedstaaten, die unter die Richtlinie fallen, steht im Einklang mit Artikel 8 Absatz 1, laut dem die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.
Artikel 8 Absatz 2 gewährt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, vorzusehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern
a)
der Verdächtige oder die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder
b)
der Verdächtige oder die beschuldigte Person, nachdem er bzw. sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde.
In Bezug auf Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe a wird in Erwägungsgrund 36 der Richtlinie klargestellt, dass die Unterrichtung der Verdächtigen oder der beschuldigten Personen über die Verhandlung dahin gehend verstanden werden sollte, dass diese persönlich geladen werden oder auf anderem Wege amtlich über den Termin und Ort der Verhandlung in einer Weise unterrichtet werden, dass sie von der Verhandlung Kenntnis nehmen können. Die Unterrichtung über die Folgen des Nichterscheinens sollte insbesondere dahin gehend verstanden werden, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen darüber unterrichtet wurden, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie der Verhandlung fernbleiben.
Erwägungsgrund 37 der Richtlinie bezieht sich auf die Anforderung, dass die Person gemäß Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b über die Verhandlung unterrichtet worden sein muss und sie einem von ihr oder vom Staat bestellten Rechtsanwalt ein Mandat erteilt haben muss.
In Fällen, in denen diese Voraussetzungen erfüllt sind, hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Richtlinie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung nicht verletzt ist, wenn die beschuldigte Person unmissverständlich entschieden hat, einem der Termine der sie betreffenden Verhandlung fernzubleiben.
Das Recht einiger Mitgliedstaaten steht nicht vollständig im Einklang mit Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe a, da die Anforderung, die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung zu unterrichten, oder die Anforderung, die beschuldigte Person über die Folgen der Nichterscheinung zu unterrichten, nicht erfüllt ist. In der Praxis ist es für beschuldigte Personen mitunter schwierig, nachzuweisen, dass sie aufgrund der Zustellungsmethode (z. B. einfache Postzustellung mit Hinterlegungsnachweis) keine Kenntnis von der Verhandlung hatten. Das Recht einiger weniger Mitgliedstaaten steht nicht vollständig im Einklang mit Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b, da es nicht gewährleistet, dass der vom Staat bestellte Rechtsanwalt von der beschuldigten Person ein Mandat erteilt bekäme, insbesondere dann, wenn die obligatorische Unterstützung durch einen Rechtsanwalt in Abwesenheit der beschuldigten Person in der Praxis weit verbreitet ist.
Während in den meisten Mitgliedstaaten Verfahren in Abwesenheit möglich sind, zeigt die Praxis, dass die Gerichte in einigen dieser Mitgliedstaaten die Verhandlungen bei Nichterscheinen des Angeklagten häufig vertagen und einen Vorführungsbefehl oder Haftbefehl erlassen.
Artikel 8 Absatz 4 sieht Folgendes vor: Wenn Mitgliedstaaten die Möglichkeit vorsehen, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu führen, es jedoch nicht möglich ist, die in Absatz 8 Absatz 2 genannten Voraussetzungen zu erfüllen, weil der Verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden kann, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass gleichwohl eine Entscheidung ergehen und vollstreckt werden kann. In einigen Mitgliedstaaten wurden Probleme bei der Einhaltung der Bestimmung festgestellt, da die nationalen Maßnahmen, die Verfahren in Abwesenheit zulassen, einen breiteren Anwendungsbereich haben und keine ausdrückliche Anforderung enthalten, dass „angemessene“ Bemühungen unternommen werden müssen, die Person aufzufinden.
Machen Mitgliedstaaten von der vorgenannten Möglichkeit Gebrauch, müssen sie sicherstellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie über die Entscheidung unterrichtet werden, insbesondere wenn sie festgenommen werden, auch über die Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten, sowie über das Recht, gemäß Artikel 9 eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen, unterrichtet werden. In zehn Mitgliedstaaten wurden aufgrund des Fehlens einer einschlägigen Bestimmung im nationalen Recht oder wegen fehlender Rechtsklarheit Probleme bei der Einhaltung der Bestimmung festgestellt.
Gemäß Artikel 8 Absatz 5 gilt Artikel 8 unbeschadet nationaler Vorschriften, die vorsehen, dass der Richter oder das zuständige Gericht einen Verdächtigen oder eine beschuldigte Person zeitweise von der Verhandlung ausschließen kann, wenn dies für die Sicherstellung des ordnungsgemäßen Ablaufs des Strafverfahrens erforderlich ist, vorausgesetzt, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden. In einigen wenigen Mitgliedstaaten ist die Umsetzung nicht mit der Richtlinie vereinbar, da der Anwendungsbereich der nationalen Maßnahmen eingeschränkter ist (z. B. wenn die Einhaltung der Bestimmung bei Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten und geringfügiger Straftaten nicht gewährleistet ist) oder der zeitliche Anwendungsbereich des Ausschlusses von Verdächtigen oder beschuldigten Personen von der Verhandlung nicht begrenzt ist, sodass sie von der gesamten Verhandlung ausgeschlossen werden können.
3.3.2.Recht auf eine neue Verhandlung – Artikel 9
Gemäß Artikel 9 müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie bei der sie betreffenden Verhandlung nicht anwesend waren und die in Artikel 8 Absatz 2 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt wurden, das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs haben, die bzw. der eine neue Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht und zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung führen kann. In diesem Zusammenhang müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass diese Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht haben, anwesend zu sein, im Einklang mit den Verfahren des nationalen Rechts effektiv mitzuwirken und ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.
Die meisten Mitgliedstaaten erfüllen diese Voraussetzungen, da eine neue Prüfung des Sachverhalts nach einer Verurteilung in Abwesenheit im Wege eines Rechtsmittels oder eines besonderen Rechtsbehelfs möglich ist, das/der zu einer neuen Verhandlung führt. In zwei Mitgliedstaaten ermöglichen die verfügbaren Rechtsbehelfe jedoch nicht immer eine neue Prüfung des Sachverhalts, was die Einhaltung der Bestimmung beeinträchtigt.
3.4.Rechtsbehelfe (Kapitel 4 – Artikel 10)
Artikel 10 Absatz 1 verlangt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen im Falle einer Verletzung ihrer in dieser Richtlinie festgelegten Rechte über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügen.
Einige Mitgliedstaaten erfüllen die Bestimmung nicht vollständig, da ihre nationalen Maßnahmen einen begrenzteren Anwendungsbereich haben, und zwar entweder in Bezug auf die Behörden oder Verfahrensabschnitte, für die Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, oder in Bezug auf die Rechte, deren Verletzungen durch die verfügbaren Rechtsbehelfe abgedeckt sind.
In einem Mitgliedstaat steht das Problem in direktem Zusammenhang mit der potenziellen Unwirksamkeit der Rechtsbehelfe in der Praxis, da für die Haftung für Verstöße von Behörden strenge Voraussetzungen gelten, die eine hohe Beweisschwelle festlegen und eine Entschädigung für Verstöße ausschließen, die die Behörden möglicherweise durch Unterlassung oder in gutem Glauben begangen haben.
Artikel 10 Absatz 2 stellt fest, dass die Mitgliedstaaten unbeschadet der nationalen Vorschriften und Regelungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln dafür sorgen müssen, dass bei der Würdigung von Aussagen von Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder von Beweisen, die unter Missachtung des Aussageverweigerungsrechts oder des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, erlangt wurden, die Verteidigungsrechte und das Recht auf ein faires Verfahren beachtet werden.
In einigen wenigen Mitgliedstaaten wurden aufgrund des begrenzteren Anwendungsbereichs des nationalen Rechts (keine Garantie in Bezug auf De-facto-Verdächtige), der Zulässigkeit rechtswidrig erlangter Beweismittel nach nationalem Recht oder des Fehlens von Bestimmungen, die einen wirksamen Schutz vor der Verwendung von Aussagen oder Beweismitteln gewährleisten, die unter Verstoß gegen das Aussageverweigerungsrecht oder das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, erlangt wurden, Probleme bei der Einhaltung festgestellt.
4.Schlussfolgerung
Die Richtlinie wurde eingeführt, um die wirksame Anwendung der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren zu verbessern. Insgesamt hat die Richtlinie einen EU-Mehrwert erbracht, indem sie das Schutzniveau für Bürgerinnen und Bürger erhöht hat, die an Strafverfahren beteiligt sind. Dies ist insbesondere in einigen Mitgliedstaaten der Fall, in denen bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung nicht in den nationalen Rechtsvorschriften verankert waren.
Dieser Bericht macht jedoch deutlich, dass im Zusammenhang mit wesentlichen Bestimmungen der Richtlinie in einigen Mitgliedstaaten weiterhin Schwierigkeiten bestehen. Dies gilt insbesondere für den Anwendungsbereich der nationalen Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie sowie zur Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie über das Verbot öffentlicher Bezugnahme auf die Schuld und über das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen.
Die Kommission wird die Vertragsverletzungsverfahren, die wegen unvollständiger Umsetzung der Richtlinie eingeleitet wurden, vorrangig weiterverfolgen. Die Kommission wird die Einhaltung der Richtlinie durch die Mitgliedstaaten auch weiterhin überprüfen und alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, um die Erfüllung ihrer Bestimmungen in der ganzen Europäischen Union sicherzustellen.