12.5.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 194/34


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der mögliche Beitrag bestimmter industrieller Ökosysteme zur strategischen Autonomie der EU und zum Wohlergehen ihrer Bürger“

(Sondierungsstellungnahme)

(2022/C 194/06)

Berichterstatterin:

Sandra PARTHIE

Befassung

Französischer EU-Ratsvorsitz, 21.9./2021

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

13.12.2021

Verabschiedung im Plenum

19.1.2022

Plenartagung Nr.

566

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

244/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Damit die europäischen Volkswirtschaften weltweit wettbewerbsfähig bleiben, müssen sich die Unternehmen in vielen Branchen auf neue globale Wettbewerber einstellen, neue Geschäftsmodelle finden und Lieferketten neu ordnen. Der sich daraus ergebende Wandel ist struktureller Natur und bringt mitunter Umwälzungen mit sich — nicht nur für die Unternehmen, sondern auch für die Menschen und ihre Arbeitsbedingungen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstreicht den Grundsatz, dass „niemand zurückgelassen wird“, und ruft dazu auf, mit allen relevanten Akteuren einen Dialog über die Bewältigung dieses Strukturwandels zu führen.

1.2.

Die Offenheit für Handel, Investitionen und andere Formen der internationalen Zusammenarbeit ist eine der Stärken der EU und gleichzeitig die Quelle von Wachstum und Wohlstand. Der EWSA begrüßt das Bestreben der EU, mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit zu übernehmen, einseitige Abhängigkeiten in kritischen Bereichen abzubauen und ihre Fähigkeit zur Festlegung und Umsetzung ihrer eigenen Prioritäten zu stärken. Dadurch sollen die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit gefestigt und die Widerstandsfähigkeit erhöht werden.

1.3.

Regulierung und Normung auf europäischer Ebene sind notwendig, um — ohne in Protektionismus zu verfallen — strategische und strukturelle Engpässe zu verringern, eine Diversifizierung zu erreichen, das geistige Eigentum zu schützen und für einen regelbasierten und fairen Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten und mit anderen globalen Partnern zu sorgen. In ihren transnationalen und globalen Bündnissen muss die EU in der Lage sein, entlang der gesamten Wertschöpfungs- und Lieferketten Verstöße gegen die Menschenrechte und die Grundfreiheiten sowie Gefahren für die Gesundheit und Sicherheit sowohl der Menschen als auch der Umwelt zu erkennen.

1.4.

Der EWSA empfiehlt der EU, zur Stärkung ihrer Produktionsbasis ihre Ausgaben für Forschung, Entwicklung und Investitionen zu erhöhen und weitere einschlägige Finanzierungsinstrumente wie das Interregionale Instrument für Innovationsinvestitionen (1) aufzustocken, um mit anderen Regionen der Welt zumindest gleichzuziehen und die dringend benötigten Innovationen möglich zu machen.

1.5.

Darüber hinaus empfiehlt der EWSA, die Kompetenzagenda auf den künftigen Bedarf des Arbeitsmarktes auszurichten. Das Konzept der industriellen Ökosysteme sollte auch dazu führen, dass das Wohlergehen der EU-Bürger mit Blick auf hochwertige Arbeitsplätze, Entlohnung und Zugang zu lebenslangem Lernen verbessert wird. In diesem Zusammenhang unterstreicht der EWSA seine Unterstützung für den EU-Kompetenzpakt, der für die Gewährleistung langfristiger Beschäftigungsaussichten für die Menschen in Europa von entscheidender Bedeutung ist.

1.6.

Der EWSA hält es für wichtig, eine echte Aufwärtskonvergenz der Volkswirtschaften in der EU zu erreichen, insbesondere in Bezug auf Produktivität, Sozialstandards, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie umweltfreundliche Produktion. Die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Binnenmarkts hängt weitgehend davon ab, dass das Potenzial aller Volkswirtschaften, deren Entwicklungsstand nach wie vor sehr unterschiedlich ist und die daher differenzierte und gezielte Maßnahmen erfordern, entwickelt und voll ausgeschöpft wird. Ziel sollte es sein, die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen. Investitionen in Forschung, Entwicklung und neue Technologien sind von grundlegender Bedeutung.

1.7.

Für ein ausgewogenes Bild des Wohlergehens stimmt der EWSA der Einschätzung der OECD zu, dass umfassende statistische Übersichten nötig sind, die das wiedergeben, was den Menschen wichtig ist. Sie müssen sich auf verschiedenste Faktoren erstrecken, wie Einkommen, Gesundheit, soziale Kontakte, Sicherheit und Umwelt. Wir müssen mehr als nur die Durchschnittswerte der Länder betrachten, wenn wir nicht nur verstehen wollen, ob sich die Lebensbedingungen verbessern, sondern auch für wen. Außerdem dürfen wir uns nicht darauf beschränken, das Wohlergehen heute zu messen, sondern müssen uns auch den Ressourcen zuwenden, mit denen es in Zukunft erhalten werden kann. Schließlich kann der Strukturwandel von den Menschen als Bedrohung wahrgenommen werden, auch wenn wirtschaftliche Analysen etwas anderes zeigen. Wahlgewinne populistischer Parteien überall in der EU, aber auch der Ausgang des Brexit-Referendums können auf Wählerinnen und Wähler zurückgeführt werden, die sich durch die Globalisierung entrechtet fühlen und meinen, keine Kontrolle über ihre Lebensentscheidungen mehr zu haben. Statistiken ändern nichts daran. Die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft müssen von politischen Entscheidungsträgern wesentlich stärker in die Bewältigung von Unmut und Ängsten vor sozialen Härten und in die Formulierung und Umsetzung von Lösungen vor Ort einbezogen werden. Der EWSA spricht sich für eine offenere und stärker auf Mitbestimmung ausgerichtete, nachhaltige Unternehmensführung aus, einschließlich der Unterrichtung, Anhörung und Beteiligung der Arbeitnehmer auf Unternehmensebene.

2.   Hintergrund der Stellungnahme und des betreffenden Legislativvorschlags

2.1.

Der EWSA verweist auf die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 1./2. Oktober 2020, in denen das Konzept der strategischen Autonomie als zentrales Merkmal des Binnenmarkts, der Industriepolitik und des digitalen Sektors gesehen wird. Er verweist ferner auf die Schlussfolgerungen des Rates (Wettbewerbsfähigkeit) vom 13. November 2020, in denen es heißt, dass dazu auch die Ermittlung und Verringerung strategischer Abhängigkeiten und die Stärkung der Widerstandsfähigkeit in den empfindlichsten industriellen Ökosystemen und in bestimmten Bereichen wie Gesundheitswesen, Verteidigungsindustrie, Weltraum, Digitalisierung, Energie, Mobilität und kritische Rohstoffe gehören.

2.2.

Die Ziele der offenen strategischen Autonomie sind Stabilität, die Verbreitung europäischer Normen und die Förderung der Werte der EU. Diese Ziele finden sich in mehreren neueren Initiativen, wie der Mitteilung über die Gestaltung der digitalen Zukunft Europas vom Februar 2020; der Mitteilung zu ausländischen Direktinvestitionen (Verordnung über die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen) vom März 2020; dem EU-Überprüfungsmechanismus für ausländische Direktinvestitionen, angenommen 2019 und voll in Kraft seit Oktober 2020; der Datenstrategie von November 2020; der Überprüfung der Handelspolitik basierend auf der „offenen strategischen Autonomie“ vom Februar 2021 und den laufenden Arbeiten an einem Instrument zur Bekämpfung von Zwangsmaßnahmen. Darüber hinaus ist der Vorschlag für eine Verordnung über das CO2-Grenzausgleichssystem vom Juli 2021 ein Beispiel für das wachsende Bewusstsein für Umweltthemen in der EU.

2.3.

Die Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000 zielte darauf ab, die EU zu einer wissensbasierten Wirtschaft und Gesellschaft zu machen. Mit ihr wurden messbare Indikatoren festgelegt und die Notwendigkeit unterstrichen, den Menschen auf ihrem Weg des lebenslangen Lernens zur Seite zu stehen. Der Kompetenzpakt ist im Hinblick auf Bildung, Fachwissen und Know-how von entscheidender Bedeutung, da einige Industriezweige im Rahmen des digitalen und des ökologischen Wandels vor großen Veränderungen stehen. Darüber hinaus sind die wichtigsten, in der „Blaupause für Kompetenzen“ erwähnten Interessenträger — Unternehmen, Gewerkschaften, Forschungsinstitute, Einrichtungen der allgemeinen und beruflichen Bildung sowie Behörden — unverzichtbare Akteure bei der Suche nach Lösungen zur Deckung des Qualifikationsbedarfs in den einzelnen Branchen. Der EWSA begrüßt die Arbeit der Europäischen Kommission und der sektoralen Partner wie der sektoralen Qualifikationsbeiräte und der Europäischen Allianzen für branchenspezifische Fertigkeiten zur Überwindung des Missverhältnisses zwischen der Nachfrage der Industrie nach Qualifikationen auf der einen und dem Bildungsangebot auf der anderen Seite (2).

2.4.

Der EWSA verweist auch auf die Arbeiten der Kommission zur Widerstandsfähigkeit der EU bei kritischen Rohstoffen (3), mit denen ein Weg hin zu mehr Nachhaltigkeit und Sicherheit aufgezeigt werden soll, auf die diesbezügliche Stellungnahme (4) des EWSA und auf die Einschätzungen, die der EWSA zu verschiedenen industriellen Ökosystemen und Wirtschaftszweigen (5) vorgelegt hat.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die EU beruht auf einem offenen Wirtschaftsmodell. 14 % der weltweiten Einfuhren werden von der EU getätigt, und 16 % der weltweiten Ausfuhren stammen aus der EU. Der EWSA teilt die Auffassung, dass die europäische Industriepolitik Mittel und Wege finden muss, um in strategischen Bereichen — von Technologie bis hin zu Lebensmitteln und Gesundheit — einseitige Abhängigkeiten zu verringern. Eine Industriepolitik mit einer starken industriellen Produktionsbasis sollte in der Lage sein, die potenziellen negativen Auswirkungen von Störungen auszugleichen. Versorgungssicherheit kann auch durch Partnerschaften mit „gleichgesinnten Ländern“ erreicht werden. So zielt beispielsweise der Handels- und Technologierat EU-USA darauf ab, solche Partnerschaften zu schaffen. Zum Schutz vor Handelsasymmetrien unterstützt der EWSA auch die Bemühungen der EU, handelspolitische Schutzinstrumente wie den EU-Mechanismus zur Überprüfung ausländischer Investitionen (6), das EU-Instrument für das internationale Beschaffungswesen (7) und die von der Europäischen Kommission im Mai 2021 vorgeschlagene Verordnung gegen Verzerrungen im Binnenmarkt durch Subventionen aus Drittstaaten (8) einzuführen und zu verbessern.

3.2.

Eine von der Kommission durchgeführte Bottom-up-Analyse der strategischen Abhängigkeiten zeigt, dass die Abhängigkeiten in den empfindlichsten industriellen Ökosystemen nur 0,6 % des Wertes der aus Drittländern eingeführten Waren ausmachen. So haben viele Wertschöpfungsketten während der Pandemie eine bemerkenswerte Widerstandskraft an den Tag gelegt. Der EWSA unterstützt nachdrücklich die Arbeit der Kommission zur Erfassung strategischer Abhängigkeiten und Kapazitäten. Die Analyse zeigt auch, dass 137 von 5 200 in die EU eingeführten Produkten zu empfindlichen Ökosystemen gehören, von denen die EU in hohem Maße abhängig ist. Das betrifft vor allem die energieintensiven Industriezweige (z. B. Rohstoffe), Gesundheitsökosysteme (z. B. pharmazeutische Wirkstoffe) und Produkte, die für die Unterstützung des ökologischen und des digitalen Wandels relevant sind. 52 % der Einfuhren dieser Waren, von denen die EU abhängig ist, stammen aus China. 34 Produkte sind aufgrund ihres möglicherweise geringen Potenzials für eine weitere Diversifizierung und Substitution durch EU-Produkte potenziell stärker mit Risiken behaftet. Um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu verbessern, sind solide Strategien für eine nachhaltige Energieversorgung und digitale Technologien erforderlich. Der EWSA unterstreicht, dass europäische Unternehmen im Bereich der digitalen Gesundheitsversorgung und der erneuerbaren Energien zu den Weltmarktführern gehören.

3.3.

Die offene strategische Autonomie zeichnet sich durch Produktionskapazitäten in zukunftsorientierten Sektoren innerhalb des europäischen Binnenmarktes aus, insbesondere für hochwertige Güter, bei denen es darauf ankommt, das Technologie- und Innovationspotenzial der EU zu erhalten. So zeigt beispielsweise die Bewertung der Kommission, dass Europa einen Weltmarktanteil von 33 % in der Robotikbranche, von 30 % bei eingebetteten Systemen, von 55 % bei Automobilhalbleitern, von 20 % bei Halbleiterausrüstung und von 20 % bei Photonikkomponenten hält (9). Bei der strategischen Autonomie geht es um handelspolitische Schutzinstrumente in einem Kontext wachsenden internationalen Wettbewerbs und illegaler Konkurrenz. Die Industriepolitik der EU geht daher Hand in Hand mit einer starken Handels- und Wettbewerbspolitik.

3.4.

Aus Sicht des EWSA umfasst die Verbesserung der offenen strategischen Autonomie die Stärkung der Widerstandsfähigkeit des Binnenmarkts, Investitionen in die eigenen Kompetenzen und die technologischen Kapazitäten der EU sowie in FuE-Ressourcen, die Diversifizierung der Produktions- und Lieferketten, die Sicherung der digitalen Souveränität, eine strategische Bevorratung, die Förderung und Anziehung von Investitionen und Produktion in Europa durch die Verbesserung der Bedingungen für eine Geschäftstätigkeit der Unternehmen, die Erkundung alternativer Lösungen und kreislauforientierter Wirtschaftsmodelle, die Förderung einer breiten industriellen Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten und das Streben nach Technologieführerschaft, wie vom Rat (Wettbewerbsfähigkeit) im November 2020 gefordert.

3.5.

Der Binnenmarkt ist Europas größter Trumpf, und die Kommission sollte sich weiterhin um die Stärkung seiner Widerstandsfähigkeit bemühen, indem sie Vorschriften um- und durchsetzt sowie Hindernisse beseitigt, um das Ziel einer innovativen, florierenden und zukunftsorientierten europäischen Wirtschaft zu erreichen. Ein starker Heimatmarkt ist für europäische Unternehmen eine Voraussetzung dafür, dass sie sich etablieren, sich weiterentwickeln, florieren und in der Lage sind, künftige Störungen zu vermeiden, beispielsweise mit Hilfe des Notfallinstruments für den Binnenmarkt.

3.6.

Der EWSA betont in seiner Stellungnahme „Kein Grüner Deal ohne sozialen Deal“ die Bedeutung eines starken, zukunftsgerichteten sozialen Dialogs und einer auf Mitbestimmung ausgerichteten, nachhaltigen Unternehmensführung. Der EWSA befürwortet es ebenfalls, dass die Arbeitnehmer informiert und konsultiert werden und dass im Interesse von Innovationen am Arbeitsplatz die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf Unternehmensebene gefördert wird (10). In seiner Entschließung zur nachhaltigen Unternehmensführung vom Dezember 2020 begrüßte das Europäische Parlament die Zusage der Kommission zur Überarbeitung der Richtlinie über die Angabe nichtfinanzieller Informationen und zur Entwicklung von EU-weiten Standards für die Berichterstattung über nichtfinanzielle Informationen (11). Die Einhaltung der Grundsätze einer nachhaltigen Unternehmensführung ist ein wichtiges Mittel zur Förderung der europäischen Werte im Ausland und verschafft europäischen Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil.

3.7.

Die sozioökonomische Lage in den EU-Mitgliedstaaten und Regionen ist nach wie vor sehr uneinheitlich. Daher muss sichergestellt werden, dass im Rahmen eines spezifischen Governance-Prozesses gezielte regionale Übergangspfade für die verschiedenen Ökosysteme entwickelt werden. Dazu gehört auch die Förderung des Zugangs zu neuen Märkten, insbesondere für KMU, und nachhaltigen Wertschöpfungsketten. Der EWSA unterstützt Governance-Ansätze wie Kommissionen oder Zentren für den regionalen Wandel, die in enger Zusammenarbeit mit lokalen und regionalen Wirtschaftsakteuren spezifische lokale und regionale Lösungen für die anstehenden wirtschaftlichen Veränderungen festlegen.

3.8.

Im Hinblick auf eine bessere industrielle Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten begrüßt der EWSA die analytische Arbeit der Kommission zur Definition und Beschreibung von vierzehn „industriellen Ökosystemen“. Die Analyse spiegelt ähnliche Maßnahmen der USA und Chinas wider. Sie lassen sich in zwei verschiedene Kategorien unterteilen: ein Ökosystem definiert als Netz von Clustern in einem bestimmten Tätigkeitsbereich und ein regionales Ökosystem, bei dem es um die Wechselwirkung der Wirtschaftsbeteiligten in einem bestimmten Gebiet geht. Zusammen bilden sie eine interaktive Plattform zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Behörden und Interessenträgern und zur Erleichterung der Kommunikation zwischen den Akteuren. Der EWSA sieht einen wirklichen Mehrwert für Unternehmen, die ein bestimmtes Anliegen einem gesamten Ökosystem mitteilen können, das in der Lage ist, darauf zu reagieren. Je tiefer und dichter ein Ökosystem ist, desto mehr Nutzen können alle Beteiligten daraus ziehen und desto größer wird der Mehrwert sein, den es erbringt.

3.9.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten richten ihren Fokus auf öffentliche Programme für die Spitzenforschung auf EU-Ebene. Entsprechend wurden die FuE-Budgets von der nationalen auf die EU-Ebene übertragen und sind größer als je zuvor, auch wenn sie immer noch unter dem Niveau strategischer Konkurrenten wie China liegen; eine vierte Runde von „Moonshot-Programmen“ zielt darauf ab, die globale Führerschaft der EU in Forschung und Entwicklung wiederherzustellen. Dies sollte auch große KI-Modelle für Unternehmen (LEAM), gemeinsame Datenräume für die Industrie und neu entstehende grüne Technologien umfassen sowie die Forschungs-, Entwicklungs- und Investitionstätigkeiten zur Entwicklung synthetischer Ersatzstoffe für kritische Rohstoffe verstärken.

3.10.

Die FuE-Ausgaben in der Europäischen Union beliefen sich 2019 auf 2 % des BIP. Im Vergleich dazu gaben China 2019 ebenfalls 2 %, die USA jedoch 3 % ihres BIP für FuE aus. Nach Ansicht des EWSA sollte die EU ihre FuE-Ausgaben erhöhen, um ihre verarbeitende Industrie zu stärken. Er muss jedoch leider feststellen, dass die Innovationsökosysteme der EU — abgesehen von wesentlichen öffentlichen FuE-Investitionen und starken privaten Konglomeraten im Bereich des Klimaschutzes und des Gesundheitswesens — nicht gut genug gedeihen (12). Ein wirksamer Wettbewerb in der EU ist zwar ein ausgezeichneter Innovationsanreiz für Unternehmen, doch sollten diese durch die umfassende Nutzung weiterer FEI-Finanzierungsinstrumente auf EU-Ebene noch mehr Rückendeckung erhalten, um die EU mit anderen Regionen der Welt zumindest auf eine Stufe zu setzen und damit die dringend benötigten Innovationen möglich zu machen. Derzeit bedient die EU mit ihren Investitionen in erster Linie inländische Interessen, d. h. nationale Interessen der Mitgliedstaaten, statt nach europäischen Ansätzen und Lösungen zu suchen, indem bessere und tiefere Verbindungen zwischen den Wirtschaftsakteuren geschaffen und genutzt werden.

3.11.

Der EWSA unterstützt nachdrücklich die Forderung nach stärkeren Ökosystemen und Wertschöpfungsketten sowie deren Zusammenarbeit und ist der Auffassung, dass sie mit dem doppelten Wandel, d. h. der Ökowende und der Digitalisierung, verknüpft werden müssen, um das Wohlergehen der Menschen in Europa zu verbessern. Übergangspfade werden hilfreich sein, indem sie für eine sinnvolle Abfolge der politischen Maßnahmen und für Vorhersehbarkeit sorgen, was für Unternehmen und das Wohlergehen der Bürger wichtig ist, z. B. im Hinblick auf die Entwicklung von Kompetenzen. In diesem Zusammenhang verweist der EWSA auf stakeholderorientierte Wirtschaftsmodelle, deren wesentliche Triebkräfte die Eindämmung des Klimawandels und der Umweltzerstörung sind. Er fordert die Mitgliedstaaten und die Kommission auf, diese Modelle in größerem Umfang in ihren politischen Konzeptionen und Folgenabschätzungen zu nutzen.

3.12.

Investitionen zur Schaffung widerstandsfähigerer und tragfähiger Wertschöpfungsketten, die Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und Gütern bieten, müssen zu positiven Ergebnissen für Wirtschaftswachstum und Wohlergehen führen. Es sollten branchenspezifische Aktionspläne aufgestellt werden, die an die Initiativen wichtiger Wirtschaftsakteure anknüpfen und die bestehenden Wirtschaftsgruppen in Europa, einschließlich KMU, stärken. Dies sollte institutionelle Unterstützung beinhalten, die es ihnen ermöglicht, durch Stresstests und Risikobewertungen zur Vermeidung von Engpässen Wertschöpfungsketten besser zu kontrollieren und Krisen zu antizipieren.

3.13.

Die richtigen strategischen Wertschöpfungsketten, Lieferketten und Cluster zu definieren, wird von ausschlaggebender Bedeutung sein. Durch die Förderung wichtiger Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) und die Gründung von Industrieallianzen für Elektrofahrzeugbatterien, Hochleistungsrechnen, Mikroelektronik, vernetzte, saubere und autonome Fahrzeuge, intelligente Gesundheit, CO2-arme Industrie, Wasserstofftechnologien und -systeme, das industrielle Internet der Dinge und Cybersicherheit hat die Kommission deutlich gemacht, welche Bereiche prioritär und mit einem klaren Mehrwert für die EU entwickelt werden sollten. Zusammen mit der Wahrung europäischer Interessen im Hinblick auf europäische Normen und den Schutz des europäischen geistigen Eigentums bildet dies eine solide Grundlage für kohärente industrie- und wirtschaftspolitische Maßnahmen.

3.14.

Dies ist nicht nur ein reiner Selbstzweck, sondern hat zum Ziel, das Wohlergehen der Menschen in Europa zu erhalten und zu fördern, indem gute Arbeitsplätze in zukunftsorientierten Branchen geschaffen werden und zugleich auf den doppelten Übergang hingearbeitet wird. Um diese Ziele zu erreichen, müssen die richtigen Indikatoren und Parameter verwendet werden. Der EWSA meint, dass das „Wohlergehen“ als statistisch messbares Konzept ausgereift ist und politischen Entscheidungsträgern als „Kompass“ dienen kann, von dem sie sich bei ihren Entscheidungen leiten lassen.

3.15.

Der EWSA stimmt der OECD zu, die eine „Ökonomie des Wohlergehens“ definiert als ein Wirtschaftssystem, das:

1)

den Menschen größere Chancen für sozialen Aufstieg und ein besseres Leben in den Bereichen verschafft, die ihnen am wichtigsten sind,

2)

dafür sorgt, dass diese Chancen bei allen Bevölkerungsgruppen, einschließlich derjenigen am unteren Rand, zu einem besseren Wohlergehen führen,

3)

Ungleichheiten verringert und

4)

ökologische und soziale Nachhaltigkeit gewährleistet.

Brüssel, den 19. Januar 2022

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  https://eismea.ec.europa.eu/programmes/interregional-innovation-investments-i3-instrument_en.

(2)  Blaupause zur Branchenzusammenarbeit für Kompetenzen. Reaktion auf das Missverhältnis von Qualifikationsangebot und -nachfrage auf Branchenebene. Eine der wichtigsten Initiativen im Rahmen der neuen europäischen Kompetenzagenda.

(3)  Europäische Kommission, Widerstandsfähigkeit der EU bei kritischen Rohstoffen: Einen Pfad hin zu größerer Sicherheit und Nachhaltigkeit abstecken (COM(2020) 474 final).

(4)  ABl. C 220 vom 9.6.2021, S. 118.

(5)  Stellungnahme des EWSA „Die EU-Mobilitätsstrategie und industrielle Wertschöpfungsketten der EU: ein Ökosystemansatz in der Automobilindustrie“ (ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 26); zusätzliche Stellungnahme des EWSA „Aktualisierung der neuen Industriestrategie für Europa — Auswirkungen auf die Gesundheitsbranche“ (ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 152); Stellungnahme des EWSA „Antizipation des strukturellen und sektoralen Wandels und Umgestaltung der Industriekulturen — auf zu neuen Grenzen des Wiederaufbaus und der Resilienz in den verschiedenen Teilen Europas“ (noch in Arbeit); Stellungnahme des EWSA zu den „Nachhaltigkeitsanforderungen für Batterien in der EU“ (ABl. C 220 vom 9.6.2021, S. 128); Stellungnahme des EWSA „Die europäische Glasindustrie am Scheideweg: Wie kann die Glasindustrie umweltfreundlicher und energieeffizienter werden, ohne ihre Wettbewerbsfähigkeit und ihre qualifizierten Arbeitsplätze einzubüßen?“ (ABl. C 105 vom 4.3.2022, S. 18).

(6)  Europäische Kommission: „EU-Überprüfungsmechanismus für ausländische Investitionen ist voll funktionsfähig“, 9. Oktober 2020.

(7)  Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments, „EU international procurement instrument“, Oktober 2021.

(8)  Europäische Kommission: „Kommission schlägt neue Verordnung gegen Verzerrungen im Binnenmarkt durch Subventionen aus Drittstaaten vor“, 5. Mai 2021.

(9)  Europäische Kommission, Investitionen in eine intelligente, innovative und nachhaltige Industrie. Eine neue Strategie für die Industriepolitik der EU (COM(2017) 479 final).

(10)  ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 23.

(11)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Dezember 2020 zur nachhaltigen Unternehmensführung (2020/2137(INI)).

(12)  Bericht „Shaping and securing the EU’s open strategic autonomy by 2040 and beyond“ [Gestaltung und Sicherung der offenen strategischen Autonomie der EU bis 2040 und darüber hinaus] aus der Reihe „Science for Policy“, Gemeinsame Forschungsstelle, 2021.