4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/63


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Aktualisierung der neuen Industriestrategie von 2020: einen stärkeren Binnenmarkt für die Erholung Europas aufbauen

(COM(2021) 350 final)

(2022/C 105/10)

Berichterstatterin:

Sandra PARTHIE

Mitberichterstatter:

Dirk BERGRATH

Befassung

Europäische Kommission, 1.7.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

30.9.2021

Verabschiedung im Plenum

21.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

194/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Eine schlüssige Industriestrategie sollte zwei Schwerpunkte haben: Pandemiefolgenbewältigung sowie Wiederaufschwung und Resilienz. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Forderung nach einer gemeinsamen Gestaltung von Übergangspfaden in die grüne und digitale Zukunft und betont, dass dies in Partnerschaft mit der Industrie, den Behörden, den Sozialpartnern und anderen Interessenträgern geschehen muss. Nach Ansicht des EWSA besteht der erste Schritt einer erfolgreichen und kohärenten Umsetzung der Industriestrategie in der Schaffung des richtigen Rahmens mit einem Schwerpunkt auf Wettbewerbsfähigkeit und Innovation. Dieser Fokus muss in jedem Ökosystem mit klaren Zielen und Zielvorgaben angesprochen werden.

1.2.

Der EWSA fordert zu diesem Zweck spezielle zentrale Leistungsindikatoren, mit denen nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit des Ökosystems, sondern auch Querschnittsaspekte beurteilt werden können. Er betont, dass die ausgewählten Indikatoren regelmäßig einer Prüfung unterzogen und im Laufe der Zeit angepasst oder geändert werden müssen.

1.3.

Der EWSA begrüßt das Engagement der Europäischen Kommission für den Erhalt und den Ausbau der Industrie- und Fertigungsbasis Europas und betont, dass die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft hierbei eine Schlüsselrolle spielen und in die Gestaltung der Zukunft der europäischen Industrie einbezogen werden müssen. Der EWSA fordert außerdem, dass die geplanten Maßnahmen im Hinblick auf Klimaneutralität und den digitalen Wandel mit den Zielen des sozialen Wohlbefindens und des nachhaltigen Wachstums in Einklang gebracht werden.

1.4.

Der Ausschuss teilt die Auffassung, dass die Resilienz der Wertschöpfungsketten immer wichtiger wird. Er unterstützt die Bemühungen der Kommission, die Lieferketten zu sichern und die Resilienz der Unternehmen zu stärken, da dies für die Wirtschaft der EU bedeutungsvoll ist und die COVID-19-Pandemie unerwartete Mängel — auch des Binnenmarkts — aufgezeigt hat.

1.5.

Die Pandemie hat in einigen Bereichen leider dazu beigetragen, die Kluft zwischen prosperierenden und weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten der EU zu vergrößern. Hierdurch gerät der soziale und wirtschaftliche Zusammenhalt noch weiter in Schieflage. Mit NextGenerationEU steht der EU ein beispielloses Instrument zur Verfügung, um gegenzusteuern. Es muss genutzt werden, um eine bessere Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten und Regionen der EU zu erreichen, auch im Hinblick auf den doppelten Übergang zu einem nachhaltigen und digitalen Europa.

1.6.

Industrieallianzen haben sich bei der Entwicklung großer und grenzübergreifender Industrieprojekte in strategischen Bereichen als erfolgreich erwiesen. Diese Industrieallianzen sowie wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) sind entscheidend für die wirtschaftliche Erholung und die Förderung europäischer Standards und Schlüsseltechnologien, insbesondere in Bereichen, in denen der Markt allein dies nicht leistet oder verzerrt wird.

1.7.

Unserer Ansicht nach erfordert eine erfolgreiche Umsetzung solcher Projekte einen engen Dialog mit Arbeitnehmervertretern und Gewerkschaften sowie mit Unternehmensvertretern und Arbeitgeberverbänden, um deren Know-how einzubeziehen und Ungewissheiten bei der Umstellung möglichst gering zu halten. Sie müssen mit einer Folgenabschätzung zu den Auswirkungen der Dekarbonisierung auf die Wertschöpfung, die Beschäftigung und die Kompetenzen einhergehen, die für eine dekarbonisierte Industrieproduktion und die Kreislaufwirtschaft erforderlich sind.

1.8.

Die Ermittlung klarer und geeigneter Maßnahmen zur Unterstützung der europäischen KKMU (1) ist von größter Bedeutung. Der EWSA unterstützt die Absicht, Unternehmen jeder Größe eine leicht abzurufende Unterstützung für Innovationen und eine umfassende Übernahme der Digitalisierung zu bieten. Ebenso notwendig ist eine Überarbeitung der politischen Maßnahmen, damit die Personalprobleme der Unternehmen überwunden und qualifizierte Arbeitskräfte angeworben werden können. Es muss ein unternehmensfreundliches Umfeld geschaffen und in die soziale Infrastruktur investiert werden, und für die Kompetenzen und die Ausbildung der Arbeitnehmer sowie für angemessene Arbeitsbedingungen muss Sorge getragen werden.

1.9.

Engpässe in den strategischen Wertschöpfungsketten und der Fachkräftemangel untergraben die Fähigkeit der europäischen Industrie, sich rasch von der Pandemie zu erholen. Für die Mitgliedstaaten und die EU ist entschlossenes Handeln geboten, um strategische Abhängigkeiten (2) anzugehen, unter anderem durch Reindustrialisierung, Kreislaufwirtschaft, Handelspolitik und kompetenzfördernde Maßnahmen. Im Allgemeinen sind die Unternehmen am besten in der Lage, ihre Lieferketten zu überprüfen und zu überarbeiten, und sollten dabei unterstützt werden.

1.10.

Die EU muss offen, fair und ihren Werten treu bleiben, um Investoren anzuziehen und die Wirtschaftstätigkeit zu unterstützen. Dessen ungeachtet unterstützt der EWSA einen offenen und fairen Binnenmarkt, der es europäischen Unternehmen ermöglicht, auf ausländischen Märkten zu konkurrieren. Er fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten daher auf, dafür zu sorgen, dass in digitale Lösungen investiert wird, die einen Mehrwert für die europäischen Volkswirtschaften schaffen. Die Digitalisierung der Wirtschaft sollte auf integrative Weise gefördert werden, um jegliche Art von digitaler Diskriminierung zu verhindern.

1.11.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die von der Kommission angekündigten Maßnahmen zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs aufgrund ausländischer Subventionen auch als Instrument zur Reindustrialisierung Europas und zur Unterstützung seiner industriellen Wertschöpfungsketten eingesetzt werden sollten. Der EWSA unterstützt auch die Kartierung der europäischen Produktionsketten, denn der Industrie kommt bei diesem Wiederaufschwung eine Vorreiterrolle zu. Europäische Normen sollten auf globaler Ebene besser gefördert werden.

2.   Die Mitteilung der Kommission

2.1.

Die vorliegende Mitteilung ist eine Aktualisierung der Mitteilung „Eine neue Industriestrategie für Europa“, die am 10. März 2020 veröffentlicht worden war. Ziel der Aktualisierung ist es, die Auswirkungen der Pandemie auf die europäische Wirtschaft und Industrie zu erfassen, die Lehren aus der Krise zu ziehen und die politischen Prioritäten in drei Hauptbereichen darzustellen:

Stärkung der Resilienz des Binnenmarkts;

Umgang mit den strategischen Abhängigkeiten Europas;

Beschleunigung des grünen und des digitalen Übergangs in der Industrie der EU.

2.2.

In der Aktualisierung werden auch die Resilienz und Funktionsweise des Binnenmarkts sowie die Bedürfnisse jedes industriellen Ökosystems bewertet, strategische Abhängigkeiten in wichtigen empfindlichen Ökosystemen ermittelt und wesentliche Leistungsindikatoren (KPI) zur Überwachung der Umsetzung der Strategie vorgeschlagen. Für KMU werden eine maßgeschneiderte finanzielle Unterstützung und Maßnahmen vorgesehen, um KMU und Start-ups zur Bewältigung des doppelten Übergangs zu befähigen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt die Aktualisierung der Industriestrategie. Die Strategie musste überarbeitet werden, weil die Wirtschaft, die industriellen Wertschöpfungsketten, Kleinstunternehmen sowie kleine und mittlere Unternehmen und die Bürgerinnen und Bürger Europas — insbesondere junge Menschen, Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, Geringverdiener und vulnerable Gruppen, darunter Menschen mit Behinderungen und Frauen — aufgrund der COVID-19-Krise unter Druck geraten sind. Es wurden zusätzliche Schwächen, Abhängigkeiten und Lücken in den Lieferketten aufgedeckt. Eine faktengestützte Lagebewertung ist angezeigt, damit sie erfolgreich behoben werden können. Der EWSA begrüßt die Bekräftigung der Kommission, die Industrie- und Fertigungsbasis erhalten und ausbauen zu wollen, und betont, dass die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft hierbei eine Schlüsselrolle spielen und in die Gestaltung der Zukunft der europäischen Industrie einbezogen werden müssen. Der EWSA unterstreicht insbesondere die entscheidende Bedeutung des sozialen Dialogs, der Sozialpartner, der Tarifverhandlungen und der Beteiligung von Arbeitnehmern und Zivilgesellschaft für eine wettbewerbsfähige Industriepolitik.

3.2.

Da die bereits vor der COVID-19-Krise bestehenden Herausforderungen keineswegs verschwunden sind, muss für Kohärenz mit den in der Industriestrategie 2020 für Europa vorgeschlagenen Maßnahmen gesorgt werden. Der Aufschwung wird seine Zeit in Anspruch nehmen und muss durch eine kontinuierliche Unterstützung der europäischen Industrie, Unternehmen und Beschäftigten abgesichert werden. Die Herausforderung des doppelten Übergangs — die Bewältigung des Klimawandels und die weitere Digitalisierung — wird den Unternehmen und Behörden einiges abverlangen und muss einen zentralen Stellenwert in einer modernen Industriestrategie für Europa bekommen. Der EWSA betont, dass die geplanten Maßnahmen im Hinblick auf Klimaneutralität und den digitalen Übergang mit dem Ziel der Schaffung von sozialem Wohlergehen und nachhaltigem Wachstum in Einklang stehen müssen, sodass ein gerechter Übergang erreicht wird, bei dem niemand zurückgelassen wird. Neben der Fokussierung auf die Erholung von der COVID-19-Krise bedarf es einer längerfristigen Perspektive für einen ökologischen und digitalen Wandel, aber auch für Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit im Allgemeinen.

3.3.

Der Ausschuss teilt die Auffassung, dass die Resilienz der Wertschöpfungsketten immer wichtiger wird. Er unterstützt die Bemühungen der Kommission, die Lieferketten zu sichern und die Resilienz der Unternehmen zu stärken, da dies für die Wirtschaft der EU bedeutungsvoll ist und die COVID-19-Pandemie unerwartete Mängel — auch des Binnenmarkts — aufgezeigt hat. Eine starke horizontale Industriepolitik sollte die europäische industrielle Basis ohne willkürliche Eingriffe in die Marktergebnisse unterstützen. Der EWSA verweist auf die Bedeutung von Innovationen. Die Suche nach Möglichkeiten, ein angemessenes Maß an Versorgungssicherheit zu finden und die Kapazitäten zur Bewältigung von Versorgungsstörungen zu stärken, gehört auf die politische Tagesordnung, vor allem aber auf die Agenda der Unternehmen.

3.4.

Kompetenzen sind entscheidend für die Unterstützung des doppelten Übergangs und des Wiederaufbaus. Die EU kann nur dann eine geopolitische Kraft sein, wenn sie über eine sehr wettbewerbsfähige industrielle Grundlage mit starken Unternehmen, hochqualifizierten Arbeitskräften, Produktionsanlagen auf europäischem Boden und klaren und fairen Regeln für den Binnenmarkt verfügt. Der EWSA unterstützt den Kompetenzpakt, mit dem Maßnahmen zur Weiterbildung und Umschulung erwachsener Arbeitskräfte gefördert werden sollen. Maßnahmen im Rahmen des Pakts, etwa die Entwicklung von Kompetenzpartnerschaften in den jeweiligen Ökosystemen einschließlich öffentlich-privater Partnerschaften, lassen sich am besten auf sektoraler Ebene unter Einbeziehung der Sozialpartner der einzelnen Branchen und der relevanten zivilgesellschaftlichen Organisationen entwickeln. Auch müssen nationale Kompetenzinitiativen den Arbeitgebern Anreize bieten, Ausbildungsplätze zu schaffen. In diesem Zusammenhang ist die territoriale Dimension von größter Bedeutung; die Arbeitsmärkte sollten im Hinblick auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze in allen Regionen angemessen bewertet werden. Der EWSA wird diese Aspekte beobachten und fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft in die Überwachung und Umsetzung der Aufbau- und Resilienzpläne einzubeziehen, die mit dem europäischen Grünen Deal und der Industriestrategie im Einklang stehen müssen. Europa braucht qualifizierte Arbeitskräfte, die mit den Veränderungen in der Wirtschaft Schritt halten. Die erfolgreiche Weiterqualifizierung und Umschulung ist eine enorme Herausforderung (3).

3.5.

Der EWSA begrüßt die im Zuge der Strategie vorgenommene gründliche Analyse der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Die vorgeschlagenen durchgehenden Überwachungs- und Beobachtungsaktivitäten und -instrumente wie der jährliche Binnenmarktbericht oder die Überwachung kritischer Rohstoffe können sehr nützliche Daten für die Bewertung der industriellen Stärke Europas liefern. Sie könnten in eine horizontale Industriepolitik einfließen, durch die Europa wieder eine weltweite Führungsposition erlangen kann.

3.6.

Die diversen Strategien oder Pläne, z. B. zum Grünen Deal oder NextGenerationEU, reichen jedoch nicht aus, solange es bei der Umsetzung hapert. Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass die verschiedenen Pläne für den Wiederaufbau Europas mit dem erforderlichen Rechtsrahmen und Anreizen einhergehen, damit der Übergang der Industrie, ihrer Unternehmen und der Beschäftigten zu einer nachhaltigen und digitalen Zukunft möglich wird.

3.7.

Im Einklang mit der europäischen Säule sozialer Rechte sollte dieser erhebliche Einsatz öffentlicher Mittel auf den Grundsatz der sozialen Nachhaltigkeit und Solidarität ausgerichtet sein. Dies sollte ein Leitprinzip bei der Umsetzung der aktualisierten Strategie sein. Angesichts des Ausmaßes der Herausforderungen reichen die derzeit über den Fonds für einen gerechten Übergang bereitgestellten Mittel nicht aus, um tragfähige Perspektiven für die betroffenen Regionen und Beschäftigten im Strukturwandel zu schaffen. Ein gerechter Übergang in der Industrie kann nur gelingen, wenn er koordiniert durchgeführt wird. Der EWSA ist der Auffassung, dass öffentliche Investitionen über breit angelegte und offene Forschungsprogramme wie Horizont Europa getätigt werden sollten, um eine Subventionierung marktnaher Tätigkeiten zu vermeiden.

3.8.

Industrie- und Handelspolitik sind miteinander verknüpft. Sie müssen sich gegenseitig verstärken und Marktverzerrungen beseitigen. Eine für Handel und Investitionen offene EU ist eine Voraussetzung für künftige Resilienz. Handel kann dazu beitragen, die Lieferketten zu diversifizieren und der EU einen ungehinderten Zugang zu den Betriebsmitteln zu verschaffen, die für unser Innovationsvermögen und die Ausweitung der Produktion unentbehrlich sind (4). Die Handelspolitik der EU kann dazu beitragen, unsere globale Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, etwa indem von den Handelspartnern höhere Klimaschutzziele verlangt werden, z. B. durch die Liberalisierung des Handels mit Umweltgütern und -dienstleistungen. Der EWSA betont, dass alle Politikbereiche der EU die nachhaltige Entwicklung sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene fördern sollten, indem sichergestellt wird, dass die wirtschaftliche Entwicklung mit sozialer Gerechtigkeit, der Achtung der Menschenrechte und hohen Arbeits- und Umweltstandards verbunden wird. Die EU muss offen, fair und ihren Werten treu bleiben, um Investoren anzuziehen und ihre Wirtschaftstätigkeit zu unterstützen.

3.9.

Der Binnenmarkt ist Europas größter Trumpf, und mit seinem Erfolg steht und fällt der Übergang. Die Kommission sollte sich weiterhin auf die Umsetzung und Durchsetzung von Vorschriften und auf die Beseitigung von Binnenmarkthemmnissen konzentrieren, die es bereits vor der Krise gab.

3.10.

Die Pandemie hat in einigen Bereichen die Kluft zwischen prosperierenden und weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten der EU vergrößert. Hierdurch gerät der soziale und wirtschaftliche Zusammenhalt noch weiter in Schieflage. Mit „NextGenerationEU“ wird ein beispielloses Instrument aufgeboten, um diese Auswirkungen abzumildern. Allerdings bedauert der EWSA, dass der regionale Aspekt, eine Randlage oder die geografische Lage bei der Aktualisierung der Industriestrategie überhaupt keine Rolle spielen. Ein Ökosystemansatz allein wird die Situation weder beheben noch die Unterschiede verringern. Ein Hauptziel der Strategie sollte darin bestehen, die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und Regionen zu verringern und dabei gleichzeitig eine Aufwärtskonvergenz anzustreben.

4.   Überwachung industrieller Trends, der Wertschöpfungsketten und der Wettbewerbsfähigkeit

4.1.

Das verarbeitende Gewerbe ist ein Motor für Innovation und ein Dreh- und Angelpunkt der Wertschöpfungsketten (einschließlich Dienstleistungen) und bietet hochproduktive und gut bezahlte Arbeitsplätze. Die Sicherung der Zukunft des verarbeitenden Gewerbes, die Stärkung der Industrieproduktion und ein positives Geschäfts- und Regelungsumfeld sollten die Eckpfeiler einer auf Resilienz ausgerichteten, modernen europäischen Wirtschafts- und Industriepolitik sein, durch die Arbeitsplätze bewahrt und geschaffen werden.

4.2.

Engpässe in den strategischen Wertschöpfungsketten und der Fachkräftemangel untergraben die Fähigkeit der europäischen Industrie, sich rasch von der Pandemie zu erholen. Die Mitgliedstaaten und die EU müssen handeln, um strategische Abhängigkeiten anzugehen, unter anderem durch Ansiedlung der strategischen Produktion an Standorten in der EU, Kreislaufwirtschaft und handelspolitische Maßnahmen. Im Allgemeinen sind die Unternehmen am besten in der Lage, ihre Lieferketten zu überprüfen und umzugestalten. Der EWSA ist der Auffassung, dass die von der Kommission angekündigten Maßnahmen zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs aufgrund ausländischer Subventionen auch als Instrument zur Reindustrialisierung Europas und zur Unterstützung seiner industriellen Wertschöpfungsketten eingesetzt werden sollten. Die Verbesserung der strategische Kapazitäten Europas durch neue Industrieallianzen, die sich ansonsten nicht bilden würden, kann Arbeitsplätze und Wachstum schaffen, indem die Neuaufstellung bestimmter strategischer Produktionsanlagen angeregt wird.

4.3.

Das verarbeitende Gewerbe in Europa erhält zunehmend Konkurrenz aus den USA und China. Europa steht im Wettbewerb um Investitionen, die in vielen Teilen der Welt getätigt werden können. Günstige Investitionsbedingungen sind entscheidende Voraussetzungen für den künftigen Wohlstand Europas. Inländische, europäische und internationale Investoren müssen attraktive Bedingungen vorfinden, um den Kapitalstock zu halten und zu erhöhen, der das künftige Wachstum begünstigt. Für bestehende Unternehmen müssen die Bedingungen für die Weiterentwicklung erfüllt sein, während Unternehmensgründer überzeugt sein müssen, dass ihre geschäftlichen Vorhaben in Europa erfolgreich wachsen können. Der EWSA empfiehlt, den horizontalen Ansatz in der Industriestrategie zu stärken und ihn durch vertikale Ansätze zu ergänzen.

4.4.

Über die Besteuerung könnten auf wirksame Weise die erforderlichen Anreize gesetzt werden — aber nicht, solange die Mitgliedstaaten immer noch auf unfaire und schädigende Weise miteinander konkurrieren und es so einigen großen Unternehmen ermöglichen, die Entrichtung ihres gerechten Steueranteils zu umgehen. Der EWSA unterstützt die Ausarbeitung des Legislativvorschlags zu BEFIT (Business in Europe: Framework for Income Taxation) und begrüßt die jüngsten Vereinbarungen in der OECD zur Unternehmensbesteuerung.

4.5.

Im jährlichen Binnenmarktbericht wird eine Reihe von wesentlichen Leistungsindikatoren (KPI) festgelegt, mit denen die wirtschaftlichen Entwicklungen analysiert und die Fortschritte in den verschiedenen Bereichen überwacht werden sollen, die für die europäische Industrie als prioritär eingestuft wurden. Der EWSA unterstützt den Einsatz wesentlicher Leistungsindikatoren als Monitoringinstrument und begrüßt das Ziel, einen Überblick über die Leistungsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu erhalten, indem Vergleiche mit internationalen Partnern angestellt werden und die Spezifizität industrieller Ökosysteme analysiert wird. Der EWSA fordert die Kommission auf, eine jährliche Bewertung zu erstellen, in der aufgeschlüsselt wird, inwieweit die wesentlichen Leistungsindikatoren zu den vorgeschlagenen Zielen geführt haben. Erforderlichenfalls müsste es dann Korrekturmaßnahmen geben. Außerdem ist der EWSA der Auffassung, dass der Einsatz wesentlicher Leistungsindikatoren als Schlüsselinstrument für die Umsetzung der Industriestrategie quantifizierbare Ziele, einen klaren Zeitplan und klare Lenkungsstrukturen erfordert.

4.6.

Nach Auffassung des EWSA sind Indikatoren gefragt, die nicht nur weitere Daten generieren, sondern aufzeigen, was für die Wettbewerbsfähigkeit der EU wichtig ist. Mit den vorgeschlagenen KPI werden wichtige Indikatoren wie Alter, Geschlecht oder Qualifikationsprofil der Arbeitskräfte in den verschiedenen Ökosystemen nicht abgebildet. Diese Aspekte sind aber wichtig, wenn es darum geht, die bevorstehenden Veränderungen zu antizipieren und Engpässen und Hürden bei der Umgestaltung der europäischen Industrie vorzubeugen. Sie sind außerdem von großer Bedeutung für einen inklusiven Wiederaufbau, da junge Menschen, Frauen und Arbeitnehmer in prekären Beschäftigungsverhältnissen von der Krise am stärksten betroffen sind. Der EWSA empfiehlt, die vorgeschlagenen wesentlichen Leistungsindikatoren durch Indikatoren zur Messung der sozialen Leistungsfähigkeit der Industriestrategie und ihrer 14 Ökosysteme zu ergänzen, um gute Arbeits- und Produktionsbedingungen sowie gute Arbeitsplätze zu gewährleisten. Er fordert spezifische Indikatoren, die bei Bedarf anpassungs-, veränderungs- oder entwicklungsfähig sind, um nicht nur die Ökosysteme, sondern auch Querschnittsaspekte abbilden zu können. Die KPI sollten beispielsweise Verbraucherpräferenzen und insbesondere deren Verlagerung hin zu nachhaltigen Produkten berücksichtigen.

5.   Stärkung der Resilienz des Binnenmarkts

5.1.

Der EWSA begrüßt, dass der Binnenmarkt im Mittelpunkt der Aktualisierung steht. Ein starker Inlandsmarkt ist für europäische Unternehmen eine Voraussetzung dafür, sich zu etablieren, weiterzuentwickeln und zu expandieren. Der EWSA erinnert daran, dass es darum geht, hohe Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards zu sichern und das reibungslose Funktionieren der Lieferketten und Wertschöpfungsnetze in Europa zu gewährleisten. Sozialer Zusammenhalt, bezahlbare Gesundheitssysteme, effiziente öffentliche Dienste, gute Infrastrukturen, leistungsfähige Bildungssysteme und gut funktionierende Arbeitsbeziehungen sind entscheidende Voraussetzungen, um Investitionen anzuziehen und Wohlstand zu schaffen.

5.2.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Kommission für ein Notfallinstrument für den Binnenmarkt, das für mehr Transparenz und Koordinierung sorgen soll. Er begrüßt ferner die detaillierte Analyse der industriellen Ökosysteme, die durch sektorbezogene Analysen und Fahrpläne ergänzt werden muss, wobei nicht nur wechselseitigen Abhängigkeiten und Verbindungen, sondern auch Lücken in vielen Sektoren in der EU hervorgehoben werden müssen, einschließlich der Bewertung der Arbeitsmarktentwicklungen und des entsprechenden Qualifikationsbedarfs. Es sollte auch einen Spielraum für eine Überarbeitung der Definition und Verwendung der Ökosysteme (5) geben, aber auch für die Frage, welche Branchen geprüft werden, damit das Instrument nicht zu selektiv wird.

5.3.

Der EWSA begrüßt die Anerkennung der Rolle der europäischen Kleinstunternehmen sowie kleinen und mittleren Unternehmen (KKMU) und die Absicht, sie in ihrer Wachstumsphase und beim Anwerben qualifizierter Arbeitskräfte zu unterstützen. Dies erfordert ein unternehmensfreundliches Umfeld und Investitionen in die Kompetenzen und die Ausbildung der Arbeitskräfte sowie angemessene Arbeitsbedingungen und eine gute soziale Infrastruktur. Der EWSA begrüßt, dass die Kommission das Problem des Zahlungsverzugs unter die Lupe nimmt. Für die KMU ist es wichtig, dass etwas gegen den Zahlungsverzug unternommen wird. Alternative Streitbeilegungssysteme, bei denen Streitsachen vertraulich behandelt werden können, wären ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

5.4.

Industrieallianzen haben sich bei der Entwicklung großer und grenzübergreifender Industrieprojekte in strategischen Bereichen als erfolgreich erwiesen. Diese Industrieallianzen sowie wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) sind entscheidend für die wirtschaftliche Erholung und die Förderung europäischer Standards und Schlüsseltechnologien, insbesondere in Bereichen, in denen der Markt allein dies nicht leistet oder verzerrt wird.

5.5.

Der EWSA dringt auf eine Reform des Beihilferechts. In seiner derzeitigen Gestalt ist es nicht mehr zweckmäßig. Wir brauchen ein System, das den Verwaltungsaufwand verringert, die Entscheidungsfindung beschleunigt und die Erfüllung der Anforderungen der Entsprechungsklausel erleichtert. Die Vorschriften über staatliche Beihilfen können auch ausschlaggebend für das Zustandekommen von Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) sein, die für die Förderung öffentlicher und privater Investitionen sehr wichtig sind.

5.6.

Der EWSA bedauert, dass die Kommission die entscheidende Rolle der sozialwirtschaftlichen Unternehmen in der Pandemie und für den Aufbau eines resilienten, nach vorne strebenden Europas nur unzureichend anerkennt. In diesem Zusammenhang verweist der EWSA auf den angekündigten Aktionsplan zur Förderung der Sozialwirtschaft.

5.7.

Forschung, Entwicklung und Innovation sind für die Zukunft der europäischen Industrie von großer Bedeutung. Der EWSA bedauert, dass das Ziel, 3 % des BIP in Forschung, Entwicklung und Innovation zu investieren, immer noch weit verfehlt wird. Während einige Mitgliedstaaten dieses Niveau erreichen, liegen andere unter 1 %. Diese Unterschiede beeinträchtigen die globale Kapazität der EU als Wirtschaftsblock und lassen sie hinter die USA, Japan und China zurückfallen.

5.8.

Um die Widerstandsfähigkeit des Binnenmarkts zu stärken, muss die Marktintegration gefördert werden. Zu diesem Zweck sollten sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene die fiskalische Dimension und Integration sowie Maßnahmen zur Vermeidung von unlauterem Steuerwettbewerb berücksichtigt werden. Die Wettbewerbsregeln müssten überdies den neuen Gegebenheiten von heute angepasst werden, unabhängig von der Industriepolitik.

6.   Mit Abhängigkeiten umgehen: die offene strategische Autonomie in der Praxis

6.1.

Die EU muss offen, fair und ihren Werten treu bleiben, um Investoren anzuziehen und ihre Wirtschaftstätigkeit zu unterstützen. Ihre geopolitische Stärke beruht auf einer wettbewerbsfähigen industriellen Basis mit starken Unternehmen und hochqualifizierten Arbeitskräften, Produktionsanlagen in der EU sowie klaren und fairen Regeln für den Binnenmarkt, die international vorbildlich sind (6). Es ist wichtig, dass die handelspolitischen Schutzinstrumente mit Augenmaß eingesetzt werden, um einen fairen Wettbewerb in der EU aufrechtzuerhalten.

6.2.

Allerdings ist der EWSA überzeugt, dass eine auf Autonomie fixierte Politik nicht zweckmäßig ist. Stattdessen sollte die EU in ihrer Handelspolitik dem Umstand Rechnung tragen, dass Offenheit ein wesentlicher Faktor für die Resilienz ist. Es muss das richtige Gleichgewicht zwischen Offenheit und dem geplanten Rechtsinstrument gefunden werden, um den potenziell wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen ausländischer Subventionen im Binnenmarkt auf Unternehmen und Arbeitnehmer entgegenzuwirken. Der EWSA befürwortet einen offenen, fairen Binnenmarkt und gleiche Wettbewerbsbedingungen für europäische Unternehmen auf ausländischen Märkten.

6.3.

Andererseits sollte es vermieden werden, neue Begriffe wie „wettbewerbsorientierte Nachhaltigkeit“ zu gebrauchen, ohne sie näher zu erläutern. Die Unternehmen werden es in der Wiederaufbauphase schon schwer genug haben und benötigen einen Rechtsrahmen, der ihnen das Leben erleichtert.

6.4.

Der Ansatz, Industrieallianzen zu bilden und zu unterstützen, hat sich bei den aktuellen Beispielen Batterien und Wasserstoff als erfolgreich erwiesen. Der EWSA hält dies für ein sehr gutes Instrument und befürwortet die Gründung weiterer Allianzen in ausgewählten Sektoren, z. B. Prozessoren und Halbleitertechnik, Industriedaten, Spitzen- und Cloudcomputing, Trägerraketen und emissionsfreie Luftfahrt. Aus unserer Sicht ist es jedoch unabdingbar, dass die Allianzen transparent, inklusiv und unter besonderer Berücksichtigung der KKMU gebildet werden.

7.   Beschleunigung des doppelten Übergangs

7.1.

Wie im Grünen Deal anerkannt wird, kommt der Digitalisierung in allen Ökosystemen eine zentrale Rolle zu. Daher sollte EU-weit mehr investiert werden, um das Wachstumspotenzial neuer IKT-Sektoren wie Datenwirtschaft, Internet der Dinge, Cloud-Computing, Robotik, künstliche Intelligenz und fortgeschrittene Fertigung zu steigern; auch sollten europäische Industrienormen genutzt werden. Der EWSA ruft die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass in digitale Lösungen investiert wird, die einen Mehrwert für die europäischen Volkswirtschaften schaffen.

7.2.

Die künftige digitale Wettbewerbsfähigkeit Europas muss höchste Priorität haben. In der Strategie wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die beiden gesetzgebenden Organe rasch das Gesetz über digitale Dienste und das Gesetz über digitale Märkte verabschieden müssen, und es wird die herausragende Bedeutung harmonisierter Normen für die Stärkung des Binnenmarkts für Waren und die Ermöglichung einer globalen Technologieführerschaft Europas betont, unter anderem durch den Einsatz der Digitalisierung zur Steigerung der Energieeffizienz. Ein gut funktionierendes europäisches Normungssystem ist entscheidend für die Verwirklichung des angestrebten doppelten Übergangs und die bessere Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz der europäischen Industrie. Der EWSA fordert die Kommission auf, ihre Bemühungen um eine Vorreiterrolle durch und bei der Normensetzung zu verstärken, indem bestehende europäische Industrienormen gemeinsam mit den Unternehmen gefördert und weiterentwickelt werden. Angesichts der Bedeutung des Dienstleistungssektors für einen gut funktionierenden Binnenmarkt und die Bewältigung des doppelten Wandels begrüßt der EWSA außerdem den ganzheitlichen Ansatz der Kommission.

7.3.

Dabei kommt es darauf an, den europäischen Arbeitskräften die digitalen Kompetenzen für diese neue Phase der Industrialisierung zu vermitteln. Im digitalen Zeitalter werden wir nur ankommen, wenn unsere Arbeitskräfte qualifiziert und gut vorbereitet sind. Kompetenzen sind ein wichtiger Katalysator für Innovation und Wertschöpfung. Die Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit erfordert umfassende Arbeitsmarktstrategien, an denen alle relevanten Interessenträger (Sozialpartner, Arbeitsmarkteinrichtungen, zivilgesellschaftliche Organisationen, Aus- und Fortbildungseinrichtungen) beteiligt werden. Digitale Fähigkeiten und Kompetenzen müssen unter Beteiligung der branchenspezifischen Sozialpartner in alle Ebenen der allgemeinen und beruflichen Bildung integriert werden. Die örtliche Wirtschaft sollte in die Steuerung der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung einbezogen werden, da sie die Unternehmensstrukturen und die lokalen Markterfordernisse gut kennt. Die Digitalisierung der Wirtschaft sollte auf integrative Weise gefördert werden, um jegliche Art von digitaler Diskriminierung, insbesondere von älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen und Menschen in ländlichen und abgelegenen Regionen, zu verhindern.

7.4.

Der EWSA betont, dass ein starkes europäisches verarbeitendes Gewerbe auf der Grundlage emissionsarmer oder emissionsfreier Technologien und von Energieeffizienz sowohl dem wirtschaftlichen Wohlstand als auch dem Klima nützt. Grundsätzlich falsch wäre es, Produktionskapazitäten abzubauen und zu riskieren, dass CO2-Emissionen und Investitionen in Länder mit weniger ehrgeizigen Emissionsnormen verlagert werden. Der wichtigste Hebel für eine globale Emissionsreduktion ist die Entwicklung erschwinglicher kohlenstoffarmer bzw. -freier und energieeffizienter Technologien und deren Verbreitung auf den Weltmärkten. Es ist an Europa zu beweisen, dass ehrgeizige Emissionsreduktionen möglich sind, ohne den wirtschaftlichen Wohlstand zu gefährden.

7.5.

Wichtig hierfür sind die Kreislaufwirtschaft (7) und die Schaffung von Sekundärrohstoffmärkten. Abfallbewirtschaftungsstrategien und gesetzliche Vorgaben für recycelte Inhaltsstoffe in Verpackungen und anderen Produkten sind nötig, um Investitionen in den Recyclingketten anzustoßen.

7.6.

Um das Investitionsniveau zu erreichen, das für die Finanzierung des Grünen Deals erforderlich ist, sollte auch eine Überprüfung der Beihilfevorschriften für Investitionen in kohlenstoffarme Produkte und Verfahren erwogen werden. Darüber hinaus sollten die neu geschaffenen Innovations- und Modernisierungsfonds sowie die EHS-Versteigerungseinkünfte und die vorgeschlagenen CO2-Differenzverträge zusätzliche Ressourcen bereitstellen, die zur Unterstützung von klimaschutz- und energiepolitisch relevanten Vorhaben sowie zur Bewältigung der sozialen Auswirkungen eines Übergangs eingesetzt werden können, bei dem niemand zurückgelassen wird. Eine Verknüpfung der Industriestrategie mit dem europäischen Grünen Deal und dem EU-Aktionsplan „Schadstofffreiheit von Luft, Wasser und Boden“ ist ebenfalls herzustellen.

7.7.

Der EWSA unterstützt die Linie, die in der Aktualisierung der Industriestrategie zum CO2-Grenzausgleichssystem verfolgt wird. Dabei ist jedoch zu betonen, dass ein solches, für ausgewählte Sektoren eingeführtes Grenzausgleichssystem vollumfänglich mit den WTO-Regeln im Einklang stehen muss, um Gegenmaßnahmen von Handelspartnern zu vermeiden. Im Streben nach Klimaneutralität sollte das vorrangige Ziel künftiger multilateraler Verhandlungen in der Festlegung ähnlicher CO2-Preise auf internationaler Ebene bestehen.

7.8.

Die Datenanalyse wird kurz- und mittelfristig eine entscheidende Rolle spielen. Die EU benötigt fortgeschrittene Programme zur Datenanalyse, mit denen die Wettbewerbsfähigkeit Europas im Vergleich zu unseren globalen Mitbewerbern bewertet werden kann. Der EWSA begrüßt daher die Bemühungen zur Schaffung von Industrieallianzen für Industriedaten, Spitzen- und Cloudtechnologien.

Brüssel, den 21. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG

NB:

Der Anhang zu diesem Dokument enthält auf den folgenden Seiten die zusätzliche Stellungnahme der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel — CCMI/185 — „Aktualisierung der neuen Industriestrategie — Auswirkungen auf das Ökosystem der Gesundheitsbranche“ (EESC-2021-02562-00-00-AS-TRA).

(1)  Kleinstunternehmen sowie kleine und mittlere Unternehmen (KKMU).

(2)  Der EWSA möchte darauf hinweisen, dass es logischerweise um strategische „Unabhängigkeiten“ und nicht um „Abhängigkeiten“ geht. Aus Gründen der Kohärenz bleibt er aber bei der Kommissionsterminologie.

(3)  ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 16.

(4)  Siehe ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 197 und ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 53.

(5)  Die Verwendung des Begriffs „Ökosysteme“ lässt fälschlicherweise an ein nachhaltiges Gleichgewicht denken. Der Begriff „Ökosysteme“ wird in den Mitteilungen der Kommission nicht kohärent verwendet. In der Mitteilung „Der europäische Grüne Deal“ vom Dezember 2019 wird „Ökosystem“ für natürliche Systeme und nicht für vom Menschen geschaffene Systeme verwendet. In der Mitteilung zur Aktualisierung der Industriestrategie bezeichnet der Begriff nur industrielle Gefüge.

(6)  Siehe ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 108.

(7)  Siehe ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 94 und ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 29.


ANHANG

Stellungnahme der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Aktualisierung der neuen Industriestrategie — Auswirkungen auf das Ökosystem der Gesundheitsbranche

(zusätzliche Stellungnahme zu INT/935)

Berichterstatter:

Anastasis YIAPANIS

Mitberichterstatter:

Antonello PEZZINI

Beschluss des Plenums

26.4.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 37 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Zusätzliche Stellungnahme

Zuständiges Arbeitsorgan

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

29.9.2021

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist überzeugt, dass Gesundheitsbelange im neuen internationalen geopolitischen Kontext einen besonders hohen Stellenwert haben. Ein starkes und koordiniertes europäisches Gesundheitsökosystem leistet einen maßgeblichen Beitrag zur strategischen industriellen Autonomie und zur technologischen Souveränität der EU und hilft außerdem, den Menschen in der EU auf der Grundlage eines ganzheitlichen Ansatzes eine bessere Lebensqualität bieten zu können. Dazu bedarf es klarer Pläne sowie für Messungen geeignete, transparente Leistungsindikatoren.

1.2.

Gemeinsam mit den Mitgliedstaaten und den Branchenakteuren sollte eine Bottom-up-Bestandsaufnahme und Analyse vorgenommen werden, um ein genaues Bild davon zu zeichnen, wo Abhängigkeiten bestehen und welche Risiken sie für die Resilienz und das Funktionieren des industriellen Ökosystems beinhalten. Dadurch sollen Schwachstellen und Engpässe bei strategischen Materialien behoben werden.

1.3.

Der EWSA glaubt, dass Maßnahmen nötig sind, um ein stärkeres, gerechteres, effizienteres und besser zugängliches Ökosystem der Gesundheitsversorgung mit einer wirksamen Steuerung, einer geeigneten Diversifizierung der Bezugsquellen und einer interoperablen und vernetzten digitalen Architektur der Gesundheitsversorgung zu schaffen. Die EU muss geeignete Anreize für die Rückverlagerung strategischer Produktionskapazitäten entwickeln.

1.4.

Europa ist bei der Versorgung mit bestimmten Rohstoffen auf andere Länder angewiesen. Die Gesundheitsbranche braucht stärkere und vielfältigere internationale Lieferketten, um für künftige Krisen gerüstet zu sein. Der EWSA begrüßt den angekündigten Vorschlag zur Schaffung einer EU-Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen.

1.5.

Der EWSA unterstreicht, dass das Tempo erhöht werden muss, und zwar auch durch Synergien zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor. Es bedarf dringend einer strategischen Vorausschau auf Unionsebene, mit der für mehr Gerechtigkeit bei der Verfügbarkeit von Ausrüstungsmaterial und beim Zugang zum Ökosystem der Gesundheitsversorgung sowie für mehr Solidarität, Fairness und multilaterale Zusammenarbeit gesorgt wird. Der EWSA fordert im Interesse des sozialen Wohlbefindens, dass allen Menschen in der EU hochwertige und wirksame Arzneimittel problemlos zugänglich sind.

1.6.

Mögliche Synergien zwischen großen Unternehmen und KMU werden nicht vollständig ausgeschöpft, was die Stärkung von KMU erheblich hemmt und die Gesundheitsbranche daran hindert, als Inkubator für bahnbrechende Entdeckungen zu fungieren. Instrumente zur Investitionsförderung müssen wirksam koordiniert werden, wobei es spezielle Ausschreibungen für industrielle KMU geben sollte.

1.7.

Der EWSA fordert mehr Transparenz in Bezug auf den Austausch von Gesundheitsdaten und die Nutzung von künstlicher Intelligenz (KI). Regulatorische Hindernisse müssen ausgeräumt werden und es muss einen gemeinsamen EU-Ansatz für die Nutzung telemedizinischer Dienste geben. Er unterstützt voll und ganz die Einrichtung des europäischen Gesundheitsdatenraums unter uneingeschränkter Achtung der Rechte des Einzelnen und des Schutzes personenbezogener Daten.

1.8.

Die Gesundheitsbranche kann durch geeignete Abfallbewirtschaftungsstrategien, neue, auf die Kreislaufwirtschaft ausgerichtete Geschäftsmodelle und eine erhöhte Verkehrsinfrastrukturkapazität erheblich zur Klimaneutralität der EU beitragen.

1.9.

Investitionen in FuE sind für die Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit der Gesundheitsbranche unabdingbar. Die EU muss in ihren Politikbereichen Anreize für öffentliche und private Investitionen liefern, damit sozial- und gesundheitspolitische Aspekte Berücksichtigung finden.

1.10.

Der EWSA fordert eine intensivere Arbeit an den regulatorischen Verfahren zur Entwicklung harmonisierter Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Schutzausrüstungen und Medizinprodukte. Die Normungsgremien sollen nach Auffassung des EWSA ein klares Mandat im technischen Regulierungsprozess erhalten.

1.11.

Für die europäischen Arbeitskräfte im Gesundheitswesen sind gezielte Ausbildungs-, Umschulungs- und Weiterbildungsprogramme sowie Programme für lebenslanges Lernen notwendig, um die neuen Herausforderungen des Grünen Deals zu bewältigen. Der Schwerpunkt darf dabei nicht nur auf Gesundheitsfachkräften liegen: auch Forscher, Lehrpersonal, Medienvertreter und die Patienten selbst müssen einbezogen werden. Der EWSA fordert daher eine stärkere Kommunikation auf europäischer Ebene über Verbraucher-/Patientenrechte, an der auch die Sozialpartner und die einschlägigen Organisationen der Zivilgesellschaft umfassend zu beteiligen sind.

1.12.

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Zusammenarbeit und den Dialog zwischen den Interessenträgern über die Resilienz der Arzneimittelbranche auf der Grundlage der bestehenden Strukturen im Rahmen der Arzneimittelstrategie für Europa fortzusetzen. Weiterhin sollte auf einen starken, nachhaltigen und digitalen Wandel des industriellen Gesundheitsökosystems entsprechend der Industriestrategie für Europa hingearbeitet werden.

2.   Hintergrund und Einführung

2.1.

Die COVID-19-Pandemie hat sämtliche EU-Mitgliedstaaten in eine beispiellose Krise gestürzt, die sich — im Gegensatz zu anderen Krisen — sowohl auf das Angebot als auch auf die Nachfrage und auf die Gesellschaft insgesamt ausgewirkt hat. Die EU wurde im Vergleich zu anderen Teilen der Welt schwer getroffen und die Zahl der in der EU verzeichneten Todesfälle pro Million Menschen lag über dem globalen Trend (1). Die Union hat in angemessener, praktisch abgestimmter Weise reagiert. Es hätte mehr getan werden können, wenn die EU als Union besser auf diese Art Schock vorbereitet gewesen wäre.

2.2.

Der Binnenmarkt ist eine der bedeutendsten Errungenschaften des europäischen Projekts. Aufgrund der uneinheitlichen Anwendung des EU-Rechts in den Mitgliedstaaten bestehen weiterhin Hindernisse. Durch die COVID-19-Pandemie sind diese Hindernisse noch größer geworden und es haben sich insbesondere die Anfälligkeit der Wertschöpfungsketten und die vermehrten Verteilungsprobleme gezeigt. Es ist klar geworden, dass die EU bei medizinischen Erzeugnissen von Drittländern abhängig ist.

2.3.

Auf die Gesundheitsbranche entfielen im Jahr 2018 über 7 Mio. Arbeitsplätze (2). Mit über 800 000 direkten Arbeitsplätzen und einem Handelsüberschuss von 109,4 Mrd. EUR (3) ist die Branche ein wichtiger Stützpfeiler für den Binnenmarkt. Arzneimittelhersteller leisteten 2019 den größten Beitrag zu FuE-Investitionen, während sich der Wert des europäischen Marktes für Elektromedizin mittlerweile auf 120 Mrd. EUR beläuft. Allerdings investiert die EU weniger als ihre Handelspartner: beispielsweise fließen 19,2 % der FuE-Investitionen der EU-Industrie in Innovationen im Gesundheitswesen, während es in den USA 26,4 % sind. Europa ist eine zentrale Drehscheibe für die globale Medizinprodukteindustrie. Mit etwa 32 000 Unternehmen und 730 000 Angestellten macht der EU-Medizinproduktemarkt ein Drittel des globalen Marktes aus.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Gesundheit ist — insbesondere in Europa — einer der großen Trends der Zukunft, und vor dem Hintergrund der neuen geopolitischen Lage ist eine Unterstützung des Ökosystems der Gesundheitsbranche, das zur strategischen Autonomie und technologischen Souveränität der Union beiträgt, von zentraler Bedeutung.

3.2.

Der EWSA begrüßt, dass die Europäische Kommission die Industrie, und insbesondere die Gesundheitsbranche, in ihrer Mitteilung in den Mittelpunkt der europäischen Politik rückt und ihre Fähigkeit anerkennt, einen grundlegenden Wandel herbeizuführen, die neuen Bedürfnisse und Herausforderungen der Gesellschaft zu deuten und innovative und wettbewerbsfähige Lösungen zu bieten. Allerdings fordert der EWSA einen ganzheitlicheren Ansatz als den von der Kommission verfolgten, der sich in erster Linie auf die Industrie konzentriert. Die politischen Entscheidungsträger haben eine große Verantwortung, da Gesundheit eine der Grundlagen des individuellen Daseins und unzweifelhaft das höchste Gut der Menschen ist. Der EWSA fordert daher, die Verbraucher-/Patientenrechte, einschließlich der in der EU-Charta der Grundrechte verankerten Grundrechte, besser auf EU-Ebene zu kommunizieren. Die EU braucht ein starkes und koordiniertes Gesundheitswesen.

3.3.

Die industrielle Struktur des Ökosystems der Gesundheitsversorgung ist ein umfassendes Gefüge, bestehend aus einigen großen Akteuren und einer Vielzahl von KMU. Die zwischen diesen beiden Gruppen möglichen Synergien werden jedoch nicht voll ausgeschöpft, was die Stärkung von KMU erheblich hemmt. In der Folge kann das Ökosystem der Gesundheitsversorgung nicht sein ganzes Potenzial entfalten und kann auch seiner Rolle als Inkubator für neue innovative Entdeckungen nicht gerecht werden.

3.4.

Das Ökosystem der Gesundheitsbranche braucht einen starken Binnenmarkt mit einer starken Produktion und einem starken Vertrieb. Der EWSA hat zuvor bereits die Bedeutung eines „funktionierenden, fairen sowie effizienten Binnenmarkts, in dem zum einen echte medizinische Innovation mit einem wirklichen Mehrwert für die Gesundheitsversorgung gefördert als auch honoriert, und zum anderen auch der Wettbewerb für einen gerechten sowie leistbaren Zugang zu Arzneimitteln gestärkt wird“ (4) betont.

3.5.

So ist eine erheblich stärkere Integration des Binnenmarktes durch Gewährleistung einer wirksameren Steuerung insbesondere in der Gesundheitsbranche nötig (5): ein gut funktionierender Binnenmarkt und eine gut funktionierende Wettbewerbspolitik sorgen für eine starke Geschäftsdynamik, die bei der Diversifizierung der Bezugsquellen in der EU eine wesentliche Rolle spielen und einer Fragmentierung des Gesundheitswesens entgegenwirken kann.

3.6.

Wie die COVID-19-Pandemie gezeigt hat, verbessern sich durch eine länderübergreifende Zusammenarbeit und Solidarität die Reaktionsfähigkeit der EU sowie die Resilienz der Union insgesamt. Es bedarf dringend einer strategischen Vorausschau auf Unionsebene, insbesondere, da die Pandemie Sektoren und Wertschöpfungsketten mit grenzüberschreitender Dimension besonders getroffen hat.

3.7.

Strategische Abhängigkeiten wirken sich auf die grundlegenden Interessen der EU aus. Diese betreffen insbesondere den Bereich Sicherheit, die Gesundheit der Europäerinnen und Europäer und die Möglichkeit des Zugangs zu Waren, Dienstleistungen und Technologien, die für den grünen und digitalen Wandel — eine der zentralen Prioritäten der EU — eine Schlüsselrolle spielen.

3.8.

Der EWSA hat empfohlen, „eine konkrete und umfassende Strategie für die europäische Industrie mit einer klaren kurz-, mittel- und langfristigen Ausrichtung“ vorzulegen und die Kommission nachdrücklich dazu aufgefordert, „einen konkreten Aktionsplan mit klaren jährlichen Zielen und Überwachungsverfahren vorzulegen, der eine enge Zusammenarbeit aller Interessenträger vorsieht“ (6) und gleichzeitig betont, dass „Arbeitgeber, Unternehmer und das Engagement der Privatwirtschaft als dynamisches Element im Strukturwandel [für den industriellen Wandel] unverzichtbar [sind]“ (7).

3.9.

Der medizinische Fortschritt ist die Triebfeder der innovativen medizinisch-pharmazeutischen Industrie. Ein großes Problem, das umgehend gelöst werden muss, ist die Unerschwinglichkeit bzw. Nichtverfügbarkeit von Arzneimitteln. Das soziale Wohlergehen muss durch einen einfachen Zugang aller Menschen in der EU zu hochwertigen und wirksamen Arzneimitteln gewährleistet werden. Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union hat erhebliche Auswirkungen auf die Hersteller von Medizinprodukten.

3.10.

In der COVID-19-Pandemie ist deutlich geworden, dass Europa bei bestimmten Ausgangsstoffen von einigen wenigen Herstellern und Ländern abhängig ist. Darüber hinaus besteht selbst bei den grünen und digitalen Technologien, die häufig mit der Gesundheitsbranche verknüpft sind, eine Abhängigkeit von einer ganzen Reihe von knappen, nach Europa eingeführten Rohstoffen, wobei ein sehr großer Teil der benötigten Seltenen Erden von einem einzigen Lieferanten stammt — China (8). Die Stärkung und Diversifizierung internationaler Lieferketten ist für die Entwicklung der Gesundheitsbranche und die Gewährleistung, dass die EU für künftige Krisen wie die COVID-19-Pandemie gerüstet ist, ebenfalls von grundlegender Bedeutung. Die Beseitigung von Schwachstellen und die Schaffung eines stabilen, vorhersehbaren und ressourceneffizienten Handelsumfelds sollten oberstes Ziel sein. Der angekündigte Vorschlag zur Schaffung einer EU-Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen ist begrüßenswert.

3.11.

Europa war mit seiner Strategie der Gründung öffentlich-privater Partnerschaften zur Förderung von FuE in der Arzneimittelindustrie erfolgreich, allerdings belaufen sich die Investitionen nur auf ein Zehntel dessen, was die US-amerikanische Biomedical Advanced Research and Development Authority (BARDA) ausgibt.

3.12.

Die größten Chancen werden in den kommenden Jahren digitale Gesundheitstechnologien bieten. Ob medizinische Produkte, Geräte und Verfahren oder Maßnahmen zur Verhütung, Diagnose und Behandlung von Krankheiten — sie alle sind für die Bürgerinnen und Bürger der EU lebenswichtig. Mit der kommenden Verordnung über künstliche Intelligenz (9), dem Legislativvorschlag zum europäischen Raum für Gesundheitsdaten (10) und der Standardisierung wird es beim Austausch von Gesundheitsdaten und bei der Nutzung von KI mehr Klarheit geben, werden regulatorische Hindernisse beseitigt und wird ein gemeinsamer EU-Ansatz für die Nutzung telemedizinischer Dienste unterstützt, während es mit dem Daten-Governance-Gesetz (11) möglich sein sollte, den Austausch von Gesundheitsdaten bei gleichzeitiger Gewährleistung des Schutzes personenbezogener Daten sicherzustellen und die übrigen Menschenrechte zu schützen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der digitale Wandel in der Gesundheitsbranche bietet eine große Chance. Die Umsetzung des zweifachen Wandels kann der Union in einem komplexen und angespannten internationalen Umfeld weitere Wettbewerbsvorteile verschaffen. Die EU kann insbesondere mit Investitionen in Hochleistungscomputertechnologien und Technologien der künstlichen Intelligenz Spitzentechnologien, insbesondere prädiktive Spitzentechnologien, entwickeln. Die Pandemie hat gezeigt, dass es dringend intelligenter Gesundheitsdienste wie beispielsweise telemedizinischer Dienste bedarf.

4.2.

Zudem kann die Gesundheitsbranche durch eine Verringerung der Treibhausgasemissionen entlang der Wertschöpfungsketten erheblich zur Klimaneutralität der EU beitragen. Es ist eine bessere Abfallbewirtschaftung notwendig, da in der Branche erhebliche Mengen an Abfall in Form von Arzneimittelresten und gebrauchter technischer und persönlicher Ausrüstung anfallen. Es müssen neue, auf die Kreislaufwirtschaft ausgerichtete Geschäftsmodelle entwickelt werden, die Verkehrsinfrastrukturkapazität muss ausgebaut werden und es müssen alle Mitgliedstaaten und Interessenträger in die Dekarbonisierung der Wertschöpfungsketten eingebunden werden.

4.3.

Die menschliche Gesundheit hängt letztlich von Ökosystemprodukten und -dienstleistungen (wie der Verfügbarkeit von Süßwasser, Nahrung und Brennstoff) ab, die für eine gute menschliche Gesundheit und produktive Lebensgrundlagen erforderlich sind. Ein Verlust an Biodiversität kann erhebliche direkte Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben, falls soziale Bedürfnisse nicht mehr angemessen durch Ökosystemleistungen befriedigt werden können.

4.4.

Die traditionelle Medizin spielt nach wie vor eine wesentliche Rolle in der Gesundheitsversorgung, insbesondere in der Primärversorgung. Die Verwendung von Arzneipflanzen ist weltweit das gängigste Medikationsmittel in der traditionellen Medizin und der Komplementärmedizin. Viele Menschen verlassen sich auf Naturprodukte, die — neben der Nahrung — für medizinische und kulturelle Zwecke aus Ökosystemen gewonnen werden.

4.5.

Eine strategische Vorratshaltung und die Rückverlagerung von EU-Unternehmen sind weitere wichtige potenzielle Ziele und fallen unter die geteilte Zuständigkeit der EU. Während sich Technologie und Herstellungskapazitäten verbessern, muss die EU geeignete Anreize für die Rückverlagerung strategischer Produktionskapazitäten in die Union entwickeln. Steueranreizen könnte in dieser Hinsicht eine Schlüsselrolle zukommen.

4.6.

Es ist eine Bottom-up-Bestandsaufnahme und -Analyse zusammen mit den Mitgliedstaaten und der Industrie nötig, um die genaue Art der festgestellten Abhängigkeiten, einschließlich der mit ihnen für die Resilienz und die Funktionsweise der industriellen Ökosysteme in der EU verbundenen Risiken, sowie die möglichen Perspektiven für eine Verringerung dieser Abhängigkeiten und künftige Handelsstreitigkeiten und Cyberangriffe besser bewerten zu können.

4.7.

Investitionen in FuE sind für die Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit der Gesundheitsbranche unabdingbar. Neben den Mitteln aus den EU-Fonds muss die EU-Politik auch öffentliche und private Investitionen möglichst umfassend fördern. Die Gründung öffentlich-privater Partnerschaften wie IMI2 wird für die Hersteller ein Anreiz sein, in FuE&I-Tätigkeiten zu investieren bzw. diese Tätigkeiten, die für künftige medizinische Entdeckungen von entscheidender Bedeutung sind, zu verfolgen. Diese Art Initiativen sind geeignet, Europa weiterhin einen Spitzenplatz zu sichern, wenn es um medizinische Innovationen geht.

4.8.

Gleichermaßen ist es von zentraler Bedeutung, die Bemühungen der Mitgliedstaaten zu unterstützen, öffentliche Mittel im Wege wichtiger Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) in jenen Bereichen zu bündeln, in denen der Markt allein keine bahnbrechenden Innovationen hervorbringen kann, wie es in der Arzneimittelbranche der Fall ist.

4.9.

Die Wettbewerbsfähigkeit der Branche muss mittels eines soliden Rahmens für geistige Eigentumsrechte, der Innovationen stärkt und schützt, gefördert werden. Der Zugang zu Daten ist auch für die Hersteller, insbesondere für KMU, die von der Pandemie schwer getroffen wurden und die darin bestärkt werden müssen, sich zu vergrößern und zu wachsen, von größter Bedeutung. Die EU benötigt speziell für die Massendatenanalyse und die interoperable Datenzugangsinfrastruktur entwickelte Strategien.

4.10.

Zudem muss sichergestellt werden, dass KMU einen einfachen Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten haben, damit sie sich entwickeln und wachsen können. Dies bedeutet auch, dass Quellen genutzt werden, die eine Alternative zu den herkömmlichen Bankkrediten darstellen, wie etwa Private-Equity- oder Venture-Capital-Finanzierungen. Instrumente zur Investitionsförderung müssen wirksam koordiniert werden, wobei Fördermittel vorzusehen sind, die speziell industriellen KMU vorbehalten sind. In diesem Bereich ist es wichtig, dass die Initiativen im Zusammenhang mit dem EU-Rahmen für nachhaltige Finanzierung, einschließlich der Umsetzung der Taxonomie, Chancen für die europäische Wirtschaft bieten — unter Berücksichtigung sowohl der Bedürfnisse der Finanzmärkte als auch der Herausforderungen, denen sich die Industrie gegenübersieht.

4.11.

Die Entwicklung eines europäischen Austauschformats für elektronische Patientenakten zur Ermöglichung des grenzüberschreitenden Verkehrs von Gesundheitsdaten bietet einen Rahmen für die weitere Entwicklung gemeinsamer technischer Spezifikationen für den sicheren Austausch von Gesundheitsdaten zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Hierzu erarbeitet das Europäische Komitee für Normung aktuell technische Spezifikationen. Der EWSA fordert eine intensivere Arbeit und die Beteiligung der relevanten Interessenträger an den regulatorischen Verfahren zur Entwicklung harmonisierter Qualitäts- und Sicherheitsstandards für persönliche Schutzausrüstungen und Medizinprodukte.

4.12.

Mit der Aufbau- und Resilienzfazilität lassen sich viele der Probleme, die es im Ökosystem der Gesundheitsversorgung gibt, lösen, und zwar durch Investitionen in die nationalen Gesundheitssysteme und deren Reform, Stärkung der Resilienz und Krisenvorsorge, Ausbau der medizinischen Grundversorgung, Stärkung eines gerechten und transparenten Zugangs zu Dienstleistungen, Beseitigung von Schwachstellen in den Lieferketten und Verbesserung der digitalen Kompetenzen der im Gesundheitswesen Beschäftigten, Telemedizin-Lösungen sowie Forschung, Entwicklung und Innovation.

4.13.

Der EWSA fordert die Entwicklung von spezifischen Ausbildungs-, Umschulungs- und Weiterbildungsprogrammen sowie von Programmen für lebenslanges Lernen für die Arbeitskräfte im europäischen Gesundheitswesen im Einklang mit ihrer so wichtigen beruflichen und sozialen Rolle, dem technischen Fortschritt und den neuen Anforderungen an eine stärkere Nachhaltigkeit. Unter der Federführung der Branchenakteure müssen klare Ausbildungskonzepte entwickelt werden, damit qualifizierte Fachkräfte zur Verfügung stehen, die mit den neuen Aufgabenstellungen des Grünen Deals zurechtkommen.

4.14.

Der EWSA hat zuvor bereits darauf verwiesen, dass „unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen und der Sozialpartner […] neue politische Konzepte für Qualifikationen erarbeitet werden [sollten], denn die Anpassung der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung muss beschleunigt werden, damit auf den neuen Arbeitskräftebedarf reagiert werden kann“ (12). In der Gesundheitsbranche darf der Schwerpunkt dabei nicht nur auf Gesundheitsfachkräften liegen: auch Forscher, Lehrpersonal, Entscheidungsträger aller Art, Medienvertreter und die Patienten selbst sowie ihre Vertretungsorganisationen müssen einbezogen werden.

4.15.

Die strategische öffentliche Auftragsvergabe spielt eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, die EU-Industrie, Forschungszentren und europäische und nationale Regulierungsbehörden, insbesondere in der Gesundheitsbranche, zusammenzubringen, und erleichtert die Zusammenarbeit privater und öffentlicher Akteure, um so den Bedürfnissen öffentlicher und privater Gesundheitssysteme gerecht zu werden und den Kauf innovativer und erschwinglicher Gesundheitstechnologien, einschließlich grüner und digitaler Lösungen, sowie Sozialklauseln zu ermöglichen (13).

4.16.

Der EWSA hat die EU-Organe und die Mitgliedstaaten bereits aufgefordert, im Einklang mit den Grundwerten der EU den politischen Willen für einen „Gesundheitspakt für die Zukunft Europas“ zu zeigen (14).

4.17.

Die in der Arzneimittelstrategie vorgesehene Initiative für einen strukturierten Dialog (15) ist für Europa von zentraler Bedeutung, damit die Ursachen und treibenden Kräfte möglicher Anfälligkeiten der medizinischen Lieferketten und entsprechende Abhängigkeiten ausgemacht werden können.

4.18.

Der EWSA unterstützt uneingeschränkt die Schaffung des europäischen Raums für Gesundheitsdaten (16), damit die notwendige Datenaustausch-Infrastruktur für Diagnoseinstrumente und Behandlungen zur Verfügung steht, wenn es um eine Zusammenarbeit und Anstrengungen zur gemeinsamen Investition in Ökosysteme der Gesundheitsversorgung der nächsten Generation über alle Wertschöpfungsketten hinweg geht.

4.19.

Der EWSA meint, dass harmonisierte Standards als Mittel zur Verankerung wesentlicher Anforderungen an die Produktsicherheit eingesetzt werden sollten; flankiert werden sollte dies durch Instrumente zum Inverkehrbringen von Produkten. Die Europäische Union muss eine Überregulierung von Produkten vermeiden; Priorität muss es sein, den durch ein Zuviel an gesetzlichen Regelungen entstandenen Verwaltungsaufwand zu verringern und gleichzeitig einen einfachen Zugang zu Unterlagen, fundierte Informationen, einen reibungslosen Austausch bewährter Verfahren sowie eine wirksame Zusammenarbeit zu gewährleisten.

4.20.

Schließlich fordert der EWSA die Kommission auf, die Zusammenarbeit und den Dialog zwischen den Interessenträgern über eine verbesserte Resilienz des europäischen Arzneimittelsystems gegenüber künftigen Krisen aufbauend auf den bestehenden Mechanismen, die in der Arzneimittelstrategie für Europa (17) und der Industriestrategie für Europa vorgesehen sind, fortzusetzen (18). Der EWSA fordert die Kommission ferner auf, weitere Synergien zwischen den Mitgliedstaaten zu schaffen, neue Initiativen zur Stärkung der Koordinierung der verschiedenen einzelstaatlichen Systeme (im Einklang mit dem AEUV (19)) vorzuschlagen und weiterhin einen starken, nachhaltigen und digitalen Wandel des industriellen Gesundheitsökosystems anzubahnen.

Brüssel, den 29. September 2021

Vorsitzender der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel

Pietro Francesco DE LOTTO


(1)  Studie des Europäischen Parlaments — Impacts of the COVID-19 pandemic on EU industries.

(2)  Eurostat — Statistik zum Gesundheitspersonal.

(3)  Internationaler Warenhandel nach Warenkategorien.

(4)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine Arzneimittelstrategie für Europa“ (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 53).

(5)  Fragen und Antworten: Das Programm EU4Health 2021–2027.

(6)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine neue Industriestrategie für Europa“ (ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 108).

(7)  Stellungnahme des EWSA zu der Umstellung auf eine grüne und digitale Wirtschaft in Europa (ABl. C 56 vom 16.2.2021, S. 10).

(8)  z. B. Platin zur Erzeugung von sauberem Wasserstoff, Silizium für Solarzellen und Lithium für Elektrofahrzeuge.

(9)  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für künstliche Intelligenz und zur Änderung bestimmter Rechtsakte der Union (COM(2021) 206 final).

(10)  Mitteilung „Eine europäische Datenstrategie“ (COM(2020) 66 final).

(11)  Vorschlag für eine Verordnung über europäische Daten-Governance (Daten-Governance-Gesetz) (COM(2020) 767 final).

(12)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine neue Industriestrategie für Europa“ (ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 108).

(13)  Sozialorientierte Beschaffung — Ein Leitfaden für die Berücksichtigung sozialer Belange im öffentlichen Beschaffungswesen — Zweite Ausgabe (ABl. C 237 vom 18.6.2021, S. 1).

(14)  Stellungnahme des EWSA zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Aktionsprogramm der Union im Bereich der Gesundheit 2021–2027“ (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 251).

(15)  Strukturierter Dialog über die Sicherheit der Arzneimittelversorgung.

(16)  Kommission veröffentlicht öffentliche Konsultation zum europäischen Raum für Gesundheitsdaten.

(17)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52020DC0761.

(18)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1593086905382&uri=CELEX:52020DC0102.

(19)  Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union.