Brüssel, den 20.5.2020

COM(2020) 517 final

Empfehlung für eine

EMPFEHLUNG DES RATES

zum nationalen Reformprogramm Ungarns 2020 mit einer Stellungnahme des Rates zum Konvergenzprogramm Ungarns 2020


Empfehlung für eine

EMPFEHLUNG DES RATES

zum nationalen Reformprogramm Ungarns 2020 mit einer Stellungnahme des Rates zum Konvergenzprogramm Ungarns 2020

DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 121 Absatz 2 und Artikel 148 Absatz 4,

gestützt auf die Verordnung (EG) Nr. 1466/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken 1 , insbesondere auf Artikel 9 Absatz 2,

auf Empfehlung der Europäischen Kommission,

unter Berücksichtigung der Entschließungen des Europäischen Parlaments,

unter Berücksichtigung der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates,

nach Stellungnahme des Beschäftigungsausschusses,

nach Stellungnahme des Wirtschafts- und Finanzausschusses,

nach Stellungnahme des Ausschusses für Sozialschutz,

nach Stellungnahme des Ausschusses für Wirtschaftspolitik,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)Am 17. Dezember 2019 nahm die Kommission die Jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum an, mit der das Europäische Semester für die wirtschaftspolitische Koordinierung 2020 eingeleitet wurde. Dabei wurde der am 17. November 2017 vom Europäischen Parlament, vom Rat und von der Kommission proklamierten Europäischen Säule sozialer Rechte gebührend Rechnung getragen. Am 17. Dezember 2019 nahm die Kommission auf der Grundlage der Verordnung (EU) Nr. 1176/2011 auch den Warnmechanismus-Bericht an, in dem Ungarn nicht als einer der Mitgliedstaaten genannt wurde, für die eine eingehende Überprüfung durchzuführen sei.

(2)Der Länderbericht Ungarn 2020 2 wurde am 26. Februar 2020 veröffentlicht. Darin werden die Fortschritte Ungarns bei der Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen des Rates vom 9. Juli 2019 3 , bei der Umsetzung der Empfehlungen der Vorjahre und bei der Verwirklichung seiner nationalen Ziele im Rahmen der Strategie Europa 2020 bewertet.

(3)Am 11. März 2020 wurde der COVID-19-Ausbruch von der Weltgesundheitsorganisation offiziell zur weltweiten Pandemie erklärt. Diese hat eine öffentliche Gesundheitskrise mit weitreichenden Folgen für Bürgerinnen und Bürger, Gesellschaften und Volkswirtschaften verursacht. Sie setzt die nationalen Gesundheitssysteme unter erheblichen Druck, unterbricht die globalen Lieferketten, verursacht Volatilität an den Finanzmärkten, führt zu Schocks bei der Verbrauchernachfrage und zieht eine Vielzahl von Branchen in Mitleidenschaft. Sie bedroht die Arbeitsplätze und Einkommen der Menschen und die Geschäftstätigkeit der Unternehmen. Die Folgen des durch sie verursachten schweren wirtschaftlichen Schocks sind in der Europäischen Union bereits stark spürbar. Am 13. März 2020 hat die Kommission eine Mitteilung 4 angenommen, in der zu einer koordinierten wirtschaftlichen Reaktion unter Einbeziehung aller Akteure auf nationaler und auf Unionsebene aufgerufen wird.

(4)Mehrere Mitgliedstaaten haben den Notstand ausgerufen oder Notmaßnahmen eingeführt. Notmaßnahmen müssen unbedingt verhältnismäßig, notwendig und zeitlich begrenzt sein und europäischen wie internationalen Standards entsprechen. Sie sollten demokratischer Kontrolle und einer unabhängigen gerichtlichen Überprüfung unterliegen.

(5)Am 20. März 2020 hat die Kommission eine Mitteilung über die Aktivierung der allgemeinen Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts 5 angenommen. Die in Artikel 5 Absatz 1, Artikel 6 Absatz 3, Artikel 9 Absatz 1 und Artikel 10 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 sowie in Artikel 3 Absatz 5 und Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 enthaltene Klausel erleichtert die Koordinierung der Haushaltspolitik in Zeiten eines schweren Konjunkturabschwungs. In ihrer Mitteilung legte die Kommission dem Rat dar, dass die Bedingungen für die Aktivierung der Klausel angesichts des schweren Konjunkturabschwungs, der infolge des Ausbruchs von COVID-19 zu erwarten ist, ihrer Auffassung nach erfüllt seien. Am 23. März 2020 schlossen sich die Finanzminister der Mitgliedstaaten dieser Einschätzung der Kommission an. Die Aktivierung der allgemeinen Ausweichklausel ermöglicht eine vorübergehende Abweichung vom Anpassungspfad in Richtung auf das mittelfristige Haushaltsziel unter der Voraussetzung, dass die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen dadurch nicht gefährdet wird. Für Mitgliedstaaten, die der korrektiven Komponente unterliegen, kann der Rat auf Empfehlung der Kommission zudem einen überarbeiteten haushaltspolitischen Kurs festlegen. Die Verfahren des Stabilitäts- und Wachstumspakts werden durch die Aktivierung der allgemeinen Ausweichklausel nicht ausgesetzt. Sie gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, von den normalerweise geltenden Haushaltsverpflichtungen abzuweichen, und ermöglicht der Kommission und dem Rat, die erforderlichen Koordinierungsmaßnahmen im Rahmen des Pakts zu ergreifen.

(6)Es sind weitere Maßnahmen erforderlich, um die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen und zu kontrollieren, die Resilienz der nationalen Gesundheitssysteme zu stärken, die sozioökonomischen Folgen durch Unterstützung von Unternehmen und Haushalten abzumildern und mit Blick auf die Wiederaufnahme der Wirtschaftstätigkeit für angemessenen Gesundheitsschutz und angemessene Sicherheit am Arbeitsplatz zu sorgen. Die Europäische Union sollte die ihr zur Verfügung stehenden Instrumente in vollem Umfang nutzen, um die Bemühungen der Mitgliedstaaten in diesen Bereichen zu unterstützen. Parallel dazu sollten die Mitgliedstaaten und die Europäische Union gemeinsam die für eine Rückkehr zu normal funktionierenden Gesellschaften und Volkswirtschaften und nachhaltigem Wachstum nötigen Maßnahmen erarbeiten, wobei insbesondere auch dem ökologischen und dem digitalen Wandel Rechnung getragen und sämtliche Lehren aus der Krise gezogen werden sollten.

(7)Die COVID-19-Krise hat deutlich gemacht, wie flexibel der Binnenmarkt auf Ausnahmesituationen reagieren kann. Damit die wirtschaftliche Erholung rasch und reibungslos eingeleitet und der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr sowie die Freizügigkeit der Arbeitnehmer wiederhergestellt werden können, müssen die außergewöhnlichen Maßnahmen, die das normale Funktionieren des Binnenmarkts verhindern, jedoch aufgehoben werden, sobald sie nicht mehr unerlässlich sind. Die aktuelle Krise hat gezeigt, dass im Gesundheitssektor Krisenvorsorgepläne benötigt werden, die insbesondere auch bessere Beschaffungsstrategien, diversifizierte Lieferketten und strategische Reserven an wichtigen Gütern beinhalten. Diese Faktoren sind für die Ausarbeitung umfassenderer Krisenvorsorgepläne von zentraler Bedeutung.

(8)Die einschlägigen Rahmenvorschriften 6 wurden vom Unionsgesetzgeber bereits geändert, damit die Mitgliedstaaten alle nicht abgerufenen Mittel aus den europäischen Struktur- und Investitionsfonds dafür einsetzen können, die beispiellosen Folgen der COVID-19-Pandemie einzudämmen. Diese Änderungen werden größere Flexibilität sowie einfachere und straffere Verfahren ermöglichen. Um den Liquiditätsdruck zu verringern, können die Mitgliedstaaten im Rechnungsjahr 2020-2021 bei Mitteln aus dem Unionshaushalt außerdem einen Kofinanzierungssatz von 100 % in Anspruch nehmen. Ungarn wird ermutigt, diese Möglichkeiten auszuschöpfen, um die am stärksten betroffenen Personen und Wirtschaftszweige zu unterstützen.

(9)Die sozioökonomischen Folgen der Pandemie dürften aufgrund der unterschiedlichen Spezialisierungsmuster regional unterschiedlich ausfallen und insbesondere diejenigen Regionen beeinträchtigen, in denen es an Mitteln für wichtige Anlagen fehlt und die von Wirtschaftszweigen mit persönlichem Kundenkontakt abhängig sind. Dies birgt ein erhebliches Risiko, dass die regionalen Unterschiede in Ungarn zunehmen und sich die bereits zu beobachtende Tendenz zunehmender Ungleichheiten zwischen städtischen und ländlichen Gebieten verschärft. Da gleichzeitig die Gefahr eines vorübergehenden wirtschaftlichen Auseinanderdriftens der Mitgliedstaaten besteht, sind in der derzeitigen Lage gezielte politische Maßnahmen erforderlich.

(10)Am 5. Mai 2020 übermittelte Ungarn sein nationales Reformprogramm 2020 und am 4. Mai 2020 sein Konvergenzprogramm 2020. Um wechselseitigen Zusammenhängen Rechnung zu tragen, wurden beide Programme gleichzeitig bewertet.

(11)Ungarn befindet sich derzeit in der präventiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspakts und unterliegt der Schuldenregel.

(12)Am 14. Juni 2019 empfahl der Rat Ungarn sicherzustellen, dass die nominale Wachstumsrate der gesamtstaatlichen Nettoprimärausgaben 7 im Jahr 2019 3,3 % nicht überschreitet, was einer jährlichen strukturellen Anpassung von 1,0 % des BIP entspricht. Die Gesamtbewertung der Kommission bestätigt für das Jahr 2019 sowie für die Jahre 2018 und 2019 zusammengenommen eine erhebliche Abweichung vom empfohlenen Anpassungspfad in Richtung auf das mittelfristige Haushaltsziel. Vor dem Hintergrund der Aktivierung der allgemeinen Ausweichklausel sind für Ungarn jedoch keine weiteren Maßnahmen im Rahmen des Verfahrens bei einer erheblichen Abweichung erforderlich.

(13)In ihrem Konvergenzprogramm 2020 geht die Regierung von einer Verschlechterung des Gesamtsaldos von einem Defizit von 2,0 % des BIP im Jahr 2019 auf ein Defizit von 3,8 % des BIP im Jahr 2020 aus. Das Defizit wird im Jahr 2021 voraussichtlich auf 2,7 % des BIP zurückgehen und dürfte bis 2024 schrittweise auf 1,0 % des BIP sinken. Die gesamtstaatliche Schuldenquote wird dem Konvergenzprogramm 2020 zufolge nach einem Rückgang auf 66,3 % des BIP im Jahr 2019 voraussichtlich auf 72,6 % im Jahr 2020 ansteigen. Die Aussichten für die Gesamtwirtschaft und den Haushalt sind wegen der COVID-19-Pandemie mit großer Unsicherheit behaftet. Den Haushaltsprojektionen liegen länderspezifische Risiken zugrunde, insbesondere im Zusammenhang mit über den Projektionen liegenden Ausgaben (in Übereinstimmung mit früheren Tendenzen hoher Ausgaben zum Jahresende) sowie mit potenziell unter den Projektionen liegenden Einnahmen, da sich die Projektionen dem Anschein nach auf kräftige Einnahmensteigerungen stützen.

(14)In Reaktion auf die COVID-19-Pandemie hat Ungarn im Rahmen eines koordinierten Unionsansatzes haushaltspolitische Maßnahmen verabschiedet, um die Intensivpflegekapazität seines Gesundheitssystems zu erhöhen, die Pandemie einzudämmen und die besonders betroffenen Menschen und Wirtschaftszweige zu unterstützen. Gemäß dem Konvergenzprogramm 2020 beliefen sich diese haushaltspolitischen Maßnahmen im Jahr 2020 auf 2,8 % des BIP und werden vollständig durch eine Umschichtung von Ausgaben innerhalb des Haushalts, durch Reserven und neue Steuern finanziert. Dazu gehören Maßnahmen zur Unterstützung des Arbeitsmarkts, Steuererleichterungen für Unternehmen und die Übernahme von Kosten im Zusammenhang mit medizinischen Notfällen. Zusätzliche Maßnahmen zur Förderung der wirtschaftlichen Erholung (1,4 % des BIP) und zur Unterstützung des Arbeitsmarkts (0,4 % des BIP) wurden angekündigt, aber noch nicht konkretisiert. Zudem hat Ungarn Maßnahmen angenommen, die sich zwar nicht unmittelbar auf den Haushalt auswirken, aber zur Verbesserung der Liquidität von Unternehmen beitragen werden und im Konvergenzprogramm 2020 mit 1,5 % des BIP veranschlagt werden. Die Behörden arbeiten an weiteren Maßnahmen im Umfang von 0,3 % des BIP. Zu diesen Maßnahmen gehören Kreditgarantieprogramme und staatlich garantierte Darlehen. Die Gesamtauswirkungen der in den Konvergenzprogrammen 2020 genannten haushaltspolitischen Maßnahmen auf den Haushalt unterscheiden sich von denen in der Frühjahrsprognose 2020 der Kommission, da nur hinreichend spezifizierte Maßnahmen von der Kommission bewertet und berücksichtigt wurden. Insgesamt stehen die von Ungarn ergriffenen Maßnahmen mit den in der Mitteilung der Kommission über eine koordinierte wirtschaftliche Reaktion auf die COVID-19-Pandemie dargelegten Leitlinien im Einklang. Die vollständige Spezifizierung und Annahme aller angekündigten Maßnahmen und die Neuausrichtung der Haushaltspolitik auf die mittelfristige Erreichung einer vorsichtigen Haushaltslage, die vorgenommen wird, sobald die wirtschaftlichen Bedingungen dies zulassen, werden dazu beitragen, die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen zu erhalten.

(15)Ausgehend von der Frühjahrsprognose 2020 der Kommission wird der gesamtstaatliche Haushaltssaldo Ungarns bei unveränderter Politik für 2020 auf -5,2 % des BIP und für 2021 auf -4,0 % geschätzt. Die gesamtstaatliche Schuldenquote wird der Prognose zufolge 2020 bei 75,0 % des BIP liegen.

(16)Am 14. Juni 2019 stellte der Rat im Einklang mit Artikel 121 Absatz 4 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) fest, dass in Ungarn 2018 eine erhebliche Abweichung vom mittelfristigen Haushaltsziel bestand. Angesichts der festgestellten erheblichen Abweichung empfahl der Rat Ungarn am 14. Juni 2019, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die nominale Wachstumsrate der staatlichen Nettoprimärausgaben im Jahr 2019 3,3 % und im Jahr 2020 4,7 % nicht überschreitet, was einer jährlichen strukturellen Anpassung um 1,0 % und 0,75 % des BIP entspricht. Am 5. Dezember 2019 hat der Rat den Beschluss (EU) 2019/2172 8 erlassen, in dem festgestellt wurde, dass Ungarn keine wirksamen Maßnahmen ergriffen hatte, um der Empfehlung des Rates vom 14. Juni 2019 nachzukommen, und gab eine überarbeitete Empfehlung ab. In seiner Empfehlung vom 5. Dezember 2019 forderte der Rat Ungarn auf, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die nominale Wachstumsrate der gesamtstaatlichen Nettoprimärausgaben im Jahr 2020 4,7 % nicht überschreitet, was einer jährlichen strukturellen Anpassung von 0,75 % des BIP im Jahr 2020 entspricht. Auf der Grundlage der Gesamtbewertung der Kommission und angesichts der Aktivierung der allgemeinen Ausweichklausel für 2020, die eine vorübergehende Abweichung vom Anpassungspfad in Richtung auf das mittelfristige Haushaltsziel ermöglicht, wird davon ausgegangen, dass Ungarn auf die Empfehlung des Rats vom 5. Dezember 2019 hin wirksame Maßnahmen ergriffen hat.

(17)Am 20. Mai 2020 veröffentlichte die Kommission einen Bericht nach Artikel 126 Absatz 3 AEUV, da Ungarn im Jahr 2020 voraussichtlich den Defizitschwellenwert von 3 % des BIP überschreiten wird. Die darin enthaltene Analyse legt insgesamt nahe, dass das im Vertrag und in der Verordnung (EG) Nr. 1467/1997 festgelegte Defizitkriterium nicht erfüllt ist.

(18)Die Regierung rief am 11. März 2020 die nationale Gefahrenlage aus. Am 12. März wurden die Grenzen für Reisende geschlossen, ausgenommen für zurückkehrende Staatsbürger und Einwohner des Europäischen Wirtschaftsraums sowie reguläre Grenzpendler. Der Transit-Güterverkehr war weiterhin zulässig. Am 16. März 2020 wurden Kindertagesstätten, Kindergärten, Schulen und Universitäten geschlossen, gleichzeitig wurde mit Online-Unterricht begonnen. Ab dem 17. März 2020 mussten Geschäfte, die nicht der Grundversorgung dienen, um 15 Uhr schließen, und Restaurants durften nur noch Takeaway-Dienste anbieten. Am 28. März 2020 wurde eine teilweise Ausgangssperre verhängt, sodass Personen ihr Wohngebiet nur aus triftigen Gründen verlassen durften, und es wurden Regelungen zur sozialen Distanzierung eingeführt. Vor dem COVID-19-Ausbruch befand sich die ungarische Wirtschaft nach mehreren Jahren des herausragenden Wachstums auf dem Weg zu einer allmählichen Verlangsamung. Das reale BIP stieg im Jahr 2019 um 4,9 %. Nach dem Ausbruch des Virus wurden relativ schnell Eindämmungsmaßnahmen durchgeführt, und die Zahl der amtlich bestätigten Infektionsfälle blieb bisher begrenzt. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass die weltweite Rezession die Ausfuhren besonders stark in Mitleidenschaft ziehen wird, da hochzyklische Wirtschaftszweige wie die Automobilindustrie eine dominierende Rolle spielen. Auch dürfte sie Tourismus und Verkehrssektor beeinträchtigen, die von Reisebeschränkungen betroffen sind. Insgesamt wird ab März eine drastische Rezession und ab der zweiten Jahreshälfte eine allmähliche wirtschaftliche Erholung projiziert, da davon ausgegangen wird, dass die Eindämmungsmaßnahmen schrittweise aufgehoben werden. Die Arbeitslosigkeit könnte aufgrund der Arbeitsmarktflexibilität rasch ansteigen. Die Wirtschaftsleistung im Jahr 2020 wird von der Dauer der Ausgangsbeschränkungen sowie von der wirtschaftspolitischen Reaktion abhängen. In der Frühjahrsprognose der Europäischen Kommission wird für 2020 ein Rückgang des realen BIP um 7 % projiziert, worauf eine Erholung um 6 % im Jahr 2021 folgen dürfte.

(19)Die Regierung hat seit Mitte März mehrere Maßnahmenpakete angekündigt, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Krise abzufedern. Die Ungarische Nationalbank hat Maßnahmen ergriffen, um dem Finanzsektor Liquidität bereitzustellen. Weitere Liquiditätsmaßnahmen für private Haushalte und Unternehmen umfassen i) ein Zahlungsmoratorium bis zum 31. Dezember 2020 für Darlehen und Finanzierungsleasingverträge für Unternehmen und Haushalte und ii) eine Deckelung des Zinssatzes für Verbraucherkredite. Bei der Konzipierung und Umsetzung dieser Maßnahmen muss die Resilienz des Bankensektors berücksichtigt werden. Weitere Maßnahmen, die hauptsächlich auf die am stärksten von der Krise betroffenen Sektoren wie Tourismus und Dienstleistungen abzielen, umfassen vorübergehende Steuerbefreiungen und Steuerermäßigungen, Investitionsbeihilfen, Infrastrukturentwicklung, zinsgünstige oder besicherte Darlehen und Investitionsprogramme. Um Arbeitsplätze zu erhalten, hat die Regierung zwei Arten von Kurzarbeitsregelungen eingeführt. Während die allgemeine Regelung unter bestimmten Voraussetzungen bis zu 70 % der Lohnausfälle für drei Monate abdeckt, gilt für Personal im Bereich Forschung und Entwicklung (FuE) eine besondere Regelung. Die Regierung hat eine geplante Senkung der Sozialversicherungsbeiträge um ein Quartal und einmalige Lohnzulagen im Gesundheitswesen vorgezogen. Insgesamt zielen die haushaltspolitischen Maßnahmen zwar auf die Unterstützung von Unternehmen und die Erhaltung von Arbeitsplätzen ab, doch sind ihr Umfang und ihr Anwendungsbereich im Vergleich zu den meisten Mitgliedstaaten nach wie vor begrenzt. Darüber hinaus sollen sie durch Umschichtungen zwischen Haushaltskapiteln und durch neu erhobene Steuern finanziert werden und dürften daher unter dem Aspekt der makroökonomischen Stabilisierung nur begrenzte Auswirkungen haben.

(20)Die Gesundheitsergebnisse fielen hinsichtlich verschiedener Aspekte weiterhin schlechter aus als in den meisten Mitgliedstaaten, was unter anderem auf die hohe Prävalenz von Risikofaktoren in der Bevölkerung und die begrenzte Wirksamkeit der Gesundheitsversorgung zurückzuführen ist. Der öffentliche Anteil an den Gesundheitsausgaben in Ungarn lag deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Im EU-Vergleich leisten überdurchschnittlich viele Ungarinnen und Ungarn Selbstzahlungen und werden zunehmend in die private Gesundheitsversorgung gedrängt. Dies erhöht die Gefahr finanzieller Engpässe für die ungarischen Haushalte und wirkt sich auf die soziale Gerechtigkeit und die Gesundheitsergebnisse aus. Weitere Investitionen und umfassende Reformen sind erforderlich, um die Ressourcennutzung im Gesundheitssystem zu rationalisieren, Ungleichheiten beim Zugang abzubauen und die Qualität der Gesundheitsversorgung zu verbessern. Die Präventionsdienste und Leistungen der Primärversorgung sind unterfinanziert, und ihr Potenzial zur Verbesserung der Qualität, der Zugänglichkeit und der Kosteneffizienz des Gesundheitssystems wird nach wie vor nicht hinreichend ausgeschöpft. Wenngleich die Behörden damit begonnen haben, den erheblichen Mangel an Gesundheitspersonal in Ungarn zu mindern, beeinträchtigen regionale Unterschiede bei der Verteilung des Gesundheitspersonals in einigen Gebieten nach wie vor den Zugang zu medizinischer Versorgung, und einige schutzbedürftige Gruppen wie marginalisierte Roma und Menschen mit Behinderungen sind diesbezüglich mit besonderen Hindernissen konfrontiert. Angesichts des durch die COVID-19-Pandemie hervorgerufenen Nachfrageschocks für die Gesundheitssysteme sind rasche Maßnahmen erforderlich, um diese strukturellen Herausforderungen anzugehen und die Resilienz des ungarischen Gesundheitssystems zu erhöhen.

(21)Die sozioökonomischen Folgen des Ausbruchs könnten erheblich sein, und die Auswirkungen des Regierungserlasses vom 18. März 2020, wonach bilateral vereinbarte Ausnahmen vom Arbeitsgesetzbuch zugelassen werden, müssen noch bewertet werden. Der Prognose der Kommission zufolge dürfte die Arbeitslosenquote im Jahr 2020 auf 7,0 % ansteigen und im Jahr 2021 leicht auf 6,1 % sinken. Ein großer Teil der ungarischen Wirtschaft entfällt auf die besonders schwer von der Krise getroffenen Sektoren, in denen gering bis mäßig qualifizierte Arbeitskräfte mit sehr flexiblen Arbeitsverträgen beschäftigt sind. Bis zu Beginn des Jahres 2020 war angesichts des starken Wirtschaftswachstums eine fortgesetzte Verbesserung der Gesamtbeschäftigungsquote zu verzeichnen, die allerdings nicht allen Gruppen gleichermaßen zugutegekommen ist. Die Beschäftigungsunterschiede zwischen Qualifikationsgruppen und zwischen Männern und Frauen sind im Vergleich zum EU-Durchschnitt nach wie vor groß, was zum Teil auf das begrenzte Angebot an hochwertiger Kinderbetreuung zurückzuführen ist. Das Programm für öffentliche Arbeiten, das nicht die erwartete Wirkung entfaltet hat, um die Teilnehmer in Beschäftigungsverhältnisse auf dem primären Arbeitsmarkt zu bringen, wurde zwar zurückgefahren, hat aber nach wie vor einen erheblichen Umfang. Es besteht Spielraum für eine Stärkung anderer Maßnahmen, um Arbeitslosen oder Nichterwerbstätigen wirksam dabei zu helfen, einen Arbeitsplatz zu finden oder an einer Ausbildung teilzunehmen, und so diese Maßnahmen besser auszurichten. Der Zeitraum, in dem Leistungen bei Arbeitslosigkeit gewährt werden, ist mit maximal drei Monaten EU-weit der kürzeste und lag selbst bei einer günstigen Wirtschaftslage weit unter dem durchschnittlich für die Arbeitssuche benötigten Zeitraum. Im Einklang mit den Grundsätzen der europäischen Säule sozialer Rechte müssen Sozialschutzsysteme und -maßnahmen diejenigen schützen, deren Arbeitsplätze gefährdet sind, sowie Selbstständige und Arbeitslose. Kurzarbeitsregelungen, bei denen Arbeitnehmer eine staatliche Einkommensunterstützung für die nicht geleisteten Arbeitsstunden erhalten, sind ein geeignetes Instrument des Beschäftigungsschutzes. Während der Pandemie sind Kurzarbeitsregelungen am effizientesten, wenn sie einfach und schnell verwaltet werden und ihre Anwendung nicht bestimmten Sektoren oder Unternehmenstypen vorbehalten ist.

(22)Die allgemeine Armutslage in Ungarn hatte sich zwar vor der Krise verbessert, doch kann sich die Tendenz während des Abschwungs rasch umkehren. Die Einkommensungleichheit hat in den letzten zehn Jahren zugenommen, was zum Teil auf Veränderungen im Steuer- und Sozialleistungssystem zurückzuführen ist. Bereits vor dem COVID-19-Ausbruch war eine schwere materielle wie auch soziale Deprivation festzustellen, insbesondere in Haushalten mit mehreren Kindern und in der Roma-Bevölkerung. Der Mangel an kommunalen Sozialwohnungen und die fehlende finanzielle Unterstützung für Mieter behindern die Mobilität. Die Mindestsicherung ist seit 2012 nominal unverändert geblieben und zählt zu den niedrigsten in der EU. Die Pandemie dürfte die schutzbedürftigen Gruppen, die keinen Zugang zu Versorgungsleistungen und wesentlichen Dienstleistungen haben und in überbelegten Haushalten leben, am härtesten treffen. Wenn sich die Wirtschaft erholt, werden Maßnahmen zur Förderung der Aktivierung und Integration dieser Gruppen in den Arbeitsmarkt erforderlich sein. Bereits vor der Krise lagen die Bildungsergebnisse unter dem Unionsdurchschnitt und waren stark vom sozioökonomischen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler beeinflusst. Der Anteil der frühen Schulabgänger war hoch, insbesondere unter Roma-Kindern. Mit der geringen Teilhabe schutzbedürftiger Gruppen an hochwertiger Bildung wird eine Chance zum Aufbau von Humankapital und sozialem Zusammenhalt vergeben. Das Gehalt von Lehrerinnen und Lehrern gehört zu den niedrigsten in der EU. Die geringe Zahl der Studierenden an Hochschulen steht in einem Missverhältnis zur starken Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften. Der unerwartete Übergang zum Fernunterricht dürfte die Ungleichheiten weiter verschärfen. Aus den jährlichen nationalen Kompetenztests geht hervor, dass es aufgrund des Mangels an digitalen Instrumenten schwierig ist, viele Schülerinnen und Schüler durch digitale Bildung zu erreichen. Lernende aus benachteiligten Verhältnissen bekommen die negativen Auswirkungen des Fernunterrichts zu spüren, auch aufgrund der Überbelegung von Haushalten und des geringen Bildungsniveaus ihrer Eltern. Die jüngsten und laufenden Investitionen in die Digitalisierung der Bildung waren wichtig und müssen fortgesetzt werden.

(23)Im Zusammenhang mit der COVID-19-Krise ist es besonders wichtig, das Funktionieren kritischer Infrastrukturen und den freien Warenverkehr im gesamten Binnenmarkt zu gewährleisten und das ordnungsgemäße Funktionieren der Lieferketten in Zusammenarbeit mit den Nachbarländern zu überwachen und sicherzustellen. Ungarn ist eine kleine offene Volkswirtschaft mit einem intensiven grenzüberschreitenden Warenverkehr. Zudem arbeiten viele Ungarinnen und Ungarn im Ausland und pendeln wöchentlich. Ungarn benötigt möglicherweise auch saisonale Grenzgänger in der Landwirtschaft. Die derzeitigen Reisebeschränkungen könnten dem Warenfluss und der Mobilität von Arbeitskräften im Wege stehen, aber durch die Gewährleistung sog. „Green Lanes“ an den Grenzen abgeschwächt werden.

(24)Unter den Dienstleistungen ist der Einzelhandel einer der am stärksten betroffenen Sektoren, da viele Unternehmen infolge der Maßnahmen den Betrieb komplett einstellen mussten oder ihre Geschäftstätigkeit erheblich eingeschränkt wurde. Flexibilität in Regelungsfragen würde dazu beitragen, dass sich der Einzelhandel nach Überwindung der COVID-19-Krise wieder erholt. Ungarn hat die höchste Zahl reglementierter Berufe in der EU. Freiberufliche Dienstleistungen werden eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, Lockerungsmaßnahmen und die Erholung nach der Krise zu erleichtern. Die Gewährleistung eines reibungslosen Zugangs zu Berufen und der Ausübung von Berufen durch Straffung ihres Regelungsrahmens und der damit verbundenen Verwaltungsverfahren ist daher von entscheidender Bedeutung, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen sowie Kleinstunternehmen, darunter Selbstständige, die von der Krise besonders betroffen sind. Die Liquiditätshilfe für Unternehmen durch Darlehen und Garantien mit Schwerpunkt auf kleinen und mittleren Unternehmen ist von größter Bedeutung, wobei die Intermediäre die Liquiditätsunterstützung wirksam und rasch an Unternehmen weiterleiten müssen. Bei der Konzipierung und Umsetzung dieser Maßnahmen muss die Resilienz des Bankensektors berücksichtigt werden. Die Möglichkeit von Stundungsmaßnahmen für Steuern und Sozialbeiträge sowie die Beschleunigung vertraglicher Zahlungen durch die öffentliche Hand können auch dazu beitragen, den Cashflow kleiner und mittlerer Unternehmen zu verbessern. Neu gegründete Start-ups und Scale-ups benötigen möglicherweise besondere Unterstützung, so könnten Anreize für Risikokapitalfonds gesetzt werden, damit letztere mehr in solche Unternehmen investieren. Diese Fördermaßnahmen werden auch dazu beitragen, Notverkäufe von strategisch wichtigen europäischen Unternehmen zu vermeiden.

(25)Von Forschung und Innovation gehen entscheidende Impulse für langfristiges Wachstum und langfristige Wettbewerbsfähigkeit aus. Ungarn gilt als mäßiger Innovator. Der Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften ist ein wesentliches Innovationshemmnis. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) steigen langsam und wurden hauptsächlich von der Wirtschaft getragen, die im EU-Vergleich von der größten öffentlichen Unterstützung profitiert. Allerdings sind die FuE-Ausgaben im öffentlichen Sektor in den letzten zehn Jahren zurückgegangen. Investitionen in innovative kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sowie die Stärkung der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Forschung, Hochschulen und dem öffentlichen Sektor erhöhen die Forschungs- und Innovationskapazitäten des Landes, deren es angesichts der COVID-19-Krise bedarf. Für eine Erholung sind Investitionen in öffentliche Forschung und Innovation sowie ein förderliches Forschungsumfeld unabdingbar.

(26)Um die wirtschaftliche Erholung zu fördern, wird es wichtig sein, durchführungsbereite öffentliche Investitionsprojekte vorzuziehen und private Investitionen, auch durch entsprechende Reformen, zu unterstützen. Aus dem nationalen Energie- und Klimaplan Ungarns geht hervor, dass Investitionsbedarf zur Bewältigung der Klima- und Energiewende besteht. Diese Investitionen werden gemeinsam mit Investitionen in die Digitalisierung und den grünen Wandel die ungarische Wirtschaft nachhaltiger und widerstandsfähiger machen, sobald sich das Land von der Krise erholt. Derzeit ist die Energieeffizienz im Wohnungssektor gering, was auch zur Luftverschmutzung beiträgt. Die anhaltenden Verstöße gegen Luftqualitätsnormen haben schwerwiegende Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt. Zu den wichtigsten Quellen der Luftverschmutzung gehören die Verbrennung fester Brennstoffe im Wohnungssektor, die Landwirtschaft und Verkehrsemissionen. Nur 1 % des Bruttoinlandsenergieverbrauchs wird aus CO2-armen erneuerbaren Energiequellen gedeckt, und auf Biomasse mit hohem Schadstoffausstoß entfallen etwa 10 %. Ausgehend von einem niedrigen Niveau ist bei Solaranlagen ein rascher Anstieg zu verzeichnen. Im Einklang mit seinem nationalen Energie- und Klimaplan und der langfristigen Klimaneutralität beabsichtigt Ungarn, stärker auf erneuerbare Energiequellen, vor allem auf Solarenergie, zu setzen. In der derzeitigen Wirtschaftslage können energiepolitische Maßnahmen umweltverträgliches Wachstum generieren und zur wirtschaftlichen Erholung beitragen. Die Überlastung des Straßennetzes stellte bis zum Ausbruch der COVID-19-Pandemie eine wachsende Herausforderung dar, die negative wirtschaftliche Auswirkungen und eine Zunahme von Treibhausgasemissionen und Luftverschmutzung nach sich zieht. Mehr Telearbeitsmöglichkeiten und attraktivere öffentliche Verkehrssysteme würden auch dazu beitragen, die Umweltauswirkungen des Verkehrssektors abzumildern. Die Kreislaufwirtschaft steht noch am Anfang, das Recycling von Siedlungsabfällen ist unterentwickelt, und wirtschaftliche Instrumente bieten nicht genügend Anreize. Die Deponierung stellt nach wie vor die vorherrschende Methode der Abfallbewirtschaftung dar. Wasserqualität und Wasserversorgung geben weiterhin Anlass zur Sorge. Die digitalen Kompetenzen der Ungarinnen und Ungarn und die Nutzung digitaler Technologien durch Unternehmen und öffentliche Dienste liegen nach wie vor unter dem EU-Durchschnitt. Die Bemühungen um effiziente digitale öffentliche Dienste für Bürgerinnen und Bürger sowie für Unternehmen sollten fortgesetzt werden. Die Programmplanung des Fonds für einen gerechten Übergang für den Zeitraum 2021-2027 könnte Ungarn dabei helfen, insbesondere in den in Anhang D des Länderberichts 9 genannten Regionen einige der mit dem Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft verbundenen Herausforderungen anzugehen und so diesen Fonds optimal nutzen.

(27)Als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie rief die Regierung am 11. März 2020 die „nationale Gefahrenlage“ aus. Die Dauer der Gefahrenlage ist nicht vorab festgelegt, und es liegt im Ermessen der Regierung, sie aufrechtzuerhalten oder zu beenden. Die konkreten Maßnahmen der Regierung gelten bis zur Beendigung der nationalen Gefahrenlage. Am 30. März 2020 verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz, das es der Regierung erlaubt, Gesetze per Erlass außer Kraft zu setzen. In Anbetracht des Zusammenwirkens weit gefasster Befugnisse und des Fehlens einer klaren zeitlichen Begrenzung scheinen die Notstandsbefugnisse umfangreicher zu sein als vergleichbare Befugnisse in anderen Mitgliedstaaten. Bestimmte im Rahmen dieser Befugnisse ergriffene Notmaßnahmen werfen Fragen hinsichtlich ihrer Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit auf und beeinträchtigen Geschäftstätigkeiten sowie die Stabilität des Regelungsumfelds. Zu diesen Maßnahmen gehören die Genehmigung von arbeitsrechtlichen Ausnahmen, die Entsendung militärischer Verbindungsbeamter in strategisch wichtige Unternehmen und die Unterstellung eines börsennotierten Unternehmens unter staatliche Aufsicht. Laut Erklärung vom 15. Mai 2020 geht Ministerpräsident Viktor Orbán davon aus, dass die Regierung Ende des Monats in der Lage sein wird, die ihr infolge der Coronavirus-Pandemie übertragenen Sonderbefugnisse wieder in die Hände des Parlaments zu legen. Die Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz wäre zwecks einer wirksamen Aufsicht über die betreffenden Notmaßnahmen ebenfalls von entscheidender Bedeutung.

(28)Die Beteiligung der Sozialpartner an politischen Initiativen und an deren Umsetzung war in den letzten Jahren unzureichend, was die Qualität und Vorhersehbarkeit der Politikgestaltung geschwächt und das Risiko für politische Fehler erhöht hat. Konsultationen und Folgenabschätzungen wurden immer wieder durch die Anwendung besonderer Gesetzgebungsverfahren, etwa durch Gesetzesentwürfe einzelner Kabinettsmitglieder und Dringlichkeitsverfahren, umgangen. Die Beteiligung der Interessenträger wurde im Rahmen des derzeitigen Systems der Regierungserlasse weiter geschwächt, auch vor dem Hintergrund des Regierungserlasses vom 18. März 2020, der bilaterale Ausnahmen vom Arbeitsgesetzbuch zulässt.

(29)Der mangelnde Wettbewerb im öffentlichen Auftragswesen ist nach wie vor ein entscheidendes Problem, da eine breitere Öffnung für den Wettbewerb für die Bewältigung der Krise, die Wiederbelebung des KMU-Sektors und den Neustart der Wirtschaft unerlässlich ist. Trotz der neuen legislativen Änderungen und der Digitalisierung des öffentlichen Auftragswesens wird nahezu die Hälfte aller öffentlichen Ausschreibungen in Verfahren mit einem einzigen Bieter vergeben. Die hohe Zahl an Ausschreibungen, für die nur ein einziges Angebot eingeht, untergräbt die Wirksamkeit des öffentlichen Auftragswesens. Die Professionalisierung des öffentlichen Auftragswesens könnte dazu beitragen, die Einhaltung der Unionsvorschriften zu verbessern und eine strategische Auftragsvergabe zu ermöglichen. Bei den Prüfungen der Kommission zur Vergabe öffentlicher Aufträge im Zusammenhang mit von der Union kofinanzierten Projekten, die in den letzten Jahren durchgeführt wurden, wurden systemische Mängel und Schwachstellen im Kontrollsystem für die Vergabe öffentlicher Aufträge festgestellt. Im Jahr 2019 hat die Kommission Ungarn aufgrund dieser Mängel finanzielle Berichtigungen in Höhe von rund 1 Mrd. EUR auferlegt.

(30)Die Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung ist eine wesentliche Voraussetzung für effizientere und gerechtere Steuersysteme. Da aggressive Steuerplanungsstrategien von Steuerzahlern sich auf andere Mitgliedstaaten auswirken können, ist ergänzend zu den EU-Rechtsvorschriften auch ein koordiniertes Vorgehen auf nationaler Ebene erforderlich. Ungarn hat Maßnahmen gegen aggressive Steuerplanung ergriffen, indem es zuvor vereinbarte internationale und europäische Initiativen umgesetzt hat. Allerdings gibt es in Ungarn keine Quellensteuern auf Einkünfte, die an Offshore-Finanzzentren fließen, was die Möglichkeit bieten könnte, Gewinne aus der EU zu schleusen, ohne dass dafür angemessene Steuern entrichtet werden. Während die an Offshore-Finanzzentren fließenden Einkommensströme wie Lizenzgebühren, Zinsen und Dividenden im Zeitraum 2013-2017 relativ gering waren, verzeichnet Ungarn volatile und relativ hohe Kapitalzu- und -abflüsse über Zweckgesellschaften, was auf eine potenzielle Anfälligkeit für aggressive Steuerplanungspraktiken hindeutet.

(31)Im Zusammenhang mit der COVID-19-Krise ist es besonders wichtig, das Funktionieren kritischer Infrastrukturen und den freien Warenverkehr im gesamten Binnenmarkt zu gewährleisten und das ordnungsgemäße Funktionieren der Lieferketten in Zusammenarbeit mit den Nachbarländern zu überwachen und sicherzustellen. Daher wird die Aufhebung der während der COVID-19-Krise beschlossenen Maßnahmen, mit denen die Ausfuhr von Arzneimitteln und medizinischen Produkten beschränkt wurde, um vor allem die Versorgung damit in Ungarn sicherzustellen, dazu beitragen, dass dem Bedarf der Bürgerinnen und Bürger in der gesamten EU kohärent und im Geiste der Solidarität Rechnung getragen und die Gefahr von Engpässen und Störungen der Lieferketten vermieden wird. Letztlich wird damit der Weg für eine erfolgreiche, auf EU-Ebene koordinierte COVID-Exit-Strategie geebnet.

(32)Während die vorliegenden Empfehlungen in erster Linie auf die Bewältigung der sozioökonomischen Folgen der Pandemie und die Förderung der wirtschaftlichen Erholung abzielen, ging es bei den vom Rat am 9. Juli 2019 angenommenen länderspezifischen Empfehlungen 2019 auch um Reformen, die für die Bewältigung mittel- bis langfristiger struktureller Herausforderungen von wesentlicher Bedeutung sind. Diese sind nach wie vor relevant, weswegen ihre Einhaltung im nächstjährigen Semesterzyklus weiterverfolgt werden wird. Dies gilt auch für Empfehlungen zu investitionsbezogenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Letztere sollten bei der strategischen Planung kohäsionspolitischer Mittel nach 2020 berücksichtigt werden, also auch bei Maßnahmen zur Abfederung der Krise und bei Exit-Strategien.

(33)Korruption, Zugang zu öffentlichen Informationen und Medienfreiheit gaben schon vor der Krise Anlass zur Sorge. Diese Bereiche sind während der nationalen Gefahrenlage noch stärker einer weiteren Verschlechterung ausgesetzt, da die Kontrollmechanismen geschwächt wurden. Untersuchungen und Strafverfolgung scheinen in Ungarn weniger wirksam zu sein als in anderen Mitgliedstaaten. Es fehlt an einem entschlossenen systematischen Vorgehen zur Bekämpfung von Korruption auf hoher Ebene. Die Rechenschaftspflicht für Entscheidungen zur Einstellung von Untersuchungen gibt nach wie vor Anlass zur Sorge, da gegen Entscheidungen der Staatsanwaltschaft, Fälle mutmaßlicher Kriminalität nicht zu verfolgen, keine wirksamen Rechtsbehelfe eingelegt werden können. Der eingeschränkte Zugang zu Informationen behindert weiterhin den Kampf gegen Korruption. Abschreckende Praktiken in Verbindung mit dem Zugang zu öffentlichen Informationen können Einzelpersonen und Nichtregierungsorganisationen davon abhalten, ihre verfassungsmäßigen Rechte auszuüben.

(34)Das Europäische Semester bildet den Rahmen für eine kontinuierliche wirtschafts- und beschäftigungspolitische Koordinierung innerhalb der Union, die zu einer nachhaltigen Wirtschaft beitragen kann. Die Mitgliedstaaten haben in ihren nationalen Reformprogrammen 2020 eine Bilanz der Fortschritte bei der Umsetzung der Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung gezogen. Indem Ungarn die nachstehenden Empfehlungen vollständig umsetzt, wird es Fortschritte bei der Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung erreichen und zu den gemeinsamen Anstrengungen im Hinblick auf die Sicherstellung wettbewerbsfähiger Nachhaltigkeit in der Europäischen Union beitragen.

(35)Im Rahmen des Europäischen Semesters 2020 hat die Kommission die Wirtschaftspolitik Ungarns umfassend analysiert und diese Analyse im Länderbericht 2020 veröffentlicht. Sie hat auch das Konvergenzprogramm 2020 und das Nationale Reformprogramm 2020 sowie die Maßnahmen zur Umsetzung der an Ungarn gerichteten Empfehlungen der Vorjahre bewertet. Dabei hat sie nicht nur deren Relevanz für eine dauerhaft tragfähige Haushalts-, Sozial- und Wirtschaftspolitik in Ungarn berücksichtigt, sondern angesichts der Notwendigkeit, die wirtschaftspolitische Steuerung der Union insgesamt durch auf Unionsebene entwickelte Vorgaben für künftige nationale Entscheidungen zu verstärken, auch deren Übereinstimmung mit Vorschriften und Leitlinien der Union beurteilt.

(36)Vor dem Hintergrund dieser Bewertung hat der Rat das Konvergenzprogramm 2020 geprüft; seine Stellungnahme hierzu 10 spiegelt sich insbesondere in der nachstehenden Empfehlung 1 wider —

EMPFIEHLT, dass Ungarn 2020 und 2021

1.im Einklang mit der allgemeinen Ausweichklausel alle erforderlichen Maßnahmen ergreift, um die Pandemie wirksam zu bekämpfen, die Wirtschaft zu stützen und ihre anschließende Erholung zu fördern; sobald die wirtschaftlichen Bedingungen dies zulassen, eine Haushaltspolitik verfolgt, die darauf abzielt, mittelfristig eine vorsichtige Haushaltslage zu erreichen und die Schuldentragfähigkeit zu gewährleisten, und gleichzeitig die Investitionen erhöht; den Mangel an Gesundheitspersonal angeht und eine angemessene Versorgung mit wesentlicher medizinischer Ausrüstung und Infrastruktur gewährleistet, um die Resilienz des Gesundheitssystems zu erhöhen; den Zugang zu Präventionsdiensten und Leistungen der Primärversorgung verbessert;

2.durch verbesserte Kurzarbeitsregelungen und wirksame aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen sowie die Verlängerung der Dauer der Leistungen bei Arbeitslosigkeit Arbeitsplätze schützt; die Sozialhilfe auf einen angemessenen Stand bringt und den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und hochwertiger Bildung für alle verbessert;

3.die Liquiditätshilfe für kleine und mittlere Unternehmen sicherstellt; durchführungsreife öffentliche Investitionsprojekte vorzieht und private Investitionen fördert, um die wirtschaftliche Erholung zu unterstützen; verstärkt in den ökologischen und digitalen Wandel investiert, insbesondere in saubere und effiziente Energieerzeugung und -nutzung, nachhaltigen Verkehr, Wasser- und Abfallwirtschaft, Forschung und Innovation sowie digitale Infrastruktur für Schulen;

4.sicherstellt, dass Notmaßnahmen streng verhältnismäßig und zeitlich begrenzt sind, europäischen wie internationalen Standards entsprechen und die Geschäftstätigkeit und die Stabilität des Regelungsumfelds nicht beeinträchtigen. die wirksame Teilhabe der Sozialpartner und Interessenträger am politischen Entscheidungsprozess sicherstellt; für mehr Wettbewerb im öffentlichen Auftragswesen sorgt;

5.das Steuersystem gegen eine etwaige aggressive Steuerplanung stärkt.

Geschehen zu Brüssel am

   Im Namen des Rates

Der Präsident

(1)    ABl. L 209 vom 2.8.1997, S. 1.
(2)    SWD(2020) 516 final.
(3)    ABl. C 301 vom 5.9.2019, S. 117.
(4)    COM(2020) 112 final.
(5)    COM(2020) 123 final.
(6)

   Verordnung (EU) 2020/460 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. März 2020 zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013 und (EU) Nr. 508/2014 im Hinblick auf besondere Maßnahmen zur Mobilisierung von Investitionen in die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten und in andere Sektoren von deren Volkswirtschaften zur Bewältigung des COVID-19-Ausbruchs (Investitionsinitiative zur Bewältigung der Coronavirus-Krise) (ABl. L 99 vom 31.3.2020, S. 5) und Verordnung (EU) 2020/558 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2020 zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1301/2013 und (EU) Nr. 1303/2013 im Hinblick auf spezifische Maßnahmen zur Einführung einer außerordentlichen Flexibilität beim Einsatz der europäischen Struktur- und Investitionsfonds als Reaktion auf den COVID-19-Ausbruch (ABl. L 130 vom 24.4.2020, S. 1).

(7)    Die staatlichen Nettoprimärausgaben umfassen die Gesamtheit der Staatsausgaben ohne Zinsaufwendungen, Ausgaben für Unionsprogramme, die vollständig durch Einnahmen aus Fonds der Union ausgeglichen werden, und nicht-diskretionäre Änderungen der Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung. Staatlich finanzierte Bruttoanlageinvestitionen werden über einen Zeitraum von vier Jahren geglättet. Diskretionäre einnahmenseitige Maßnahmen oder gesetzlich vorgeschriebene Einnahmensteigerungen werden eingerechnet. Einmalige Maßnahmen sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite werden saldiert.
(8)    ABl. L 329 vom 19.12.2019, S. 91.
(9)    SWD(2019) 1016 final.
(10)    Nach Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 des Rates.