7.5.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 175/89


Stellungnahme des Europäischen Ausschusses der Regionen — Angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union

(2021/C 175/08)

Berichterstatter:

Peter KAISER (AT/SPE), Landeshauptmann von Kärnten

Referenzdokument:

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union

COM(2020) 682 final

I.   EMPFEHLUNGEN FÜR ÄNDERUNGEN

Änderung 1

Erwägungsgrund 21

Vorschlag der Europäischen Kommission

Änderung des AdR

Mindestlöhne gelten als angemessen, wenn sie angesichts der Lohnskala im Land gerecht sind und einen angemessenen Lebensstandard gewährleisten. Die Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne wird unter Berücksichtigung der nationalen sozioökonomischen Bedingungen, einschließlich des Beschäftigungswachstums und der Wettbewerbsfähigkeit, sowie regionaler und sektoraler Entwicklungen bestimmt. In die Bewertung der Angemessenheit sollten mindestens folgende Größen einfließen: Kaufkraft, Produktivitätsentwicklung und Verhältnis zu Bruttolöhnen, Lohnverteilung und -wachstum. International übliche Indikatoren , wie etwa 60 % des Bruttomedianlohns und 50 % des Bruttodurchschnittslohns , können als Richtschnur für die Bewertung der Angemessenheit des Mindestlohns im Verhältnis zum Bruttolohn dienen .

Mindestlöhne gelten als angemessen, wenn sie angesichts der Lohnskala im Land gerecht sind und einen angemessenen Lebensstandard gewährleisten. Die Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne wird unter Berücksichtigung der nationalen sozioökonomischen Bedingungen, einschließlich des Beschäftigungswachstums und der Wettbewerbsfähigkeit, sowie regionaler und sektoraler Entwicklungen bestimmt. In die Bewertung der Angemessenheit sollten mindestens folgende Größen einfließen: Kaufkraft, Produktivitätsentwicklung und Verhältnis zu Bruttolöhnen, Lohnverteilung und -wachstum. Die international anerkannten Indikatoren von 60 % des Bruttomedianlohns und 50 % des Bruttodurchschnittslohns dienen als Richtschnur für die Bewertung der Angemessenheit des Mindestlohns im Verhältnis zum Bruttolohn.

Begründung

Die genannten Indikatoren haben sich im Konsultationsprozess als konsensfähige Richtwerte herauskristallisiert.

Änderung 2

Artikel 3 Absatz 3

Vorschlag der Europäischen Kommission

Änderung des AdR

„Tarifverhandlungen“ alle Verhandlungen zwischen einem Arbeitgeber, einer Gruppe von Arbeitgebern oder einer oder mehreren Arbeitgeberorganisationen einerseits und einer oder mehreren Arbeitnehmerorganisationen andererseits zur Festlegung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen und/oder zur Regelung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und/oder zur Regelung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern oder ihren Organisationen und einer Arbeitnehmerorganisation oder Arbeitnehmerorganisationen ;

„Tarifverhandlungen“ alle Verhandlungen zwischen einem Arbeitgeber, einer Gruppe von Arbeitgebern oder einer oder mehreren Arbeitgeberorganisationen einerseits und einer oder mehreren Gewerkschaften andererseits zur Festlegung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen und/oder zur Regelung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und/oder zur Regelung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern oder ihren Organisationen und Gewerkschaften ;

Begründung

Gemäß den EU-Sozialvorschriften und völkerrechtlichen Verpflichtungen der EU sind Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen die Sozialpartner im sozialen Dialog. Betriebsräte beispielsweise sind institutionell nicht ausreichend legitimiert.

Änderung 3

Artikel 4 Absatz 2

Vorschlag der Europäischen Kommission

Änderung des AdR

Mitgliedstaaten, in denen die tarifvertragliche Abdeckung weniger als 70 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemäß Artikel 2 umfasst, sehen zusätzlich einen Rahmen vor, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft, entweder durch Erlass eines Gesetzes nach Anhörung der Sozialpartner oder durch eine Vereinbarung mit diesen, und erstellen einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen. Der Aktionsplan wird veröffentlicht und der Europäischen Kommission mitgeteilt.

Mitgliedstaaten, in denen die tarifvertragliche Abdeckung weniger als 70 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemäß Artikel 2 umfasst, sehen zusätzlich einen Rahmen vor, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft, entweder durch Erlass eines Gesetzes nach Anhörung der Sozialpartner oder durch eine Vereinbarung mit diesen, und erstellen einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen und zum Auf- und Ausbau der Kapazitäten der Sozialpartner . Der Aktionsplan wird veröffentlicht und der Europäischen Kommission mitgeteilt.

Begründung

Sicherstellung der Kohärenz mit Artikel 4 Absatz 1.

Änderung 4

Artikel 5 Absatz 1

Vorschlag der Europäischen Kommission

Änderung des AdR

Die Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die gesetzlichen Mindestlöhne anhand von Kriterien festgelegt und aktualisiert werden, die die Angemessenheit dieser Löhne fördern und dem Ziel angemessener Arbeits- und Lebensbedingungen, des sozialen Zusammenhalts und der Aufwärtskonvergenz entsprechen. Die Mitgliedstaaten legen diese Kriterien im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten entweder in den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften, in Beschlüssen der zuständigen Stellen oder in dreiseitigen Vereinbarungen fest . Die Kriterien müssen stabil und klar definiert sein.

Die Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die gesetzlichen Mindestlöhne anhand von Kriterien festgelegt und aktualisiert werden, die die Angemessenheit dieser Löhne fördern und dem Ziel angemessener Arbeits- und Lebensbedingungen, des sozialen und territorialen Zusammenhalts und der Aufwärtskonvergenz entsprechen. Auf Ebene der Mitgliedstaaten werden diese Kriterien im Einklang mit den Gepflogenheiten in den Mitgliedstaaten entweder in den einschlägigen Rechtsvorschriften, in Beschlüssen der zuständigen Stellen oder in dreiseitigen Vereinbarungen festgelegt . Die Kriterien müssen klar definiert und mit einer Zeitschiene versehen sein.

Begründung

Hervorhebung der territorialen Dimension.

Änderung 5

Artikel 5 Absatz 2

Vorschlag der Europäischen Kommission

Änderung des AdR

Die nationalen Kriterien nach Absatz 1 umfassen mindestens die folgenden Aspekte:

Die nationalen Kriterien nach Absatz 1 sollten mindestens die folgenden Aspekte umfassen :

(a)

die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten sowie der Steuer- und Sozialabgaben ;

(a)

die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten mit Bezugnahme auf den harmonisierten Verbraucherpreisindex („HVPI“) gemäß Verordnung (EU) 2016/79 2;

(b)

das allgemeine Niveau der Bruttolöhne und ihre Verteilung;

b)

das allgemeine Niveau der Bruttolöhne und ihre Verteilung nach Sektoren und NUTS 2-Regionen ;

(c)

die Wachstumsrate der Bruttolöhne;

(c)

die Wachstumsrate der Bruttolöhne.

(d)

Entwicklung der Arbeitsproduktivität.

 

Begründung

Steuer- und Sozialabgaben sowie die Arbeitsproduktivität sind in der Regel unternehmensspezifische Parameter, die sich nicht dazu eignen, die Angemessenheit von Mindestlöhnen zu bewerten.

Änderung 6

Artikel 5 Absatz 3

Vorschlag der Europäischen Kommission

Änderung des AdR

Die Mitgliedstaaten legen bei ihrer Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne im Verhältnis zum allgemeinen Niveau der Bruttolöhne Richtwerte zugrunde, wie sie auf internationaler Ebene üblich sind .

Die Mitgliedstaaten sind weiterhin dafür zuständig, die Höhe der gesetzlichen Mindestlöhne festzulegen . Die Mitgliedstaaten stellen in jedem Fall sicher, dass die gesetzlichen Mindestlöhne adäquat sind und ein jährlich überprüfter Konvergenzprozess zur schnellstmöglichen Erreichung einer Untergrenze von mindestens 60 % des nationalen Vollzeit-Bruttomedianlohns und 50 % des nationalen Vollzeit-Bruttodurchschnittslohns eingeleitet wird.

Begründung

Im Einklang mit Änderung 1 zu Erwägungsgrund 21.

Änderung 7

Artikel 6 Absatz 1

Vorschlag der Europäischen Kommission

Änderung des AdR

Die Mitgliedstaaten können für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern unterschiedliche Sätze des gesetzlichen Mindestlohns zulassen . Die Mitgliedstaaten beschränken diese Variationen auf ein Minimum und stellen sicher, dass sie in jedem Fall diskriminierungsfrei, verhältnismäßig, gegebenenfalls zeitlich begrenzt sowie objektiv und angemessen durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt sind.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass keine Kategorien von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von ihrem gesetzlichen Mindestlohnschutz ausgeschlossen werden .

Begründung

Es sollten keine Anreize für Sätze unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gesetzt werden.

Änderung 8

Artikel 6 Absatz 2

Vorschlag der Europäischen Kommission

Änderung des AdR

Die Mitgliedstaaten können per Gesetz Abzüge zulassen, durch die das den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gezahlte Entgelt auf ein Niveau unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns gesenkt wird. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass diese Abzüge von den gesetzlichen Mindestlöhnen notwendig, objektiv gerechtfertigt und verhältnismäßig sind.

Die Mitgliedstaaten können per Gesetz Abzüge durch die Gewährung von Sozial- oder Sachleistungen zulassen, durch die das den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gezahlte Entgelt auf ein Niveau unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns gesenkt wird. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass diese Abzüge von den gesetzlichen Mindestlöhnen notwendig, objektiv gerechtfertigt und verhältnismäßig sind. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Trinkgelder, Überstunden und andere zusätzliche Zahlungen bei der Berechnung der gesetzlichen Mindestlöhne nicht berücksichtigt, sondern zusätzlich gezahlt werden.

Begründung

Erübrigt sich.

Änderung 9

Artikel 9

Vorschlag der Europäischen Kommission

Änderung des AdR

Öffentliches Auftragswesen

Im Einklang mit den Richtlinien 2014/24/EU, 2014/25/EU und 2014/23/EU ergreifen die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Wirtschaftsteilnehmer bei der Ausführung von öffentlichen Aufträgen oder Konzessionsverträgen die für die jeweilige Branche und die jeweilige Region tarifvertraglich festgelegten Löhne bzw. gegebenenfalls die gesetzlichen Mindestlöhne einhalten.

Öffentliches Auftragswesen

Im Einklang mit den Richtlinien 2014/24/EU, 2014/25/EU und 2014/23/EU ergreifen die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Wirtschaftsteilnehmer bei der Ausführung von öffentlichen Aufträgen oder Konzessionsverträgen die für die jeweilige Branche und die jeweilige Region tarifvertraglich festgelegten Entgelte sowie die sonstigen Arbeitsbedingungen bzw. gegebenenfalls die gesetzlichen Mindestlöhne sowie das Recht auf Kollektivverhandlungen einhalten. Die Mitgliedstaaten stellen ferner sicher, dass die Wirtschaftsteilnehmer als Voraussetzung für die Vergabe öffentlicher Aufträge verpflichtet sind, die gesetzlich und/oder tarifvertraglich festgelegten Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen einzuhalten, das Recht auf Kollektivverhandlungen zu achten sowie Gewerkschaften anzuerkennen und mit ihnen zu verhandeln.

Begründung

Erübrigt sich.

II.   POLITISCHE EMPFEHLUNGEN

DER EUROPÄISCHE AUSSCHUSS DER REGIONEN

1.

begrüßt, dass die Europäische Kommission in Bezug auf den Mindestlohn einen Paradigmenwechsel eingeführt hat, demzufolge angemessene Mindestlöhne ein Grundrecht und eine Grundvoraussetzung für eine dem europäischen Binnenmarkt zugrunde liegende soziale, faire und nachhaltige Marktwirtschaft sind. Die wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Kosten von Lohndumping und des Lohngefälles innerhalb der Europäischen Union (EU) übersteigen bei weitem mögliche kurzfristige Unternehmensgewinne;

2.

begrüßt, dass der Kommissionsvorschlag europäische Rahmenbedingungen für die Stärkung der Tarifbindung und für faire und angemessene Mindestlöhne ermöglicht, die insbesondere der Bekämpfung der Erwerbsarmut trotz Arbeit dienen. Der AdR hebt den Anspruch des Kommissionsvorschlages hervor, einen Rahmen für angemessenere Mindestlöhne und für einen besseren Zugang von Arbeitnehmern zu gesicherten Mindestlöhnen zu schaffen, der sowohl die Besonderheiten der nationalen Systeme, die Tarifautonomie und die Vertragsfreiheit der Sozialpartner respektiert. Entsprechend den früheren Forderungen des AdR stellt der Kommissionsvorschlag keine Pauschallösung dar und beruht auf der vom AdR geteilten Prämisse, „dass gut funktionierende Tarifverhandlungen und umfassende Tarifverträge das wichtigste Mittel sind, um gerechte Löhne und die sonstigen Arbeitsbedingungen festzulegen, da Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Branche und ihre Region am besten kennen“ (1);

3.

stellt fest, dass bis zur Frist vom 21.1.2021 drei nationale Parlamente von zwanzig, die sich mit der Kommissionsvorlage befasst hatten, begründete Stellungnahmen im Rahmen des Subsidiaritätskontrollmechanismus eingereicht hatten;

4.

sieht im Vorschlag der Kommission eine Umsetzung der europäischen Ziele der Stärkung des sozialen und territorialen Zusammenhaltes und der Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen (Artikel 3 EUV) und eine Kontinuität zur europäischen Säule sozialer Rechte (Grundsatz 6) (2) sowie der Charta der Grundrechte (Artikel 31), der Europäischen Sozialcharta (Artikel 4) und IAO-Übereinkommen Nr. 131. Dies ist von besonderer Bedeutung für die Gebiete, in denen Unterschiede bei den Mindestlöhnen in der EU zu unausgewogenen Migrationsströmen innerhalb der EU führen, mit destabilisierender Wirkung auf die lokale Bevölkerung und möglichen negativen Folgen für die demografische Situation in der Herkunftsregion;

5.

hebt hervor, dass die Notwendigkeit einer „Aufwärtskonvergenz“ der Mindestlöhne auch vor dem Hintergrund der Feststellung akut ist, dass Niedriglöhne ein Merkmal der Beschäftigung in der EU bleiben. Schätzungen zufolge ist etwa jeder sechste Arbeitnehmer ein Niedriglohnempfänger. In den letzten Jahren hat sich die Schere zwischen niedrigen Löhnen und anderen Löhnen in vielen Mitgliedstaaten weiter geöffnet. Die Lohnungleichheit ist also gewachsen. Der Anteil der von Armut bedrohten Arbeitnehmer ist von 8,3 % im Jahr 2010 auf 9,3 % im Jahr 2018 gestiegen. Darüber hinaus hat sich der Ausbruch von COVID-19 negativ auf die Löhne der Arbeitnehmer ausgewirkt, insbesondere auf diejenigen mit den niedrigsten Einkommen, wie z. B. Reinigungskräfte, Beschäftigte im Einzelhandel, Gesundheitspersonal und Pflegekräfte in der Langzeitpflege und in Pflegeheimen. Diese Sektoren fallen ganz oder teilweise in die Zuständigkeit der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften. Eine 2020 von Eurofound durchgeführte Online-Umfrage ergab, dass fast 40 % der Befragten aus der EU angaben, dass ihre finanzielle Situation schlechter als vor der Pandemie ist, und fast die Hälfte gab an, dass ihre Haushalte nicht über die Runden kommen (47 % im April 2020). 48 % der Beschäftigten in der Europäischen Union sind Frauen, ihr Anteil an den Mindestlohnempfängern liegt jedoch bei 59 %. Dies trägt zum geschlechtsspezifischen Lohn- und Rentengefälle und zur Erwerbstätigenarmut von Frauen bei (3). Eine Aufwärtskonvergenz würde somit dazu beitragen, die Armut trotz Erwerbstätigkeit sowie das geschlechtsspezifische Lohn- und Rentengefälle zu verringern;

6.

ist der Auffassung, dass die von der Kommission vorgeschlagene Rechtsgrundlage von Artikel 153 AEUV gemäß dem Subsidiaritätsprinzip und in Anwendung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (C-268/06 Impact, 2008) keinen direkten Eingriff bei der Festlegung der Vergütung innerhalb der EU zulässt. Der Kommissionsvorschlag kann nur einen mit Zielsetzungen versehenen Prozess in voller Anerkennung bestehender nationaler Mindestlohngesetzgebung und der Rolle der Sozialpartner darstellen;

7.

weist die Kommission darauf hin, dass für die Bekämpfung der Erwerbsarmut ein vielschichtiger Ansatz erforderlich ist. Die Analyse der Kommission selbst zeigt, dass die Bekämpfung der Erwerbsarmut eine komplexe Herausforderung darstellt, bei der auch andere Faktoren wie das Steuersystem, die Bildungsmaßnahmen, die Höhe der Sozialleistungen und die Beschäftigungspolitik sowie die Verfolgung des positiven Rechts eine entscheidende Rolle spielen. Diese Bereiche fallen hauptsächlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, weshalb der Erfolg eines europäischen Prozesses für angemessene Mindestlöhne in hohem Maße von der Bereitschaft der Mitgliedstaaten abhängt, die betreffenden Parameter selbst anzupassen;

8.

weist darauf hin, dass gemäß Artikel 154 AEUV die Kommission im Vorfeld der Vorlage ihres Entwurfes eine zweistufige Konsultation der Sozialpartner zu möglichen EU-Maßnahmen im Bereich Mindestlöhne durchgeführt hat. In der ersten Phase zwischen dem 14. Januar und dem 25. Februar 2020 konsultierte die Kommission die Sozialpartner zur Notwendigkeit einer Initiative zu Mindestlöhnen und zu ihrer möglichen Ausrichtung. In der zweiten Phase zwischen dem 3. Juni und dem 4. September 2020, konsultierte die Kommission die Sozialpartner zum Inhalt und zum Rechtsinstrument des geplanten Vorschlags. Der Richtlinienvorschlag trägt den Beiträgen der Parteien, insbesondere bei der Frage der Tarifautonomie der Sozialpartner, Rechnung. Es ist daher besonders wichtig, dass die Kommission den künftigen Kapazitätsaufbau sowie die Autonomie der Sozialpartner auf europäischer und nationaler Ebene unterstützt, da die Rechtsvorschriften keine starken Sozialpartner gewährleisten. Die Ansichten der Öffentlichkeit wurden auch durch die Antworten auf das Standard-Eurobarometer 92 (Herbst 2019) eingeholt, das Fragen zu den Prioritäten der Europäischen Union — einschließlich des Mindestlohns — enthielt;

9.

ist der Auffassung, dass ein angemessener Mindestlohn nicht nur zur Beseitigung extremer Armut beiträgt; vielmehr soll er eine Grundsicherung und eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben ermöglichen. Er ist kontextspezifisch und geht über Armutslöhne hinaus, um sicherzustellen, dass die Menschen ihre Grundbedürfnisse befriedigen können;

10.

weist daraufhin, dass auf der Grundlage von Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe b AEUV und in voller Beachtung von Artikel 153 Absatz 5 bereits eine Anzahl von Richtlinien erlassen wurde, die Bestimmungen zum Entgelt enthalten (4);

11.

betont, dass in den Fällen, in denen branchenspezifische Mindestlöhne festgelegt sind, der Grundsatz des gleichen Entgelts für gleichwertige Arbeit geachtet werden muss;

12.

unterstützt ausdrücklich, dass der Richtlinienentwurf keine soziale Mindestharmonisierung vorschreibt. Der Vorschlag der Kommission ist so aufzufassen, dass er ein Regressionsverbot für in den Mitgliedstaaten bestehende höhere als das von der vorgeschlagenen Richtlinie garantierte Schutzniveaus (Artikel 16) enthält;

13.

erkennt an, dass die Kommission in ihrem Richtlinienvorschlag die Mitgliedstaaten, deren Mindestlöhne in Tarifverträgen festgelegt sind, von Kapitel II der Richtlinie über gesetzliche Mindestlöhne ausnimmt;

14.

sieht den europäischen Mehrwert der Kommissionsvorlage darin, dass sie eine Grundlage schafft, um im Dialog mit den Mitgliedstaaten eine Aufwärtskonvergenz der Mindestlöhne in Gang zu setzen;

15.

hebt die starke regionale Dimension der Frage von angemessenen Mindestlöhnen hervor, auch wenn diese in der Kommissionsvorlage nur unzureichend zur Geltung kommt. Die regionale Dimension ergibt sich aus der Existenz regionaler Tarifverträge, aus der starken Wechselwirkung zwischen Mindestgehalt und sozialem und territorialem Zusammenhalt und der Tatsache, dass Gebietskörperschaften auch als Arbeitgeber letztlich für die Lohnbildung je nach den lokalen und regionalen Gegebenheiten verantwortlich sind;

16.

verweist auf die vom AdR in Auftrag gegebene Studie zum Thema „Gerechte Mindestlöhne — die lokale und regionale Perspektive“ (5) und betont insbesondere die Schlussfolgerung, dass eine generelle Einführung regionaler Mindestlöhne aus verschiedenen Gründen nicht unterstützt werden kann, unter anderem aufgrund der institutionellen Rahmenbedingungen, Zuständigkeiten und Traditionen, aufgrund derer Mindestlöhne in erster Linie auf nationaler Ebene festgelegt werden. Gleichzeitig bestehen aber verschiedene Optionen für eine Mitwirkung der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften an der Durchsetzung, Förderung und Überwachung von Mindestlöhnen;

17.

weist auf die erheblichen Unterschiede bei der Zahl der vom Mindestlohn abhängigen Menschen in städtischen und ländlichen Gebieten hin und unterstreicht, dass nach innovativen Ansätze gesucht werden muss, um die Forderung nach Konvergenz hin zu angemesseneren Mindestlöhnen erfüllen zu können, weswegen die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften bei der Bereitstellung der hierfür erforderlichen Mittel in ihren Haushalten, die durch die COVID-19-Pandemie schwer gelitten haben, unterstützt werden müssen;

18.

ist der Auffassung, dass die in Artikel 4 Absatz 2 beschriebene Erstellung von nationalen Aktionsplänen zur Förderung von Tarifverhandlungen in Mitgliedstaaten durch Benennung möglicher Elemente eines solchen Aktionsplans hätte konkretisiert werden können;

19.

stellt grundsätzlich die Frage, ob der der Richtlinie zugrunde liegende Begriff des Arbeitnehmers auf EU-Ebene zu reformieren ist. Die Bezugnahme auf eine Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 1986 (Rechtssache Lawrie Blum) trägt allerdings nicht der Entstehung neuer Arbeitsformen, insbesondere prekärer Formen im Rahmen der Plattformwirtschaft, Rechnung;

20.

erinnert in Zusammenhang mit der Auftragsvergabe an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-115/14 (vom 17. November 2015), dem zufolge das EU-Recht es nicht unmöglich macht, einen Bieter von einem Auftragsvergabeverfahren auszuschließen, der sich weigert, seinen betroffenen Beschäftigten den gesetzlichen Mindestlohn zu zahlen; (6)

21.

unterstreicht, dass im Richtlinienentwurf nicht explizit die Tatsache erwähnt wird, dass das Monitoring zur Umsetzung der Richtlinie mit dem Prozess des Europäischen Semesters verbunden werden könnte, etwa durch eine Anpassung des sozialen Scoreboards; sieht eine solche Option kritisch, solange der Semesterprozess allgemein nicht einer tiefgreifenden Reform hin zu mehr Transparenz, demokratischer Gestaltung (Mitspracherechte für das Europäische Parlament) und partnerschaftlicher Einbindung der Gebietskörperschaften und Sozialpartner unterzogen wird;

22.

ist der Auffassung, dass der Konvergenzprozess zu faireren Mindestlöhnen mit einem Kommissionsvorschlag für Maßnahmen zur Lohntransparenz einhergehen sollte, der u. a. auch ein wichtiges Mittel wäre, um die geschlechtsspezifische Lohnlücke zu schließen und Diskriminierung aus Gründen der ethnischen Zugehörigkeit, des Glaubens, des Alters, einer Behinderung oder der sexuellen Ausrichtung zu verhindern (7).

Brüssel, den 19. März 2021

Der Präsident des Europäischen Ausschusses der Regionen

Apostolos TZITZIKOSTAS


(1)  Siehe Ziffer 31 der AdR-Stellungnahme „Ein starkes soziales Europa für einen gerechten Übergang“ (Berichterstatterin Anne Karjalainen) (ABl. C 440 vom 18.12.2020, S. 42).

(2)  6. Löhne und Gehälter: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht auf eine gerechte Entlohnung, die ihnen einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht. Weiterhin ist darin vorgesehen, dass angemessene Mindestlöhne gewährleistet werden, die vor dem Hintergrund der nationalen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen den Bedürfnissen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familien gerecht werden; dabei werden der Zugang zu Beschäftigung und die Motivation, sich Arbeit zu suchen, gewahrt. Armut trotz Erwerbstätigkeit ist zu verhindern.

Alle Löhne und Gehälter werden gemäß den nationalen Verfahren und unter Wahrung der Tarifautonomie auf transparente und verlässliche Weise festgelegt.

(3)  Eurofound (2017), Erwerbstätigenarmut in der EU, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg.

(4)  Siehe u. a. (1) Richtlinie 2006/54 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (ABl. L 204 vom 26.7.2006, S. 23), (2) Richtlinie 2008/94 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. L 283 vom 28.10.2008, S. 36) und (3) Richtlinie (EU) 2019/1158 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige und zur Aufhebung der Richtlinie 2010/18/EU des Rates (ABl. L 188 vom 12.7.2019, S. 79).

(5)  https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/6f084eaa-879e-11eb-ac4c-01aa75ed71a1/language-en

(6)  Als mit dem EU-Recht übereinstimmend gelten nach diesem Urteil jene Rechtsvorschriften einer regionalen Gebietskörperschaft eines Mitgliedstaats, die den Bietern und ihren Nachunternehmern vorschreiben, sich zur Zahlung eines Mindestentgelts an die Beschäftigten zu verpflichten, die die Leistungen ausführen.

(7)  Siehe Ziffer 32 der AdR-Stellungnahme „Ein starkes soziales Europa für einen gerechten Übergang“ (Berichterstatterin Anne Karjalainen) (ABl. C 440 vom 18.12.2020, S. 42).