11.12.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 429/268


Stellungnahme des Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — ‚Vom Hof auf den Tisch‘ — eine Strategie für ein faires, gesundes und umweltfreundliches Lebensmittelsystem“

(COM(2020) 381)

(2020/C 429/34)

Berichterstatter:

Peter SCHMIDT (DE-II)

Mitberichterstatterin:

Jarmila DUBRAVSKÁ (SK-I)

Befassung

Kommission, 17.6.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

8.7.2020

Verabschiedung im Plenum

16.9.2020

Plenartagung Nr.

554

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

208/4/7

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Ziel der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch — eine Strategie für ein faires, gesundes und umweltfreundliches Lebensmittelsystem“ ist es, die wirtschaftliche, ökologische und soziale Nachhaltigkeit der Lebensmittelsysteme zu stärken. Im Zuge der COVID-19-Krise wurden die Stärke und die Widerstandsfähigkeit des europäischen Agrar- und Lebensmittelsystems erfolgreich auf die Probe gestellt. Damit wurde nachgewiesen, dass die Lebensmittelversorgung in der EU sicher ist, aber auch deutlich, dass die Bereitstellung von Lebensmitteln „vom Hof auf den Tisch“ nicht als selbstverständlich angesehen werden kann. Sie muss als Gelegenheit genutzt werden, die Dynamik der Versorgungskette neu zu gestalten und dauerhafte Verbesserungen für Erzeuger, Verarbeiter und Einzelhändler zu schaffen.

1.2.

Eine umfassende EU-Lebensmittelpolitik sollte nach Auffassung des EWSA Folgendes bewirken: i) wirtschaftliche, ökologische und soziokulturelle Nachhaltigkeit, ii) Integration über Branchen, Politikbereiche und Steuerungsebenen hinweg, iii) inklusive Entscheidungsprozesse und iv) Kombination aus verbindlichen Maßnahmen (Vorschriften und Steuern) und Anreizen (Preisaufschläge, Zugang zu Krediten, Ressourcen und Versicherungen), um die Umstellung auf nachhaltige Lebensmittelsysteme zu beschleunigen. Die vorgeschlagene Strategie spiegelt diese Ziele nicht ausreichend wider.

1.3.

Die Mittel für die GAP dürfen nicht gekürzt oder auf dem derzeitigen Niveau gehalten werden; vielmehr müssen sie im Einklang mit den vorgenannten Zielen aufgestockt werden. Kürzungen der Mittel für die Entwicklung des ländlichen Raums könnten sich nachteilig auswirken, da davon einige der wichtigsten Instrumente zur Unterstützung der Agrarwende betroffen wären. Die im Rahmen des COVID-19-Aufbaupakets vorgeschlagenen zusätzlichen 15 Milliarden EUR sind zwar begrüßenswert und notwendig, ersetzen aber keine langfristigen Verpflichtungen.

1.4.

Die Genehmigung der GAP-Strategiepläne sollte davon abhängig gemacht werden, dass die Mitgliedstaaten umfassende Pläne zur Umgestaltung der Rahmenbedingungen für den Lebensmittelverbrauch verabschieden, in denen Anreize für eine gesunde und nachhaltige Lebensmittelerzeugung mit der Schaffung neuer Märkte für diese Erzeugnisse verknüpft werden.

1.5.

Faire Lebensmittelpreise (die die tatsächlichen Produktionskosten für Umwelt und Gesellschaft widerspiegeln) sind die einzige Möglichkeit, langfristig nachhaltige Lebensmittelsysteme zu erreichen. Die EU und die Mitgliedstaaten sollten Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die Erzeugerpreise über den Produktionskosten liegen und dass eine gesunde Ernährung leichter verfügbar wird. Dazu wird es erforderlich sein, die gesamte Bandbreite der staatlichen Steuerungsinstrumente (von harten steuerlichen Maßnahmen bis hin zu informationsgestützten Konzepten) einzusetzen, um die tatsächlichen Kosten sichtbar zu machen.

1.6.

Billigimporte bringen häufig hohe soziale und ökologische Kosten in Drittländern mit sich. Ohne Änderungen in der Handelspolitik der EU werden die Gesamtziele der Strategie nicht erreicht. Der Ausschuss fordert die EU nachdrücklich auf, in Präferenzhandelsabkommen für eine echte Gegenseitigkeit der Standards zu sorgen.

1.7.

In der Strategie wird jedoch nicht auf die nachhaltige Landbewirtschaftung und den Zugang zu Land eingegangen. Dies ist ein großes Versäumnis, da es eines der Haupthindernisse für den Generationenwechsel in der landwirtschaftlichen Bevölkerung darstellt — ohne diesen Wechsel geht jedoch die Grundlage für eine nachhaltige und produktive Landwirtschaft in der EU verloren.

1.8.

Für die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Erreichung der in der Strategie festgelegten Einzelziele sollte eine Folgenabschätzung durchgeführt werden, wobei der aktuellen Situation in jedem Mitgliedstaat Rechnung zu tragen ist.

1.9.

Der Vorschlag, einen Europäischen Rat für Ernährungspolitik einzusetzen, den der EWSA in früheren Stellungnahmen unterbreitet hat, sollte geprüft werden (einschließlich seiner finanziellen Tragfähigkeit). Auf lokaler Ebene gibt es bereits Ernährungsräte, die verschiedene Interessenträger des Lebensmittelsystems aus einem bestimmten Bereich zusammenbringen, um Herausforderungen zu bewältigen, Städte wieder an die Lebensmittelerzeugung in den umliegenden Gebieten anzubinden und eine wirksame Steuerung der lokalen und regionalen ernährungspolitischen Maßnahmen sicherzustellen.

2.   Einleitung

2.1.

Die Mitteilung der Europäischen Kommission „Vom Hof auf den Tisch — eine Strategie für ein faires, gesundes und umweltfreundliches Lebensmittelsystem“ (F2F) ist ein Schlüsselelement des europäischen Grünen Deals. Ihr Ziel ist es, einen Beitrag zur europäischen Klimaschutzagenda zu leisten, die Umwelt zu schützen und die biologische Vielfalt zu erhalten, die Position der Landwirte und Fischer in der Wertschöpfungskette zu sichern, einen nachhaltigen Lebensmittelverbrauch sowie bezahlbare und gesunde Lebensmittel für alle zu fördern, ohne die Sicherheit, Qualität und Erschwinglichkeit von Lebensmitteln zu beeinträchtigen. Es handelt sich um die erste Strategie der EU, die die gesamte Lebensmittelkette abdecken soll.

2.2.

Aufgrund der COVID-19-Pandemie ist es dringlicher denn je, die Widerstandsfähigkeit der Lebensmittelsysteme in der EU und weltweit zu erhöhen, da sie durch künftige Krisen — vom Klimawandel bis hin zu neuen Krankheitsausbrüchen und Arbeitskräftemangel — noch weiter auf die Probe gestellt werden dürfte (1). Die Pandemie hat deutlich gemacht, dass die Bereitstellung von Lebensmitteln „vom Hof auf den Tisch“ nicht als selbstverständlich angesehen werden kann, und sie hat auch gezeigt, wie sehr die Akteure und Aktivitäten in der Landwirtschaft und im gesamten Lebensmittelsystem miteinander verflochten sind. Sie erfordert Maßnahmen zur Krisenbewältigung sowie Schritte, um langfristig die Erholung und den Wiederaufbau zu gewährleisten. In der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ und der EU-Biodiversitätsstrategie wird zu Recht anerkannt, dass die Widerstandsfähigkeit nach der COVID-19-Pandemie gestärkt werden muss, indem die wirtschaftliche, ökologische und soziale Nachhaltigkeit der Lebensmittelsysteme verbessert wird. Jetzt ist von entscheidender Bedeutung, dass diese Strategien in zweckmäßige und rechtzeitige Maßnahmen umgesetzt werden.

2.3.

In der gesamten EU haben Landwirte bereits Schritte unternommen, um die Nachhaltigkeit zu verbessern und die Standards weiter anzuheben. Landwirte und Beschäftigte im Lebensmittelsystem (Landwirtschaft, Verarbeitung und Vertrieb) stehen in der COVID-19-Krise an vorderster Front und gewährleisten eine unterbrechungsfreie Lebensmittelversorgung aller europäischen Bürgerinnen und Bürger; sie sind systematisch mit Risiken konfrontiert, haben aber weiterhin nur einen geringen Anteil an der Wertschöpfung im Lebensmittelsystem. Es muss allerdings auch zukünftig von den Landwirten erwartet werden, dass sie noch weit mehr als bisher zur Nachhaltigkeit und Resilienz beitragen. Angesichts der ökonomisch schwierigen Lage, in der sich der absolut überwiegende Teil der Landwirte derzeit befindet, kann es aber diese notwendigen grundlegenden Änderungen nur geben, wenn die richtigen politischen und wirtschaftlichen Anreize gesetzt werden; der EWSA sieht nicht, dass die GAP-Reformvorschläge zielführende Schritte in diese Richtung sind. Deshalb müssen unbedingt wesentlich bessere Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die in der EU lokal und nachhaltig erzeugten Lebensmittel im Verhältnis zu Importen wettbewerbsfähig sind (2) und dass die Kosten und Vorteile der Agrarwende nicht nur gerecht verteilt werden (zwischen verschiedenen sozialen Gruppen, Branchen und Regionen sowie zwischen heutigen und künftigen Generationen), sondern dass die Gelder auch zielgerichtet einer nachhaltigen Landwirtschaft zugutekommen. Die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ muss als Chance genutzt werden, die Dynamik der Versorgungskette grundlegend neu zu gestalten und die Einkommen und Lebensgrundlagen der Landwirte nachhaltig zu verbessern. Der EWSA bekräftigt, dass der europäische Grüne Deal in allen seinen Komponenten ein Grüner und Sozialer Deal sein muss.

2.4.

Was Importe von landwirtschaftlichen Rohprodukten sowie Lebensmitteln angeht, hätte der EWSA eine ähnlich klare Aussage im Rahmen der F2F-Strategie erwartet, wie es die Kommission mit der Ankündigung eines CO2-Grenzausgleichs bei Industrieprodukten getan hat, denn unsere Landwirte (und auch die Verbraucher) müssen vor Importen geschützt werden, die nicht den europäischen Nachhaltigkeitskriterien entsprechen. Dies gilt umso mehr, als klar ist, dass unsere jetzigen Standards noch erhöht werden müssen. Hier versagt aber die F2F vollends.

2.5.

Der EWSA begrüßt die Veröffentlichung der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ als maßgebliche Gelegenheit zur Verwirklichung der oben beschriebenen Gesamtziele. In dieser Stellungnahme benennt der EWSA eine Reihe von Lücken in der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ und dem einschlägigen Aktionsplan (im Hinblick auf die Zielsetzungen des europäischen Grünen Deals und die eigenen Vorschläge des Ausschusses für eine umfassende Lebensmittelpolitik (3)). Darüber hinaus gibt er Orientierungshilfen zur Frage, wie die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ vorangebracht und in einen effektiven Fahrplan für die Agrarwende übertragen werden kann.

3.   Grundlagen für eine wirksame Strategie „Vom Hof auf den Tisch“: Steuerung, Rechenschaftspflicht, Ziele und Mittel

3.1.

Seit 2016 fordert der EWSA die Ausarbeitung einer umfassenden Lebensmittelpolitik in der EU mit dem Ziel, eine gesunde Ernährung auf der Grundlage nachhaltiger Lebensmittelsysteme zu gewährleisten, die Landwirtschaft mit Ernährungs- und Ökosystemleistungen zu verknüpfen und Versorgungsketten sicherzustellen, mit denen die Gesundheit der gesamten Bevölkerung in Europa geschützt wird (4). Außerdem ist ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis mit dem Ziel entstanden, im Rahmen eines dreijährigen Prozesses unter Federführung von IPES-Food einen detaillierten Plan für eine „gemeinsame Lebensmittelpolitik“ für die EU zu entwickeln (5).

3.2.

Im Einklang mit den Empfehlungen in den vorgenannten Dokumenten sollte eine umfassende EU-Lebensmittelpolitik Folgendes bewirken: i) wirtschaftliche, ökologische und soziokulturelle Nachhaltigkeit, ii) Integration über Branchen, Politikbereiche und Steuerungsebenen hinweg, iii) inklusive Entscheidungsprozesse und iv) Kombination aus verbindlichen Maßnahmen (Vorschriften und Steuern) und Anreizen (Preisaufschläge, Zugang zu Krediten, Ressourcen und Versicherungen), um die Umstellung auf nachhaltige Lebensmittelsysteme zu beschleunigen. Diese Politik sollte darauf abzielen, die Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft anzukurbeln sowie Umweltauswirkungen der Lebensmittelverarbeitung und des Einzelhandels durch Maßnahmen in den Bereichen Transport, Lagerung, Verpackung und Lebensmittelverschwendung zu verringern. Sie sollte zudem so ausgestattet sein, dass sie der neuen Situation nach der COVID-19-Pandemie gerecht wird, insbesondere der Notwendigkeit, das Krisenmanagement zu verbessern und die Arbeitsbedingungen in der gesamten Lebensmittelkette noch sicherer und gerechter zu machen.

3.3.

In der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ und dem einschlägigen Aktionsplan werden zwar viele relevante Instrumente genannt, doch fehlt es hier an wirksamen Steuerungsstrukturen. Zunächst müssen die Maßnahmen entsprechend einer Reihe zielorientierter Vorgaben kategorisiert werden, die für jene Lebensmittelsysteme gelten, die die EU mittel- und langfristig einrichten möchte (6). Diese Vorgaben dürfen sich nicht nur auf bestimmte Teile der Kette beziehen, sondern müssen bereichsübergreifend sein (7). Dies ist entscheidend, um i) die Notwendigkeit von die gesamte Kette umfassenden Konzepten und einer fairen Kostenteilung herauszustellen und dergestalt die Herausforderungen im Agrarsektor zu bewältigen; ii) um eine Priorisierung unterschiedlicher Lösungen zu ermöglichen und einen „à la carte“-Ansatz zu vermeiden, der inkompatible Lösungen umfasst; iii) sicherzustellen, dass im Falle einer Verzögerung oder Störung der ursprünglich geplanten Maßnahmen alternative Lösungen (mit gleichwertiger Wirkung) eingeführt werden; iv) zu gewährleisten, dass die quantitativen und qualitativen Ziele durch das gesamte Paket der für ihre Verwirklichung notwendigen Maßnahmen flankiert werden (und dass diese Ziele damit erreichbar sind) und neue Einzelziele hinzuzufügen, wenn dies notwendig ist, um das gesteckte Gesamtziel zu erreichen; v) eine solide Grundlage zu schaffen, um die Übereinstimmung zwischen verschieden sektorspezifischen Maßnahmen (z. B. GAP, Handel, Umwelt, Gesundheitsentwicklung und Lebensmittelsicherheit) und der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ zu gewährleisten.

3.4.

Im Interesse der Effizienz muss die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ von einem klaren Rahmen mit Einzelzielen, Indikatoren und einem stabilen Überwachungsmechanismus flankiert werden, ohne den bürokratischen Aufwand zu erhöhen. Der EWSA hat bereits empfohlen, einen EU-Anzeiger für nachhaltige Lebensmittel zu entwickeln, der es ermöglicht, die Herausforderungen für die Lebensmittelsysteme mit einem mehrjährigen Ansatz zu bewältigen und so die Angleichung der Maßnahmen auf den verschiedenen Steuerungsebenen zu fördern. Der Anzeiger sollte Indikatoren umfassen, mit denen Fortschritte bis zur Erreichung der festgelegten Einzelziele gefördert und überwacht werden (8).

3.5.

Eine wirksame Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ sollte durch die Landwirtschaft verursachte kostspielige externe Effekte verringern und sicherstellen, dass alle Landwirte auf den Märkten eine gerechte Entlohnung erhalten; sie wird deshalb auf lange Sicht sehr kosteneffizient sein. Die Umstellung auf nachhaltige und wettbewerbsfähige Lebensmittelsysteme erfordert jedoch sofortige Investitionen. Insbesondere sind erhebliche Anstrengungen und Kapitalinvestitionen nötig, um die im europäischen Grünen Deal festgelegten Niveaus der Klima- und Umweltmaßnahmen zu erreichen und die Landwirte bei der Umsetzung nachhaltiger Konzepte zu unterstützen. Diese Ziele können nicht erreicht werden, wenn maßgebliche Finanzierungsströme unterbrochen sind. Kürzungen der Mittel für die Entwicklung des ländlichen Raums könnten sich nachteilig auswirken, da davon einige der wichtigsten Instrumente zur Unterstützung der Agrarwende betroffen wären, wie in der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ dargelegt. Der Ausschuss bekräftigt ferner, dass 10 Milliarden Euro für die Forschung in den Bereichen Landwirtschaft, ländliche Entwicklung und Bioökonomie bereitgestellt werden sollten, so wie es die Europäische Kommission in ihren Vorschlägen für den mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021-2027 vorgesehen hat. Die im Rahmen des COVID-19-Aufbaupakets vorgeschlagenen zusätzlichen 15 Milliarden Euro für die Entwicklung des ländlichen Raums und die Agrar- und Ernährungsforschung sind zwar begrüßenswert und notwendig, ersetzen aber keine langfristigen Verpflichtungen.

3.6.

Ein breites Spektrum von Interessenträgern aus allen Bereichen der Lebensmittelsysteme muss bei der Überwachung der Entwicklung und Umsetzung der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ mitwirken können. Zwar sollte der Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den bestehenden Gremien Vorrang eingeräumt werden, doch wird eine spezielle „Multi-Stakeholder-Governance“-Struktur erforderlich sein. Bei der Prüfung der Optionen sollte sichergestellt werden, dass diese neue Steuerungsstruktur: i) auf demokratischen und inklusiven Ansätzen im Einklang mit den bewährten Verfahren der bestehenden Gremien — insbesondere der Multi-Stakeholder-Plattform zur Umsetzung der Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung —beruhen, ii) ein klares Mandat hat, einschließlich der Untersuchung der Frage, wie sehr sektorspezifische Maßnahmen wie die GAP mit der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ im Einklang stehen, und iii) eine starke und vielfältige Vertretung landwirtschaftlicher Verbände, der Zivilgesellschaft (u. a. EU-, nationaler und Basisorganisationen) und von Akteuren der Versorgungskette umfasst. Es gilt eine Situation zu vermeiden, in der die Interessen des Agrarsektors nur auf die GAP und die der Zivilgesellschaft nur auf die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ gerichtet sind; Spannungen muss begegnet werden, und alle Interessenträger müssen sich auf einen Weg hin zur Agrarwende einigen.

3.7.

Der Vorschlag, einen Europäischen Rat für Ernährungspolitik (9) einzusetzen, den der EWSA in früheren Stellungnahmen unterbreitet hat, sollte geprüft werden (einschließlich seiner finanziellen Tragfähigkeit). Dieser Europäische Rat für Ernährungspolitik sollte bezüglich der Umsetzung der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ konsultiert werden. Seine Einsetzung sollte so bald wie möglich erfolgen. Auf lokaler Ebene gibt es bereits Ernährungsräte, die verschiedene Interessenträger des Lebensmittelsystems aus einer Region zusammenbringen, um Herausforderungen zu bewältigen, Städte wieder an die Lebensmittelerzeugung in den umliegenden Gebieten anzubinden und eine wirksame Steuerung der lokalen und regionalen ernährungspolitischen Maßnahmen sicherzustellen (10). Wie die COVID-19-Krise gezeigt hat, hängen widerstandsfähige Versorgungsketten von effektiven Maßnahmen auf der lokalen Ebene ab, wo die Zivilgesellschaft mit Partnern aus Staat und Wirtschaft zusammenarbeiten kann, um die Lücken in der Lebensmittelversorgung zu schließen (11). Ein Europäischer Rat für Ernährungspolitik würde die Angleichung der politischen Maßnahmen auf europäischer, nationaler und lokaler Ebene (d. h. Multi-Level-Governance) beschleunigen. Er würde Vertreter der lokalen Ernährungsräte und Interessenträger der Zivilgesellschaft und der gesamten Lebensmittelkette (einschließlich Landwirten, Arbeitnehmern und Verbrauchern) zusammenbringen und so eine Plattform bieten, damit die Interessenträger durch den Austausch bewährter Verfahren voneinander lernen, alle Standpunkte der verschiedenen Sektoren Berücksichtigung finden und Hindernisse bei der Förderung einer nachhaltigen Lebensmittelpolitik auf lokaler Ebene ermittelt werden.

4.   Schlüsselbereiche, in denen weitere Maßnahmen erforderlich sind

4.1.   Gesunde und nachhaltige Ernährung

4.1.1.

Eine gesunde und nachhaltige Ernährung bildet eine zentrale Säule einer umfassenden Lebensmittelpolitik, da wir unsere Ernährung dringend so umstellen müssen, dass sie die Gesundheit sowohl der Ökosysteme als auch der Menschen sowie die Vitalität der ländlichen Gebiete stärkt (12). In der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ wird anerkannt, dass zum einen gewährleistet werden muss, dass die gesunden und nachhaltigen Optionen auch die einfachsten (d. h. allgemein zugänglichen und erschwinglichen) Optionen für die Verbraucher sind und dass zum anderen die Entscheidungen der Menschen für ein bestimmtes Lebensmittel von bestimmten Rahmenbedingungen (food environments) abhängen.

4.1.2.

Die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ könnte die einzigartige Gelegenheit bieten, die Rahmenbedingungen für den Lebensmittelverbrauch neu zu gestalten, weshalb eine Reihe unterschiedlicher Maßnahmen auf Angebots- und Nachfrageseite sowie auf europäischer, nationaler und lokaler Ebene aufeinander abgestimmt werden müssen. Dazu zählen Schritte mit dem Ziel: i) der Vermarktung und Bewerbung ungesunder Lebensmittel gesetzlich entgegenzuwirken, ii) nutzerfreundliche, verlässliche und unabhängige Verbraucherinformationen zu gewährleisten, iii) eine gesundheitsorientierte Preisgestaltung einzuführen, iv) eine nachhaltige öffentliche Lebensmittelbeschaffung zu unterstützen, v) die (Neu-)Zusammensetzung von Produkten zu fördern, vi) gesunde Angebote im Einzelhandel, in der Gastronomie, in städtischen Umgebungen und in Schulen zu schaffen und vii) in die Verbraucherbildung zu investieren. Diese Schritte müssen durch sozialpolitische Maßnahmen ergänzt werden, um sicherzustellen, dass einkommensschwache und benachteiligte Gruppen besseren Zugang zu einer gesunden und nachhaltigen Ernährung erhalten.

4.1.3.

Die Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ und der einschlägige Aktionsplan enthalten jedoch keine umfassenden Maßnahmen in diesen Politikbereichen und stützen sich auf Verhaltenskodizes, Zusagen und andere Selbstregulierungsinstrumente (13), die sich bislang als unwirksam erwiesen haben. Die Absicht der Europäischen Kommission, Empfehlungen an die Mitgliedstaaten (im Rahmen der GAP-Strategiepläne) zu der Frage auszusprechen, wie die Gesamtziele der GAP und der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ (einschließlich der Gesundheitsziele) erreicht werden können, wird begrüßt. Im Bereich der Ernährung können die Maßnahmen jedoch nicht fakultativ sein. Die Genehmigung der GAP-Strategiepläne sollte davon abhängig gemacht werden, dass die Mitgliedstaaten umfassende Pläne zur Umgestaltung der Rahmenbedingungen für den Lebensmittelverbrauch verabschieden, in denen Anreize für eine gesunde und nachhaltige Lebensmittelerzeugung mit der Schaffung neuer Märkte für diese Erzeugnisse verknüpft werden. Dies stünde auch im Einklang mit der Verpflichtung der Kommission, die Erzeugung und den Verbrauch ökologischer/biologischer Lebensmittel zu fördern.

4.1.4.

Was verlässliche Informationen und Empfehlungen zu Ernährungsfragen betrifft, so hat der EWSA die Entwicklung neuer Leitlinien für eine nachhaltige Ernährung gefordert, die den kulturellen und geografischen Unterschieden zwischen den und innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung tragen. Diese Leitlinien sollten dazu beitragen, Agrarbetrieben, Verarbeitern, Einzelhändlern und Gastronomiedienstleistern eine klarere Richtung vorzugeben, wobei das Agrar- und Lebensmittelsystem von einem neuen Rahmen für Erzeugung, Verarbeitung, Vertrieb und Verkauf gesünderer und nachhaltigerer Lebensmittel zu einem gerechteren Preis profitieren würde (14).

4.2.   Eine faire Lebensmittelversorgungskette mit fairen Preisen

4.2.1.

Der EWSA hat bereits ein Verbot aller unlauteren Handelspraktiken gefordert (15). Aufgrund der starken Ungleichgewichte zwischen kleinen und großen Marktteilnehmern sowie zwischen Erzeugern mit längerfristigen Verpflichtungen und flexibleren Marktteilnehmern ist die Lebensmittelversorgungskette besonders anfällig für unlautere Handelspraktiken. Ein Regulierungsansatz und ein Rechtsrahmen mit wirksamen und verlässlichen Durchsetzungsmechanismen sind der Weg, um auf EU-Ebene effektiv gegen unlautere Handelspraktiken vorzugehen.

4.2.2.

In der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ wird zu Recht die wichtige Arbeit der Landwirte und Arbeitnehmer in der Lebensmittelkette (einschließlich derjenigen, die unter prekären Bedingungen arbeiten) anerkannt, und es wird festgestellt, dass ihre Gesundheit und Sicherheit im Einklang mit den Verpflichtungen im Rahmen der europäischen Säule sozialer Rechte gewährleistet werden müssen. Der Ausschuss bedauert jedoch, dass dies nicht mit konkreten Schritten im Aktionsplan einhergeht. Darüber hinaus bedauert der EWSA, dass versäumt wurde, faire Bedingungen mit fairen Lebensmittelpreisen zu verknüpfen. Er ist der Auffassung, dass faire Lebensmittelpreise (die die tatsächlichen Produktionskosten für Umwelt und Gesellschaft widerspiegeln) die einzige Möglichkeit sind, langfristig nachhaltige und gerechte Lebensmittelsysteme zu erreichen. Derzeit erzielen die großen Einzelhandelsunternehmen und die multinationalen Verarbeitungsunternehmen die höchsten Profite, während die Erzeugerpreise zu niedrig sind, um den Lebensunterhalt der Landwirte und anständige Arbeitsbedingungen zu garantieren — und mitunter decken sie nicht einmal die Produktionskosten. Der Anteil der Landwirte an der Wertschöpfung in der Lebensmittelkette ist in der EU von 31 % im Jahr 1995 auf 24 % im Jahr 2005 (16) zurückgegangen und beträgt in jüngster Zeit Schätzungen zufolge ca. 21 % (17). Eine enge Auslegung des EU-Wettbewerbsrechts, bei der das Wohl der Verbraucher mit dem geringstmöglichen Preis gleichgesetzt wird, hat es ermöglicht, die Erzeugerpreise zu drücken. Dies muss geändert werden, auch in den EU-Verträgen.

4.2.3.

Im Rahmen der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ sollten die EU und die Mitgliedstaaten mit umfassenden Maßnahmen sicherstellen, dass die Erzeugerpreise über den Produktionskosten liegen und dass eine gesunde und nachhaltige Ernährung relativ gesehen erschwinglicher und leichter verfügbar wird. Zu diesem Zweck wird es erforderlich sein, die gesamte Bandbreite der staatlichen Steuerungsinstrumente (von harten steuerlichen Maßnahmen bis hin zu informationsgestützten Konzepten) einzusetzen, um die tatsächlichen Kosten mithilfe der besten neuen Methoden der Kostenwahrheit sichtbar zu machen (18). Der EWSA bekräftigt, wie wichtig Investitionen in die Aufklärung über nachhaltige Ernährung von früher Kindheit an sind, damit junge Menschen den Wert von Lebensmitteln und fairen Preisen schätzen lernen. Besondere Aufmerksamkeit gebührt dabei benachteiligten Gruppen, insbesondere älteren Menschen und Personen mit niedrigem Einkommen. Es sollten auch neuartige Kennzeichnungen geprüft werden, die den Anteil der Landwirte an der Wertschöpfung veranschaulichen. Alle Schritte, die sich auf die Preise auswirken, sollten sorgfältig geplant werden, um plötzliche Änderungen zu vermeiden. Dabei sollten außerdem die Auswirkungen auf einkommensschwache Familien geprüft werden (19), um sicherzustellen, dass der Zugang dieser Personen zu gesunder Ernährung infolge der politischen Maßnahmen nicht schlechter, sondern besser wird.

4.2.4.

Bauernmärkte, solidarische Landwirtschaft, Konsumgenossenschaften und andere Initiativen für kurze Versorgungsketten bieten den Landwirten eine entscheidende Möglichkeit, die Wertschöpfung zu steigern und faire Preise zu erhalten. Dies gilt besonders für Erzeuger, die ökologischen/biologischen Landbau betreiben oder andere, nicht mit einem Siegel ausgezeichnete umweltfreundliche Methoden anwenden. Häufig sind an diesem Prozess die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften beteiligt: Sie steuern die Ernährungs- bzw. Lebensmittelpolitik auf lokaler Ebene, beziehen dazu die relevanten Akteure ein und fördern insbesondere die Nutzung lokaler Erzeugnisse in der Gemeinschaftsverpflegung. Der EWSA bedauert, dass seine früheren Stellungnahmen in diesem Punkt seitens der Kommission nicht berücksichtigt wurden.

4.2.5.

Diese Relokalisierung fördert die Beschäftigung und lokale Dynamik. Sie erhöht auch die Widerstandsfähigkeit, wie die Reaktionen auf COVID-19 auf allen Ebenen der Versorgungskette (Erzeuger, Verarbeiter und Einzelhändler) zeigen. So sind etwa Konsumgenossenschaften in ländlichen Gebieten gewöhnlich die letzten noch präsenten Wirtschaftsakteure. Die Verbraucher verfügen dank kurzer Versorgungsketten über eine Quelle frischer und hochwertiger Erzeugnisse, deren Mehrwert in ihrer Geschichte und den Beziehungen zwischen den beteiligten Akteuren besteht. Außerdem werden damit das Interesse und das Wissen der Menschen über den Wert von Lebensmitteln gefördert sowie das Vertrauen in die Lebensmittelsysteme wiederhergestellt (20). Auf Solidarität beruhende Genossenschaftsinitiativen spielen auch eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von Lehrmaterialien für Schulen und intensiven Sensibilisierungsmaßnahmen zur Bekämpfung von Lebensmittelverschwendung und Adipositas (insbesondere bei Kindern). Während die Vorzüge kurzer Versorgungsketten in der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ anerkannt werden, sind konkrete Maßnahmen und Mittelzuweisungen (einschließlich der GAP-Strategiepläne) notwendig, um diese Ketten weiterzuentwickeln und alles zu beseitigen, was ihren Fortschritt in der gesamten EU erschwert.

4.3.   Stärkung der externen Dimension der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“

4.3.1.

Ohne Änderungen in der Handelspolitik der EU werden die Gesamtziele der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ nicht erreicht. Die Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ und der einschlägige Aktionsplan enthalten wichtige Schritte zur Stärkung der Nachhaltigkeitsbestimmungen der bilateralen Freihandelsabkommen der EU und zur Durchsetzung dieser Vorschriften. Allerdings kann, wie von den französischen und niederländischen Behörden angemerkt (21)‚ mehr getan werden, um die Einhaltung internationaler Abkommen sicherzustellen und die Verfahren für die Meldung und Verfolgung von Verstößen gegen die Nachhaltigkeitsverpflichtungen zu straffen. Darüber hinaus fordert der EWSA die EU nachdrücklich dazu auf, in Präferenzhandelsabkommen für eine echte Gegenseitigkeit der Standards zu sorgen, insbesondere in puncto Tierwohl, Nachhaltigkeit und Rückverfolgbarkeit von Produkten vom Erzeuger zum Verbraucher, wobei die Ergebnisse einer Reihe bilateraler Bestimmungen aus jüngster Zeit als Grundlage herangezogen und durchgängig berücksichtigt werden sollten (22). Eine CO2-Grenzsteuer, wie sie im Mandatsschreiben an den designierten Exekutiv-Vizepräsidenten mit Zuständigkeit für den europäischen Grünen Deal gefordert wurde (23)‚ ist nach wie vor entscheidend, um zu verhindern, dass Landwirte und Lebensmittelunternehmen aus der EU durch Einfuhren aus Ländern unterboten werden, die den Klimaschutz nicht ernst nehmen. Das Schweigen in Bezug auf die CO2-Grenzsteuer, die Bepreisung von CO2-Emissionen und die Überwachung der Treibhausgasemissionen von Einfuhren ist daher bedauerlich und unterminiert die Ziele der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ und des Grünen Deals.

4.3.2.

In der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ werden weder die Auswirkungen der EU-Exporte auf Kleinerzeuger in Entwicklungsländern noch die Rolle multinationaler Unternehmen mit Sitz in der EU bei der Ausbreitung nicht nachhaltiger Praktiken in der ganzen Welt anerkannt. Im Mittelpunkt neuer Durchsetzungskapazitäten müssen zuallererst die in der EU ansässigen Unternehmen stehen, die dafür verantwortlich sein müssen, dass es in ihren Lieferketten nicht zu Fällen von Entwaldung, Landnahme und Rechtsverletzung kommt. Der EWSA begrüßt daher die Zusage von Justizkommissar Reynders, verbindliche Menschenrechts- und Umweltschutzanforderungen für EU-Unternehmen einzuführen, und fordert, dass zusätzliche sektorspezifische Maßnahmen im Rahmen der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ in Betracht gezogen werden. Wie das Europäische Parlament festgestellt hat (24)‚ sind Sorgfaltspflichten besonders dringlich für die Akteure der Lieferketten für Rohstoffe (z. B. Rindfleisch, Soja, Palmöl), deren Gewinnung den Wald gefährdet.

4.3.3.

Vor allem aber trägt die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ den Kreisläufen der globalen Agrarmärkte sowie dem Einfluss nicht Rechnung, den der Umfang des Handels sowohl auf die importierenden als auch die exportierenden Länder hat. Sie bietet eine entscheidende Gelegenheit, die außenpolitischen Ziele der EU im Einklang mit den Zielen der Mitteilung der Europäischen Kommission „Handel für alle“ (25) neu festzulegen. Diese langfristigen Überlegungen fehlen in der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“. Freihandelsabkommen tragen weiterhin zu einem nicht nachhaltigen Anstieg des Verbrauchs bei — mit enormen Folgen für die Umwelt in Drittländern, insbesondere in Form von Entwaldung (26). Die kontinuierliche Ausweitung des Handelsvolumens als übergeordnetes Ziel der EU-Politik muss in Frage gestellt werden (insbesondere in Branchen mit hohen Treibhausgasemissionen und in strategischen Branchen, in denen infolge von COVID-19 eine breite Palette robuster Lieferketten erforderlich ist). Außerdem müssen neue Wege gefunden werden, um Standards anzuheben, nachhaltige Methoden zu fördern und sicherzustellen, dass Kleinlandwirte in der EU und in Entwicklungsländern neue Möglichkeiten für eine nachhaltige Erzeugung nutzen können. Diese Überlegungen sollten in multilateralen Foren wie dem Ausschuss der Vereinten Nationen für Welternährungssicherheit (CFS) und dem Codex Alimentarius fortgeführt werden, anstatt auf bilaterale Verhandlungen beschränkt zu bleiben, in denen die Beteiligung der Landwirte und der Zivilgesellschaft begrenzt ist, erhebliche Machtungleichgewichte existieren und die Liberalisierung des Handels nach wie vor das oberste Ziel darstellt. Der geplante Rechtsrahmen für nachhaltige Lebensmittelsysteme kann dabei als Ausgangspunkt dienen. In erster Linie muss mit ihm eine klare Definition nachhaltiger Lebensmittelsysteme im Einklang mit den bestehenden EU-Definitionen der ökologischen Nachhaltigkeit (27) geschaffen werden.

4.4.   Unterstützung der Landwirte bei der Umstellung auf widerstandsfähige und vielfältige agrarökologische Systeme

4.4.1.

Die Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ und die Biodiversitätsstrategie enthalten wichtige Schritte zur Wiederherstellung und zum Schutz von Böden und Agrarökosystemen, insbesondere die Ziele, dass landwirtschaftliche Flächen Landschaftselemente mit großer biologischer Vielfalt aufweisen (10 %) und ökologisch/biologisch bewirtschaftet (25 %) werden sollen. Allerdings sollte die Ausgangslage der einzelnen Mitgliedstaaten berücksichtigt werden. In der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ wird nicht auf die nachhaltige Landbewirtschaftung und den Zugang zu Land eingegangen. Dies ist ein großes Versäumnis, da es eines der Haupthindernisse für den Generationenwechsel in der landwirtschaftlichen Bevölkerung darstellt — ohne diesen Wechsel geht jedoch die Grundlage für eine nachhaltige und produktive Landwirtschaft in der EU verloren. Der EWSA hat daher einen EU-Rahmen vorgeschlagen, um die für die Lebensmittelerzeugung wertvollen landwirtschaftlichen Flächen in den Mitgliedstaaten zu schützen (28). Diese lobenswerten Zwecke würden jedoch eine angemessene finanzielle Unterstützung erfordern, die in den derzeitigen Haushaltsvorschlägen fehlt. Die Mitteilung enthält auch keine Hinweise dazu, wie die Nachfrage nach ökologischen/biologischen Erzeugnissen weiter erhöht werden sollte. Die Erreichung des Ziels in Bezug auf die Landschaftselemente wird für einige Landwirte mit sehr hohen Kosten verbunden sein. Der EWSA fordert eine Folgenabschätzung bezüglich der Umsetzung dieses Ziels.

4.4.2.

Der EWSA hält die Agrarökologie für ein langfristiges Ziel, an dem sich die europäische Landwirtschaft ausrichten sollte (29), was einen Paradigmenwechsel erfordert‚ der die Vielfalt auf allen Ebenen (Arten, Agrarbetriebe, Landschaften und Existenzgrundlagen) fördert. Als Wissenschaft, Verfahren und soziale Bewegung betrachtet die Agrarökologie das Lebensmittelsystem ganzheitlich und strebt an, den Erzeuger seiner Umwelt anzunähern und dabei die Komplexität und den Reichtum des Agrar-Öko-Sozialsystems zu bewahren bzw. wiederherzustellen. In der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ wird die Agrarökologie indes nach wie vor als Nischenoption behandelt, die neben anderen Optionen durch Forschungsstrategien und Öko-Regelungen der GAP unterstützt werden sollte. Mithin wird nicht der Tatsache Rechnung getragen, dass die Landwirtschaft in der gesamten EU neu gestaltet und neu diversifiziert werden muss, obwohl eine solche Änderung notwendig ist, um die gesteckten (Einzel-)Ziele der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ und der Biodiversitätsstrategie (einschließlich der Reduktionsziele für Pestizide, Düngemittel und Antibiotika) zu erreichen.

4.4.3.

Der EWSA drängt neben der beschriebenen Entwicklung des ökologischen Landbaus auch darauf, andere Anbaumethoden, die die Erhöhung der Biodiversität und eine Reduktion des Betriebsmitteleinsatzes bewirken, stärker zu untersuchen und zu fördern. Dazu kann auch die Präzisionslandwirtschaft gehören, wobei hier die hohen Investitionskosten bedacht werden müssen; diese allein werden von vielen kleinen und mittleren Agrarbetrieben nicht aufgebracht werden können. Das Potenzial von ressourcenschonenden, boden- und umweltfreundlichen Anbaumethoden kann durch die Integration von Boden-, Dünge-, Pflanzenschutz- und Ertragsdaten ausgeschöpft werden, was einen besseren Zugang zu den in nationalen Datenbanken enthaltenen Daten, mehr Mobilität, eine größere Benutzerfreundlichkeit usw. voraussetzt. Der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien sollte gefördert werden.

4.4.4.

Angesichts der COVID-19-Pandemie ist es dringlicher denn je, die Viehwirtschaft so umzustrukturieren, dass ihre Schwachstellen und ihre Auswirkungen auf Arbeitnehmer, Umwelt und Tierschutz reduziert werden. Die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ wird dieser Herausforderung allerdings absolut nicht gerecht. Sie müsste zum Beispiel Maßnahmen beschreiben und umfassen, um die Abhängigkeit von importierten Eiweißfuttermitteln verringern und um die Viehzucht wieder in gemischte agrarökologische Systeme zu integrieren. Seit Jahren wird in Europa z. B. politisch über eine europäische Eiweißstrategie philosophiert, doch nichts ist passiert. Die F2F-Strategie bietet hier auch nur viel zu wenige und viel zu unverbindliche Formulierungen. Überhaupt versäumt sie es, einmal die Überlegung anzustellen, was das vielfach gepriesene Prinzip der Kreislaufwirtschaft für die europäische Landwirtschaft bedeuten würde. Der EWSA fragt sich, wie zum Beispiel die Unmengen an Futtermittelimporten etwa aus Südamerika, die mitverantwortlich für die fatale Abholzung der Regenwälder verantwortlich sind, mit dem Kreislaufprinzip vereinbar sind.

4.4.5.

In der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ wird nicht ausführlich genug dargelegt, wie Landwirte bei der Einführung neuer Verfahren unterstützt werden sollen. Während Zahlungen für den Umstellungsprozess im Rahmen der Öko-Regelungen umfangreiche Mittel zur Erreichung der neuen Ziele erfordern würden, erfüllen die GAP-Zahlungen die maßgebliche Funktion der Einkommensstützung jetzt und auch noch in den kommenden Jahren, selbst wenn Maßnahmen ergriffen werden, um sicherzustellen, dass die Lebensmittelpreise die tatsächlichen Kosten widerspiegeln (siehe 4.2). Die Beratungsdienste müssen so gut ausgestattet sein, dass sie die Landwirte bei größeren Produktionsumstellungen begleiten können. Um die Zielvorgaben des europäischen Grünen Deals und der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ zu erreichen, dürfen die Mittel für die GAP nicht gekürzt oder auf dem derzeitigen Niveau gehalten werden; vielmehr müssen sie im Einklang mit diesen Zielvorgaben aufgestockt werden. Die Kosten im Zusammenhang mit den Zielvorgaben des europäischen Grünen Deals gehen weit über den aktuellen Programmplanungszeitraum hinaus. Es sollte präzisiert werden, welcher Finanzierungsbedarf für die künftigen nationalen Haushalte entsteht, damit die Maßnahmen des europäischen Grünen Deals umgesetzt und die Einzelziele/Indikatoren des europäischen Grünen Deals erreicht werden können.

4.4.6.

In der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die unterschiedlichen Ausgangspositionen der Mitgliedstaaten berücksichtigt werden müssen. Die Verfahren unterscheiden sich erheblich in Bezug auf die Betriebsintensität pro Hektar, die Besatzdichte pro Hektar, den Einsatz von Pestiziden, Düngemitteln und Antibiotika pro Hektar und pro Tier sowie den Tierschutz. Für jedes im europäischen Grünen Deal und in der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ festgelegte Einzelziel sollte eine Folgenabschätzung durchgeführt werden, wobei der unterschiedlichen Situation in den einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen ist. Der EWSA unterstreicht jedoch auch die Notwendigkeit gleicher Wettbewerbsbedingungen zwischen den Mitgliedstaaten und fordert mehr Klarheit darüber, wie und innerhalb welcher Fristen dem Risiko abweichender Standards durch die Umsetzung der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ und der GAP-Strategiepläne begegnet werden soll. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass maßgeschneiderte Konzepte für die Geschwindigkeit des Umstellungsprozesses notwendig sind, nicht aber für die letztlich zu erreichenden Einzel- und Gesamtziele.

Brüssel, den 16. September 2020

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  „COVID-19 and the crisis in food systems: Symptoms, causes, and potential solutions“ [COVID-19 und die Krise der Lebensmittelsysteme: Symptome, Ursachen und mögliche Lösungen]. Kommuniqué von IPES-Food, April 2020.

(2)  „[Es] ist […] entscheidend, dass die in der EU nachhaltig erzeugten Lebensmittel wettbewerbsfähig sind, damit eine umfassende Ernährungspolitik der EU ihre Wirkungen für die europäischen Verbraucher auch tatsächlich entfalten kann. Dies bedeutet, dass die europäische Agrar- und Ernährungswirtschaft in der Lage sein muss, den Verbrauchern Lebensmittel zu Preisen anzubieten, die zusätzliche Kosten für Kriterien wie Nachhaltigkeit, Tierschutz, Lebensmittel- und Ernährungssicherheit mit einschließen, zugleich aber auch eine angemessene Vergütung der Landwirte ermöglichen, um somit ebenfalls ihre Position als bevorzugte Option für die große Mehrheit der Verbraucher zu behaupten.“ Stellungnahme Beitrag der Zivilgesellschaft zur Ausarbeitung einer umfassenden Ernährungspolitik in der EU (Ziffer 5.8) (ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 18).

(3)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 18.

(4)  Siehe Fußnote 3.

(5)  IPES-Food, Towards a Common Food Policy for the European Union [Hin zu einer gemeinsamen Lebensmittelpolitik für die Europäische Union], Brüssel, IPES Food, 2019.

(6)  Die spezifischen Gesamtziele, die für eine umfassende Strategie relevant sind, und die Art der Maßnahmen, die zu ihrer Verwirklichung erforderlich sind, werden im Folgenden auf der Grundlage von Stellungnahmen des EWSA erläutert.

(7)  Eine Ausnahme in der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ ist die Aussage, dass eine „gesunde und nachhaltige Ernährung“ erreicht werden sollte. Dabei handelt es sich zwar um eine zielorientierte Vorgabe, die aber als zwingendes Gebot für die Verbraucher dargestellt wird, statt zu betonen, dass sie in der gesamten Lebensmittelkette angegangen werden sollte.

(8)  Siehe Fußnote 3.

(9)  Dieses neue Gremium würde als Plattform für bestehende Institutionen fungieren.

(10)  Prozesse der Wiederanbindung der Städte an die Erzeugungsgebiete in ihrem Umland finden bereits an vielen Orten statt (z. B. Mailand in Italien, Montpellier in Frankreich, Gent, Brüssel und Lüttich in Belgien sowie Toronto in Kanada) und dürften sich infolge der COVID-19-Pandemie noch beschleunigen.

(11)  „COVID-19 and the crisis in food systems: Symptoms, causes, and potential solutions“ [COVID-19 und die Krise der Lebensmittelsysteme: Symptome, Ursachen und mögliche Lösungen]. Kommuniqué von IPES-Food, April 2020.

(12)  ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 9.

(13)  In der Mitteilung „Vom Hof auf den Tisch“ heißt es, dass sich die Europäische Kommission „um Zusagen von Lebensmittelunternehmen und -organisationen bemühen [wird], konkrete Maßnahmen in puncto Gesundheit und Nachhaltigkeit zu ergreifen“.

(14)  Siehe Fußnote 12.

(15)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 165.

(16)  Europäisches Parlament: Bericht zu dem Thema „Gerechte Einnahmen für Landwirte: Die Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette in Europa verbessern“, 2009/2237(INI), 2009, https://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+REPORT+A7-2010-0225+0+DOC+XML+V0//DE.

(17)  Europäisches Parlament: „Parliamentary questions — Answer given by Mr. Hogan on behalf of the Commission“ [Fragen des Parlaments — Antwort von Herrn Hogan im Namen der Kommission], 27. Februar 2015, http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-8-2015-000521-ASW_EN.html?redirect.

(18)  http://www.fao.org/nr/sustainability/full-cost-accounting/.

(19)  Siehe Fußnote 12.

(20)  ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 65.

(21)  „Non-paper from the Netherlands and France on trade, social economic effects and sustainable development“ [Non-Paper der Niederlande und Frankreichs zu Handel, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen und nachhaltiger Entwicklung].

(22)  Beispielweise wurde der zollfreie Zugang zu den EU-Märkten für Eier erstmalig im Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur von der Angleichung an die EU-Standards für das Wohl der Hennen abhängig gemacht: https://www.theguardian.com/environment/2019/oct/02/eu-imposes-hen-welfare-standards-on-egg-imports-for-first-time.

(23)  https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/mission-letter-frans-timmermans-2019_en.pdf?fbclid=IwAR3MP8zmxW1jBVJhtBUtP2PKkEct5ibFjKVJTCoaxgRX6thxcdsylXhTPIk.

(24)  Europäisches Parlament: Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. September 2018 zu dem Thema „Transparente und verantwortungsbewusste Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen in Entwicklungsländern: Wälder“: 2018/2003(INI).

(25)  https://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2015/october/tradoc_153846.pdf.

(26)  https://ec.europa.eu/environment/forests/impact_deforestation.htm.

(27)  Diese Definition kann auf der Definition der ökologischen Nachhaltigkeit aufbauen, die im Aktionsplan der Europäischen Kommission zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums verankert ist, und auf diese angestimmt werden.

(28)  Landnutzung für eine nachhaltige Nahrungsmittelerzeugung und nachhaltige Ökosystemleistungen (NAT/2018) (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 72).

(29)  Siehe Fußnote 20.