23.12.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 449/142


P8_TA(2019)0128

Die Rechte intersexueller Personen

Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. Februar 2019 zu den Rechten intersexueller Personen (2018/2878(RSP))

(2020/C 449/19)

Das Europäische Parlament,

gestützt auf Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union,

gestützt auf die Artikel 8 und 10 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union,

gestützt auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 21,

unter Hinweis auf die Europäische Sozialcharta, insbesondere auf Artikel 11,

unter Hinweis auf die Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten (1),

unter Hinweis auf den Bericht der Kommission mit dem Titel „Trans- und intersexuelle Menschen“ aus dem Jahr 2011,

unter Hinweis auf die Schlussberichte im Rahmen des von der Kommission finanzierten Pilotprojekts „Health4LGBTI“ zu gesundheitlichen Ungleichheiten, denen lesbische, schwule, bi-, trans- und intersexuelle Personen im Bereich Gesundheit ausgesetzt sind,

unter Hinweis auf seine Entschließung vom 4. Februar 2014 zu dem EU-Fahrplan zur Bekämpfung von Homophobie und Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität (2),

unter Hinweis auf seine Entschließung vom 13. Dezember 2016 zur Lage der Grundrechte in der Europäischen Union 2015 (3),

unter Hinweis auf das Paper der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) vom Mai 2015 über die Lage der Grundrechte von intersexuellen Personen („The fundamental rights situation of intersex people“) (4),

unter Hinweis auf die Online-Veröffentlichung der FRA mit dem Titel „Mapping minimum age requirements concerning the rights of the child in the EU“ (5) (Abbildung der Mindestaltersanforderungen betreffend die Rechte des Kindes in der EU) vom November 2017,

unter Hinweis auf den Grundrechtebericht 2018 der FRA,

unter Hinweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention,

in Kenntnis des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe,

unter Hinweis auf die im Jahr 2017 angenommene Entschließung 2191 der Parlamentarischen Versammlung des Europarats mit dem Titel „Promoting the human rights of and eliminating discrimination against intersex people“ (Förderung der Menschenrechte von intersexuellen Personen und Beendigung der Diskriminierung intersexueller Personen),

unter Hinweis auf den Bericht des Europäischen Kommissars für Menschenrechte aus dem Jahr 2015 mit dem Titel „Human rights and intersex people“ (Menschenrechte und intersexuelle Personen),

unter Hinweis auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte,

unter Hinweis auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe,

unter Hinweis auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes,

unter Hinweis auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen,

unter Hinweis auf den Bericht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von 2013,

unter Hinweis auf die im November 2006 verabschiedeten Yogyakarta-Prinzipien („Grundsätze und Verpflichtungen der Staaten betreffend die Anwendung der internationalen Menschenrechtsnormen zu sexueller Ausrichtung, geschlechtlicher Identität, Ausdruck der Geschlechtlichkeit und Geschlechtsmerkmalen“) und die am 10. November 2017 verabschiedeten zehn ergänzenden Prinzipien („Plus 10“),

unter Hinweis auf die Anfragen an den Rat und die Kommission zu den Rechten intersexueller Personen (O-000132/2018 — B8-0007/2019 und O-000133/2018 — B8-0008/2019),

unter Hinweis auf den Entschließungsantrag des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres,

gestützt auf Artikel 128 Absatz 5 und Artikel 123 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung,

A.

in der Erwägung, dass intersexuelle Personen mit körperlichen Geschlechtsmerkmalen geboren werden, die nicht den medizinischen oder sozialen Normen für weibliche oder männliche Körper entsprechen, und dass sich diese Variationen der Geschlechtsmerkmale in primären Merkmalen (wie den inneren und äußeren Geschlechtsorganen sowie der chromosomalen und hormonellen Struktur) und/oder sekundären Merkmalen (wie Muskelmasse, Haarverteilung und Statur) manifestieren können;

B.

in der Erwägung, dass intersexuelle Personen in der Europäischen Union in mehrfacher Hinsicht Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt sind und diese Menschenrechtsverletzungen der breiten Öffentlichkeit und den politischen Entscheidungsträgern weitgehend verborgen bleiben;

C.

in der Erwägung, dass es eine hohe Prävalenz von Operationen und medizinischen Behandlungen bei intersexuellen Kindern gibt, obwohl diese Behandlungen in den meisten Fällen medizinisch nicht angezeigt sind; in der Erwägung, dass kosmetische Operationen und Operationen mit dringender Indikation als Paket vorgeschlagen werden können, wodurch verhindert wird, dass Eltern und intersexuelle Personen umfassende Informationen über die Auswirkungen der einzelnen Operationen erhalten;

D.

in der Erwägung, dass Operationen und medizinische Behandlungen an intersexuellen Kindern ohne ihre vorherige, persönliche, vollständige und informierte Zustimmung durchgeführt werden; in der Erwägung, dass Intersex-Genitalverstümmelungen lebenslange Folgen wie psychische Traumata und körperliche Beeinträchtigungen verursachen können;

E.

in der Erwägung, dass intersexuelle Personen und intersexuelle Kinder, die weiteren Minderheiten und marginalisierten Gruppen angehören, noch stärker marginalisiert und sozial ausgegrenzt werden und aufgrund ihrer intersektionellen Identität Gefahr laufen, Gewalt zu erfahren und diskriminiert zu werden;

F.

in der Erwägung, dass intersexuelle Kinder und intersexuelle Personen mit Behinderungen in den meisten Mitgliedstaaten mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vormunds, d. h. unabhängig von der eigenen Entscheidungsfähigkeit, operiert werden dürfen;

G.

in der Erwägung, dass Eltern und/oder gesetzliche Vormunde in vielen Fällen stark unter Druck gesetzt werden, Entscheidungen zu treffen, ohne aber umfassend über die lebenslangen Folgen für ihr Kind aufgeklärt worden zu sein;

H.

in der Erwägung, dass viele intersexuelle Personen keinen uneingeschränkten Zugang zu ihren Krankenakten haben und deshalb keine Kenntnis davon haben, dass sie intersexuell sind, oder nicht wissen, welchen medizinischen Behandlungen sie unterzogen wurden;

I.

in der Erwägung, dass Intersex-Variationen nach wie vor als Krankheiten eingestuft werden, etwa in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) der Weltgesundheitsorganisation, obwohl es keine Nachweise für langfristige Behandlungserfolge gibt;

J.

in der Erwägung, dass sich manche intersexuelle Personen nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt medizinisch zugewiesen wurde; in der Erwägung, dass eine selbstbestimmte rechtliche Anerkennung des Geschlechts lediglich in sechs Ländern der Europäischen Union möglich ist; in der Erwägung, dass für die rechtliche Anerkennung des Geschlechts in vielen Mitgliedstaaten nach wie vor eine Sterilisation erforderlich ist;

K.

in der Erwägung, dass sich die Rechtsvorschriften zur Bekämpfung der Diskriminierung auf Unionsebene und in den meisten Mitgliedstaaten nicht auf die Diskriminierung aufgrund von Geschlechtsmerkmalen erstrecken, sei es als eigenständige Kategorie oder als eine Form der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts;

L.

in der Erwägung, dass zahlreiche intersexuelle Kinder in der Union Menschenrechtsverletzungen und Genitalverstümmelung ausgesetzt sind, wenn sie genital-normalisierenden Behandlungen unterzogen werden;

1.

weist darauf hin, dass die Verletzung der Menschenrechte von intersexuellen Personen dringend unterbunden werden muss, und fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, Rechtsvorschriften zur Lösung dieser Problematik vorzuschlagen;

Medikalisierung und Pathologisierung

2.

verurteilt genital-normalisierende Behandlungen und Operationen auf das Schärfste; begrüßt Gesetze zum Verbot von Operationen (wie in Malta und Portugal) und fordert die anderen Mitgliedstaaten auf, möglichst bald ähnliche Rechtsvorschriften zu erlassen;

3.

betont, dass intersexuelle Kinder und intersexuelle Personen mit Behinderungen sowie ihre Eltern bzw. Vormunde angemessen beraten und unterstützt werden müssen und dass beide Parteien umfassend über die Folgen genital-normalisierender Behandlungen aufgeklärt werden müssen;

4.

fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, Organisationen zu unterstützen, die die Stigmatisierung intersexueller Personen bekämpfen;

5.

fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die Mittel für zivilgesellschaftliche Intersex-Organisationen aufzustocken;

6.

fordert die Mitgliedstaaten auf, den Zugang von intersexuellen Personen zu ihren Krankenakten zu verbessern und sicherzustellen, dass niemand im Säuglings- oder Kindesalter einer nicht angezeigten medizinischen oder chirurgischen Behandlung unterzogen wird, um so für die körperliche Unversehrtheit, Autonomie und Selbstbestimmung der betroffenen Kinder zu sorgen;

7.

ist der Auffassung, dass die Pathologisierung von Intersex-Variationen die uneingeschränkte Ausübung des im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes verankerten Rechts auf einen höchstmöglichen Gesundheitsstandard für intersexuelle Personen gefährdet; fordert die Mitgliedstaaten auf, die Depathologisierung intersexueller Personen sicherzustellen;

8.

begrüßt die — wenn auch teilweise — Depathologisierung der Transidentität im Rahmen der Überarbeitung der ICD (ICD-11); stellt jedoch fest, dass die Kategorie der „Geschlechtsinkongruenz“ (gender incongruence) im Kindesalter zu einer Pathologisierung nicht geschlechtsnormativer Verhaltensweisen im Kindesalter führt; fordert die Mitgliedstaaten daher auf, auf die Streichung dieser Kategorie aus der ICD-11 hinzuarbeiten und dafür zu sorgen, dass die künftige Überarbeitung der ICD mit ihren nationalen Gesundheitssystemen im Einklang steht;

Ausweispapiere

9.

hebt die Bedeutung flexibler Verfahren zur Geburtenregistrierung hervor; begrüßt die in einigen Mitgliedstaaten angenommenen Gesetze, die eine selbstbestimmte rechtliche Anerkennung des Geschlechts ermöglichen; fordert die übrigen Mitgliedstaaten auf, ähnliche Rechtsvorschriften zu erlassen, einschließlich flexibler Verfahren zur Änderung des Geschlechtseintrags — solange das Geschlecht noch erfasst wird — sowie von Namen auf Geburtsurkunden und Ausweispapieren (einschließlich der Möglichkeit geschlechtsneutraler Namen);

Diskriminierung

10.

bedauert die mangelnde Anerkennung von Geschlechtsmerkmalen als Grund für Diskriminierung in der gesamten Union und betont daher, wie wichtig es ist, den Zugang intersexueller Personen zur Justiz sicherzustellen;

11.

fordert die Kommission auf, den Austausch über bewährte Verfahren in diesem Bereich zu verstärken; fordert die Mitgliedstaaten auf, die Rechtsvorschriften zu erlassen, die notwendig sind, damit die Grundrechte von intersexuellen Personen und intersexuellen Kindern angemessen geschützt, gewahrt und gefördert werden, einschließlich eines umfassenden Schutzes vor Diskriminierung;

Sensibilisierung der Öffentlichkeit

12.

fordert die einschlägigen Interessenträger auf, Forschung im Bereich Intersexualität zu betreiben, wobei eher eine soziologische und menschenrechtliche als eine medizinische Perspektive eingenommen werden sollte;

13.

fordert die Kommission auf, im Rahmen der Europäischen Referenznetzwerke (ERN) dafür zu sorgen, dass mit Unionsmitteln keine Forschungsprojekte bzw. medizinischen Projekte unterstützt werden, die zur weiteren Verletzung der Menschenrechte intersexueller Personen führen; fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die Forschung zur Lage der Menschenrechte intersexueller Personen zu unterstützen und entsprechende Mittel bereitzustellen;

14.

fordert die Kommission auf, eine ganzheitliche und rechtebasierte Herangehensweise an das Thema Rechte intersexueller Personen zu verfolgen und die Tätigkeiten der Generaldirektion Justiz und Verbraucher, der Generaldirektion Bildung, Jugend, Sport und Kultur und der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit besser zu koordinieren, um kohärente Maßnahmen und Programme zur Unterstützung von intersexuellen Personen sicherzustellen, einschließlich der Schulung von Staatsbeamten und medizinischen Personals;

15.

fordert die Kommission auf, die Liste der mehrjährigen Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung von lesbischen, schwulen, bi-, trans- und intersexuellen Personen für den laufenden Zeitraum stärker auf intersexuelle Personen auszurichten; fordert die Kommission auf, bereits jetzt mit der Vorbereitung einer Verlängerung dieser Strategie für den nächsten Mehrjahreszeitraum (2019–2024) zu beginnen;

16.

fordert die Kommission auf, den Austausch über bewährte Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten im Hinblick auf den Schutz der Menschenrechte und der körperlichen Unversehrtheit intersexueller Personen zu fördern;

o

o o

17.

beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zu übermitteln.

(1)  ABl. L 315 vom 14.11.2012, S. 57.

(2)  ABl. C 93 vom 24.3.2017, S. 21.

(3)  ABl. C 238 vom 6.7.2018, S. 2.

(4)  https://fra.europa.eu/en/publication/2015/fundamental-rights-situation-intersex-people

(5)  http://fra.europa.eu/en/publication/2017/mapping–minimum–age–requirements–concerning–rights–child–eu