5.6.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 190/33


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Ermöglichung der Fortsetzung der Programme für die territoriale Zusammenarbeit PEACE IV (Irland-Vereinigtes Königreich) und Vereinigtes Königreich-Irland (Irland-Nordirland-Schottland) vor dem Hintergrund des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union“

(COM(2018) 892 final — 2018/0432 (COD))

(2019/C 190/05)

Hauptberichterstatterin: Jane MORRICE

Befassung

Europäisches Parlament, 14.1.2019

Rat der Europäischen Union, 15.1.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 178 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Verabschiedung im Plenum

20.2.2019

Plenartagung Nr.

541

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

102/1/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Es ist nicht nur von großer, sondern entscheidender Bedeutung, dass die EU Nordirland über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU hinaus insbesondere durch die Programme PEACE und Interreg weiter unterstützt. Diese Notwendigkeit wurde an der problembeladenen Debatte über die Grenze zwischen dem Vereinigten Königreich und Irland in den Brexit-Verhandlungen deutlich.

1.2.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt ohne Vorbehalt den Vorschlag, das PEACE-Programm der EU in Nordirland und in den Grenzbezirken Irlands nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union fortzuführen. Der EWSA begrüßt, dass die Unterstützung des Friedensprozesses für die EU Priorität hat, und würdigt den bedeutsamen Beitrag des PEACE-Programms zur Friedenssicherung in der Region. Er stimmt darin mit den Feststellungen des Europäischen Parlaments vom September 2018 (1) überein‚ in denen das Programm PEACE als weltweit beispielhaft beschrieben wird.

1.3.

Da die durch den Brexit verursachte politische, wirtschaftliche und soziale Unsicherheit destabilisierend wirkt, sollte die EU aus der Sicht der zivilgesellschaftlichen Akteure unbedingt weiter alles in ihrer Macht Stehende dafür tun, dass Nordirland nicht nur konfliktfrei bleibt, sondern auch den Weg der Aussöhnung weiterbeschreitet und dazu den EU-spezifischen basisnahen Ansatz für die Friedensstiftung und Konfliktlösung anwendet.

1.4.

Das Europäische Programm für Frieden und Aussöhnung (PEACE) hat sich als das wertvollste und erfolgreichste Instrument der EU zur Friedensstiftung in Konfliktsituationen erwiesen. Nach den 1995 in Nordirland verkündeten Waffenruhen wurden mit dem Programm PEACE über 24 Jahre hinweg mehr als 2 Mrd. EUR in konfessions- und grenzübergreifende sowie andere Aussöhnungsprojekte investiert.

1.5.

Alle Vertragsparteien des Karfreitagsabkommens/Abkommens von Belfast sehen in dem PEACE-Programm einen herausragenden Beitrag zum Friedensprozess. Das Programm ist insofern einzigartig, als es innerhalb des Gebiets, in dem es gilt, alle anderen Maßnahmen der EU überspannt bzw. über sie hinausreicht. Es führt britische und irische Interessenvertreter unter dem Dach der EU mit dem ausschließlichen Ziel zusammen, den Friedensprozess zu bewahren und die Friedenskonsolidierung in der Region und darüber hinaus zu fördern.

1.6.

Die Dringlichkeit der Lage, die durch den Brexit bzw. den möglichen Austritt des Vereinigten Königreichs entstanden ist, erfordert Antworten seitens der EU, um den Friedensprozess zu sichern. Dabei muss den neuen Bedürfnissen der Region nach dem Brexit entsprochen werden. Durch die Zusicherung der Weiterführung der grenzübergreifenden Programme PEACE und Interreg unternimmt die EU einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Dieses Engagement bildet natürlich das wesentliche Fundament für die Unterstützung der Region durch die EU, doch es könnte und sollte noch mehr unternommen werden.

1.7.

Der unmittelbare Handlungsbedarf wurde während und nach den Brexit-Verhandlungen deutlich und wird besonders manifest werden, wenn die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen zunehmen und sich sowohl im öffentlichen Leben als auch an der Grenze eine Kluft auftut zwischen den Loyalitäten gegenüber dem Vereinigten Königreich bzw. Irland. Die EU könnte ein positives Zeichen setzen und u. a. eine Aufstockung der Mittel für PEACE im nächsten Programmzeitraum zusagen und das Europäische Zentrum für Frieden und Versöhnung in Belfast ansiedeln, wie es in früheren Berichten von EWSA, Europäischem Parlament und Europäischer Kommission angeregt wurde (2). Damit könnte die EU ihr langfristiges Engagement für den Friedensprozess unter Beweis zu stellen.

2.   Hintergrund

2.1.

Angesichts der schwierigen und heiklen Lage in Nordirland sollte mit dem ersten PEACE-Programm ein umfassendes Instrument geschaffen werden, um die Schranken zwischen verfeindeten und gespaltenen Bevölkerungsgruppen abzubauen. Das Programm PEACE wurde in Konsultation mit den Interessenträgern aus Politik, Verwaltung und Freiwilligensektor eingerichtet und ist ein Bottom-up-Konzept, das die schutzbedürftigsten Gruppen in der Gesellschaft, darunter Kinder, Frauen, Opfer und Akteure des Konflikts aktiv einbindet.

2.2.

Durch eine Reihe von Maßnahmen wurden mithilfe von PEACE-I Organisationen an der Basis gegründet, um gemeinsam mit „der anderen Seite“zu arbeiten, wobei die Kontrolle und die Verteilung der EU-Mittel weitgehend in die Hände lokaler Gruppen und Gebietskörperschaften gelegt wurden. Durch das PEACE-Programm wurden Anreize für Projekte im Bereich Friedensstiftung, Konfliktlösung, gegenseitiges Verständnis, Traumaverarbeitung und Vergangenheitsbewältigung gesetzt. Die Erfolge des PEACE-Programms sind vielfältig und der Beitrag, den es geleistet hat, um dem Friedensabkommen von 1998 den Weg zu ebnen, ist nicht zu unterschätzen. PEACE wird nun von der EU-Sonderprogrammstelle (SEUPB — Special EU Programmes Body) verwaltet, einer grenzübergreifenden britisch-irischen Organisation, die durch das Abkommen eingerichtet wurde und alle EU-Mittel für den Friedensprozess und die grenzüberschreitende Kooperation abwickelt.

2.3.

Die Fortsetzung des PEACE-Programms ist von entscheidender Bedeutung, damit die Region angesichts des Problems zweier gegenüberstehender Lager nicht in einen Konflikt zurückfällt, wobei sich dieses Problem nach dem Brexit verschärfen könnte, wie die während der Verhandlungen aufgetretenen Spannungen zeigten. Die Fortsetzung von PEACE ist heute wichtiger denn je zuvor nach 1998. Die in den Brexit-Verhandlungen gemachte Zusage, das Karfreitagsabkommen zu wahren und eine „harte Grenze“zu vermeiden, ist begrüßenswert, und PEACE kann eine entscheidende Unterstützung von bei einem wie auch immer gearteten Übergang spielen. Die Frage der irischen Grenze bleibt auch über die laufenden Verhandlungen hinaus der schwierigste Aspekt des Brexits, weshalb die grenzüberschreitenden Programme PEACE und Interreg sowie der kontinuierliche Dialog zwischen dem Vereinigten Königreich und Irland unverzichtbar und entscheidend sind.

3.   Allgemeine Empfehlungen

3.1.

Bei einer Verlängerung der Initiative nach 2020 in Form des sog. PEACE-Plus sollten Verbesserungen ins Auge gefasst werden. Diese können in fünf Hauptbereiche unterteilt werden:

3.1.1.

Stärkerer Schwerpunkt auf der Förderung einer Gesellschaft des Miteinanders durch echte konfessionsübergreifende Bemühungen. Die verstärkte Unterstützung die Integration im Bildungsbereich und die Förderung des grenzüberschreitenden Austausches im Bereich Medien, Kultur und Sport sollten zu den Prioritäten gehören. Wie die zahlreichen „Friedensmauern“, die segregierte Gesellschaften teilen, gezeigt haben, sollte vorrangig auf Initiativen der Bürgerebene zur Verbesserung des äußeren und sozialen Umfelds gesetzt werden.

3.1.2.

Die Förderung von Projekten für „eine Identität“sollte nur als vertrauensbildende Maßnahme zwischen getrennten Bevölkerungsgruppen zum Einsatz kommen, wenn diese als Sprungbrett für Kontakte mit „der anderen Seite“dienen. Das Problem bei einigen Finanzierungen aus PEACE besteht nach Aussage eines gut informierten Beobachters darin, dass es zu viele Anreize und zu wenige Gegenleistungen gibt.

3.1.3.

Die Kommunikationsmaßnahmen rund um das Programm PEACE bleiben hinter grundlegenden Anforderungen zurück — sie sorgen nicht dafür, dass sich die Bürger ausreichend der Rolle der EU bewusst sind. Zwar sind seitens der SEUPB Anstrengungen unternommen worden, doch sollten Europäische Kommission, Ministerien, Meinungsmacher u. a. sich noch mehr bemühen, die Rolle der EU erklären und zu würdigen, indem sie das Erkennungszeichen „Weiße Taube“für EU-finanzierten PEACE-Projekte verwenden.

3.1.4.

Es sollte klare Überwachungs- und Bewertungsverfahren geben. So würde sichergestellt, dass die Ergebnisse auch danach beurteilt werden, ob sie wirklich etwas bewirken, und nicht nur nach der Fähigkeit von Experten, Kästchen anzukreuzen. Einige kleine Gruppen in den Gemeinschaften, die am meisten Unterstützung benötigen, haben die EU-Finanzierung als „nicht der Mühe wert“bezeichnet und halten den damit verbundenen personellen Aufwand für zu groß.

3.1.5.

In einer Entschließung des Europäischen Parlaments von 2018 (3) wird PEACE als das Modell der EU gesehen, das propagiert werden könnte‚ um in anderen Teilen Europas und weltweit dauerhaft Frieden zu schaffen. Diese Aussage deckt sich mit einer Stellungnahme des EWSA, in der eine von der EU geführte weltweite Initiative zur Friedenskonsolidierung nach dem Vorbild von PEACE und die Schaffung eines europäischen Friedenswegs von Nordirland nach Nikosia vorgeschlagen werden. Der „Weg der weißen Taube“könnte den Spuren des irischen Wandermönchs Columban folgen und über den Westfront-Friedensweg und den Balkan bis nach Zypern führen und so die beiden geteilten Inseln an den Rändern Europas miteinander verbinden (4).

3.2.

Zwar mag der wichtigste Impuls für die Verbesserung bestimmter Aspekte von PEACE aus „Brüssel“kommen, doch bietet das neue Programm „PEACE Plus 2020“die Gelegenheit, die Kooperation mit der Zivilgesellschaft wieder zu verstärken, um die Ziele und Werte der EU in Nordirland zu fördern. Dies sollte nicht zu mehr Bürokratie führen, sondern vielmehr die Gelegenheit bieten, Vertrauen und Verständnis für die Rolle der EU bei der Förderung von Frieden und Versöhnung zu schaffen.

3.3.

Ein Konsultationsprozess ähnlich dem, der auf Initiative von Kommissionspräsident Jacques Delors 1994 für das PEACE-I-Programm durchgeführt wurde, sollte nicht nur die Eigenverantwortung der jeweiligen Bevölkerungsgruppe für den Friedensprozess stärken, sondern auch die Übernahme von Lehren anderer ermöglichen. Dies könnte nach dem Vorbild der von Jacques Delors vor seinem Ausscheiden aus dem Amt gebildeten Task Force und unter der Ägide von Kommissionspräsident Juncker in Zusammenarbeit mit den drei nordirischen MdEP, dem Generalsekretär der Europäischen Kommission und der Task Force der Kommission sowie in Kooperation mit der SEUPB und den Leitern der Büros der Europäischen Kommission in Belfast, Dublin und London geschehen.

4.   Spezifische Empfehlungen für den PEACE-Finanzierungszeitraum nach 2020

Projekte, die auf die Integration einer Identität und konfessionsübergreifender Aspekte abzielen, sollten stärker gewichtet werden. Programme, in denen die Zusammenarbeit gefördert wird, sind zu bevorzugen.

Die Laufzeit des PEACE-Programms sollte verlängert werden. Die Konflikttransformation benötigt Zeit und erfordert ein Engagement, das längerfristiger ist als die derzeitigen Finanzierungszyklen.

Es könnte erwogen und empfohlen werden, dass künftige mit EU-Mitteln aus dem PEACE-Programm finanzierte Projekte durch das Symbol der weißen Taube mit der EU-Flagge und der Aufschrift „finanziert aus Mitteln des EU-Programms PEACE“gekennzeichnet werden müssen.

Den Aufsichtsorganen des PEACE-Programms sollten auch in Zukunft Vertreter der Zivilgesellschaft angehören, jedoch nicht nur die bequemsten oder etabliertesten Akteure. Es muss mehr unternommen werden, um den Akteuren innerhalb der Bevölkerungsgruppen zu helfen, an ihren Aufgaben zu wachsen.

Es sollte erwogen werden, lokale Ausschüsse im Rahmen des PEACE-Programms einzurichten, um mit den Kommunen, der [Nordirland-]Versammlung und anderen Entscheidungsträgern zusammenzuarbeiten.

Förderung des Weiße-Taube-Konzepts, europaweite Vernetzung von Friedensaktivisten, Verwendung von authentischen Erfahrungen (Berichten) zur Sensibilisierung des Konfliktbewusstseins und aktive Beteiligung der Bürger auf dem Weg des Friedens.

Das ursprüngliche Engagement für ein Europäisches Friedenszentrum in Nordirland mit Verbindungen zu einem Zentrum in Nikosia als Drehscheibe für die Weitergabe realer Erfahrungen mit praktischen Friedenskonsolidierungsmaßnahmen in Europa und weltweit sollte bekräftigt werden. Dabei geht es darum, sicherzustellen, dass die Erkenntnisse, die im Friedensprozess in Nordirland und anderenorts mühsam erworben wurden, auch für Menschen in und nach anderen Konflikten nutzbar gemacht werden können.

Brüssel, den 20. Februar 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates: „Wir werden den Frieden nicht aufs Spiel setzen und der Aussöhnung kein Verfallsdatum setzen (…). Geben Sie uns eine verlässliche Garantie für den Frieden in Nordirland und das Vereinigte Königreich wird die EU als vertrauenswürdiger Freund verlassen!“

(2)  Stellungnahme des EWSA zur Rolle der EU im nordirischen Friedensprozess vom 22. Oktober 2008 (SC/029) (ABl. C 100 vom 30.4.2009, S. 100).

(3)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. September 2018 zu den Auswirkungen der Kohäsionspolitik der EU auf Nordirland.

(4)  Siehe die Stellungnahme des EWSA zum ThemaDer Weg der weißen Taube — Vorschlag einer EU-geführten globalen Strategie der Friedenskonsolidierung (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).