16.7.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 240/20


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der Beitrag sozialwirtschaftlicher Unternehmen zu mehr Zusammenhalt und Demokratie in Europa“

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des rumänischen Ratsvorsitzes)

(2019/C 240/05)

Berichterstatter: Alain COHEUR

Befassung

Schreiben vom 20.9.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

2.4.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

15.5.2019

Plenartagung Nr.

543

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

118/1/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Sozialwirtschaftliche Unternehmen bieten in ihren vielfältigen Tätigkeitsbereichen zahlreiche Lösungsansätze für einen Wandel hin zu einer Gesellschaft mit stärkerem Zusammenhalt und mehr Sinn für das Gemeinwohl. Die Sozialwirtschaft ist eine entscheidende Triebkraft der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa, hinter der 2,8 Mio. Unternehmen und 13,6 Mio. Arbeitsplätze stehen, die 8 % des BIP der EU ausmachen. Sozialwirtschaftliche Unternehmen spielen eine Schlüsselrolle für die Schaffung und Erhaltung hochwertiger Arbeitsplätze, den Erfolg der europäischen Säule sozialer Rechte und die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung.

1.2.

Die derzeitige Lage der Sozialwirtschaft in Europa ist uneinheitlich. Es gibt Mitgliedstaaten, in denen die Entwicklung des Sektors traditionellerweise sowie mit politischen Maßnahmen neueren Datums unterstützt wird, während sie in anderen gebremst wird. Aufgrund dessen und wegen mangelnder Finanzmittel ist es der Sozialwirtschaft nicht möglich, zur wirtschaftlichen Erholung und Stärkung der Unternehmensdynamik beizutragen, die durch zunehmende Ungleichheiten und Armut verursachten sozialen Spannungen abzumildern, in bestimmten Regionen die Arbeitslosigkeit zu verringern sowie prekäre Arbeitsbedingungen zu bekämpfen — alles Erscheinungen, die zum Erstarken des Populismus führen.

1.3.

Der EWSA plädiert dafür, dass die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission den Beitrag anerkennen, den sozialwirtschaftliche Unternehmen zur Stärkung einer aktiven Bürgerschaft, zum Gemeinwohl, zur Förderung des europäischen Sozialmodells und zur Herausbildung einer europäischen Identität leisten. Diese Anerkennung kann nur dann als vollumfänglich gelten, wenn sie auch mit der Bereitstellung angemessener Mittel einhergeht und Anreize zur Verbreitung und Förderung der Nutzung von Innovation und Wissen geschaffen werden.

1.4.

Er stellt fest, dass die sozialwirtschaftlichen Unternehmensformen in den Lehrplänen und bei der Unterstützung der Gründung und Entwicklung von Unternehmen praktisch keine Rolle spielen. Bildungsinhalte zum Thema Sozialwirtschaft müssen in die Lehrpläne der allgemeinen und beruflichen Bildung aufgenommen werden, die den Horizont für Wissen und unternehmerischen Initiativgeist öffnen. So sollte der Zugang der sozialwirtschaftlichen Unternehmen zum Programm „Eramus+“ gefördert werden.

1.5.

Nach Ansicht des EWSA ist es unabdingbar, sozialwirtschaftliche Unternehmen durch ehrgeizige und bereichsübergreifende öffentliche Maßnahmen sowie durch einen europäischen Aktionsplan für die Sozialwirtschaft zu fördern.

1.6.

Der EWSA fordert die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten wie bereits in früheren Stellungnahmen auf, besondere Unterstützung für soziale Innovationen zu leisten, wozu auch die Anerkennung und politische Förderung sozialwirtschaftlicher Unternehmen und der Zivilgesellschaft als wichtiger gesellschaftlicher Interessenträger sowie die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen gehören.

1.7.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, das Konzept der Sozialwirtschaft anhand der Merkmale ihrer derzeit bestehenden Formen zu klären.

1.8.

Der EWSA weist die Kommission, die Mitgliedstaaten und Eurostat auf das Erfordernis hin, die im Handbuch über Satellitenkonten enthaltenen Vorschläge umzusetzen, damit die sozialwirtschaftlichen Unternehmen statistisch erfasst werden können.

1.9.

Der EWSA bekräftigt, dass weitere Untersuchungen erforderlich sind, um zu verstehen, inwieweit und wie sozialwirtschaftliche Unternehmen den sozialen Zusammenhalt und die Demokratie stärken und die Wirtschaft ankurbeln. Dadurch könnte die Kluft zwischen den neuen Mitgliedstaaten und der übrigen EU verringert werden.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Die sozialwirtschaftlichen Unternehmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie dem Gemeinwohl oder einer Gemeinschaft dienen und nicht auf Gewinnmaximierung abzielen. Ihr Ziel ist eindeutig sozialer Natur: Es geht darum, das Wohlergehen des Einzelnen und der Gemeinschaft zu verbessern, indem die Ungleichheiten verringert werden und der soziale Zusammenhalt gestärkt wird. Es geht auch darum, zur Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze in sozial verantwortlichen Unternehmen beizutragen.

2.2.

Die Sozialwirtschaft ist eine Form der Organisation menschlicher Aktivität, die auf Kollektiveigentum, Solidarität und partizipativer Demokratie fußt, auf die wirtschaftliche Effizienz der eingesetzten Mittel gestützt ist und Produktion, Verteilung, Austausch und Konsum von Waren und Dienstleistungen sicherstellt. Sie fördert ein aktives bürgerschaftliches Engagement und trägt sowohl zum individuellen als auch zum gemeinschaftlichen Wohlstand bei. Sie wirkt sich überall aus: auf den wirtschaftlichen, den sozialen, den gesellschaftlichen und den ökologischen Bereich.

2.3.

Zahlreiche Faktoren untergraben schrittweise das Fundament unserer Gesellschaften, die auf Demokratie und sozialem Zusammenhalt fußen: Verringerung der öffentlichen Ausgaben und der durch sie gebotenen Auffangnetze, kurzfristige Profit- und Rentabilitätslogik der Finanzmärkte und spekulativen Märkte, Erstarken des Populismus, Zunahme der Ungleichheiten.

2.4.

Um diesen gesellschaftlichen Entwicklungen und der immer größeren Ungewissheit entgegenzutreten, aber auch um ihre Ziele für die wirtschaftliche Entwicklung aufrecht zu erhalten, muss die EU einen Beitrag zum Aufbau demokratischer, von Zusammenhalt geprägter Gesellschaften leisten, stehen diese doch für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt sowie für die Bekämpfung von Diskriminierung und der diversen Formen sozialer Ausgrenzung. Die EU kann ihre Zielsetzungen verwirklichen und gleichzeitig durch eine ehrgeizige Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte die gemeinsamen Werte verteidigen und die Ziele der nachhaltigen Entwicklung umsetzen.

3.   Sozialer Zusammenhalt und Zivilgesellschaft

3.1.

Laut Europarat ist unter sozialem Zusammenhalt die Fähigkeit einer Gesellschaft zu verstehen, durch die Verringerung der Unterschiede und die Verhinderung von Marginalisierung das Wohlergehen all ihrer Mitglieder zu gewährleisten. Für die Europäische Kommission besteht das Ziel der Politik des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts darin, das Wohlstands- und Entwicklungsgefälle zwischen den Regionen der EU zu verringern. Wird der „soziale Zusammenhalt“ geschwächt, nehmen Frustration und innere Abschottung zu, die wiederum den Nährboden für antidemokratische Ideologien bilden. Demokratie und sozialer Zusammenhalt, freie und unabhängige Organisation der Zivilgesellschaft sind integrale Bestandteile des Projekts Europa, selbst wenn sie heute in Frage gestellt werden können. Die Sozialwirtschaft stellt mit ihren sozialen Zielen bzw. ihren sozialen Auswirkungen eine pragmatische Antwort auf die Kohäsions- und Entwicklungsziele dar und steht gleichzeitig für ein demokratisches Modell.

3.2.

Aus historischen und kontextbezogenen Gründen gibt es für die Zivilgesellschaft ganz unterschiedliche Definitionen, wobei sie je nach Mitgliedstaat unterschiedliche Formen annehmen kann. Ihre Verankerung hängt von kulturellen und politischen Traditionen ab. Einige ihrer Organisationen (Gewerkschaften, Gruppierungen, Vereine und Verbände usw.) bestehen seit Langem, andere entstehen aufgrund aktueller Entwicklungen. Die Unternehmen der Sozialwirtschaft lassen sich als Komponente dieser Zivilgesellschaft ansehen, da es sich hier um eine auf Menschen und nicht auf Kapital ausgerichtete Wirtschaftsform handelt.

3.3.

Die Zivilgesellschaft ist gewissermaßen ein „Inkubator“ für die Entwicklung dieser Unternehmen und trägt somit zur Stärkung des Zusammenhalts bei. Durch die Gründung sozialwirtschaftlicher Unternehmen kann die Zivilgesellschaft gewährleisten, dass sich bestimmte Minderheiten Gehör verschaffen und wenig gewinnträchtige Aktivitäten entwickelt werden können, die von traditionelleren Unternehmen nicht unbedingt aufgegriffen würden. Angesichts fremdenfeindlicher Bewegungen und des zunehmenden Demokratieabbaus können die Unternehmen der Sozialwirtschaft etwa in der Frage der Integration von Migranten zur Stärkung der Demokratie und des Zusammenhalts beitragen (Artikel 2 des EU-Vertrags). (1)

3.4.

Im Bildungsbereich werden die Sozialwirtschaft sowie ihr Beitrag und ihr Mehrwert für unsere Gesellschaften in den Lehrplänen von Schulen und Universitäten meistens nicht erwähnt, was auch für den Bereich Unternehmensgründung gilt. Die Mitgliedstaaten sollten daher ebenso wie die EU-Institutionen Bildungsangebote zum Thema Sozialwirtschaft schaffen — nicht etwa um dieses Wirtschaftsmodell aufzuoktroyieren, sondern um den Bürgerinnen und Bürgern die Mittel an die Hand zu geben, es sich zu eigen zu machen.

4.   Sozialwirtschaft als alternatives Wirtschaftsmodell

4.1.

Die sozialwirtschaftlichen Unternehmen haben ihren Ursprung in den Initiativen von Bürgerinnen und Bürgern, die sich angesichts der gesellschaftlichen Umwälzungen zusammengeschlossen haben, um ihre wirtschaftlichen und sozialen, aber auch kulturellen Bedürfnissen zu stillen. Zunächst wurden diese Unternehmen über ihre Rechtsformen definiert — grundlegende Verträge, in denen die Akteure die internen Verfahrensregeln nach eigenem Gutdünken festlegen. So wurden Gegenseitigkeitsgesellschaften, Genossenschaften, Vereine und Verbände sowie Stiftungen geschaffen. Auch heute noch werden diese Rechtsformen am häufigsten für die Gründung eines sozialwirtschaftlichen Unternehmens gewählt. (2)

4.2.

Je nach der Entwicklung der jeweiligen Gesellschaft haben sich im unmittelbaren Umfeld weitere wirtschaftliche Strukturen entwickelt: auf Eingliederung spezialisierte Sozialunternehmen (Work Integration Social Enterprises — WISE), die in den Bereichen soziale und berufliche Eingliederung sowie Behinderung tätig sind, oder Unternehmen mit sozialer Zielsetzung, die z. B. Verwertung und Recycling, Pflege oder Umweltschutz zum Ziel haben.

4.3.

Die Europäische Kommission hat in Dokumenten unterschiedlicher Natur (Initiative, Verordnung (3)) Impulse gesetzt, um die Entwicklung sozialer Unternehmen zu fördern, die im Wesentlichen Unternehmen aus der Sozialwirtschaft sind. Jetzt ist die Debatte über die De-facto-Integration eines sozialen Unternehmertums eröffnet, dessen Definition nicht eindeutig ist.

4.4.

Der EWSA fordert seit langem einen Aktionsplan für sozialwirtschaftliche Unternehmen, um Wachstum und Entwicklung zu gewährleisten und das volle Potenzial dieses Sektors in Europa freizusetzen. Sozialwirtschaftliche Unternehmen sind für den EWSA Teil der regulären Wirtschaft und stehen nicht im Widerspruch zu anderen Geschäftsmodellen. Allerdings schlagen die bestehenden Programme zur Unterstützung, Entwicklung und Gründung von Unternehmen sowie andere notwendige Voraussetzungen wie Rechtsvorschriften und Finanzinstrumente bei der Förderung sozialwirtschaftlicher Unternehmen oft fehl, vor allem weil sie für gängige, traditionellere Unternehmensmodelle und deren Logik konzipiert sind. Zudem müssen sozialwirtschaftliche Unternehmen uneingeschränkt anerkannt und in den sozialen Dialog eingebunden werden.

5.   Beitrag der Zusammenarbeit und der Sozialwirtschaft zu den Zielen des sozialen Zusammenhalts und der Demokratie

5.1.

Die Demokratie bildet das Herzstück des Konzepts der Sozialwirtschaft und ist die Grundlage für die Dynamik sozialwirtschaftlicher Unternehmen. Innerbetriebliche Demokratie bedeutet, dass in den Entscheidungsgremien nach dem Prinzip „eine Person — eine Stimme“ gehandelt wird und unterschiedliche Arten von Akteuren wie Arbeitnehmer, Nutzer oder Begünstigte in die Unternehmensführung eingebunden werden.

Die Rolle der sozialwirtschaftlichen Unternehmen bei der Demokratisierung unserer Wirtschaft geht jedoch weit über das innerbetriebliche Handeln hinaus. So hat sie auch eine demokratische Dimension, durch die den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit geboten wird, sich an gemeinschaftlichen Aktivitäten zu beteiligen und einen Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs zu leisten. Insofern sind die Unternehmen der Sozialwirtschaft wahre Schulen der partizipativen Demokratie.

5.2.

Diese demokratische Funktion nehmen die sozialwirtschaftlichen Unternehmen auf unterschiedliche Art und Weise wahr: in Form ihres Angebots an Waren und Dienstleistungen, in Form der von ihnen gebotenen Alternativen, in Form der Lösungen, die sie für jene Bereiche anbieten, für die es sonst keinerlei Angebot gäbe, in Form des von ihnen mitgestalteten Raums für Meinungsäußerung und Debatte, in Form der von ihnen durchgeführten Lobbying- und Sensibilisierungsmaßnahmen. Sie müssen einem Geschäftsmodell gerecht werden, das Umweltfragen, die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern und die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer stärker berücksichtigt.

5.3.

Im Zusammenhang mit dem Beitrag der Sozialwirtschaft zum Zusammenhalt werden in der Regel hauptsächlich ihre Fähigkeiten zur „Problembewältigung“ genannt, also jene Aktivitäten, die auf besonders schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen ausgerichtet sind, sowie ihre Leistungen im sozialen und sozialmedizinischen Bereich. Diese Problemlösungskapazität der Sozialwirtschaft ist unbestreitbar und fester Bestandteil der Tätigkeit des gemeinnützigen Sektors. Nichtsdestoweniger müssen Zusammenhalt und Demokratie auch unter dem Gesichtspunkt der Maßnahmen und Verfahren betrachtet werden, die die sozialwirtschaftlichen Unternehmen anwenden, um ihre soziale Wirkung zu messen.

6.   Sozialer und territorialer Zusammenhalt — Konsolidierung eines integrierten europäischen Raums durch die Sozialwirtschaft

6.1.

Die Globalisierung, der Aufbau des europäischen Binnenmarkts und die großen industriellen Revolutionen haben in den einzelnen Gebieten zu tiefgreifenden Veränderungen geführt. Einzelne Regionen hatten oder haben immer noch schwer mit dem daraus resultierenden Niedergang der örtlichen Industriebetriebe und der Arbeitslosigkeit zu kämpfen.

6.2.

Die Volkswirtschaften der neuen Mitgliedstaaten haben lange und zuweilen beschwerliche Prozesse des Übergangs von kommunistischen Planungssystemen zu regulierten Marktwirtschaften durchlaufen. Die institutionellen und politischen Anpassungen hatten Folgen für die jeweiligen Gesellschaften und Volkswirtschaften sowie für die Migrationsströme. Diese Veränderungen betrafen auch die kleinen und mittleren Unternehmen, insbesondere den Genossenschaftssektor in allen diesen Ländern, der über Jahrzehnte hinweg und sogar noch während des Übergangs zu einem marktwirtschaftlichen System instrumentalisiert wurde. Die Entwicklung der Sozialwirtschaft in diesen Ländern könnte zu dem Ziel der EU beitragen, einen integrierten europäischen Raum zu konsolidieren, in dem die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten zwischen der EU-15 und den zwölf neuen ost- und südeuropäischen Mitgliedstaaten verringert bzw. beseitigt werden.

6.3.

In vielen Ländern dieser Region hat die Sozialwirtschaft zwar zunehmend an Prestige verloren, wurde aber als Wirtschaftsmodell jedoch nicht vollständig aufgegeben. Die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, Vereine und Verbände sowie Stiftungen werden ihrerseits nach einem halben Jahrhundert, in dem sie fast ganz verschwunden waren, parallel zur Entwicklung der Zivilgesellschaft, der sozialen Bewegungen und der Gewerkschaften in diesen Ländern nach und nach wiederentdeckt und ausgebaut. Die Entwicklung dieser „dritten Säule“ in den neuen Mitgliedstaaten sollte als Teil ihrer erfolgreichen Integration in das europäische Sozialmodell angesehen werden.

6.4.

Durch Aufklärungs- und Informationskampagnen über Geschichte, Traditionen und nationale Wurzeln der Sozialwirtschaft und der Genossenschaftsbewegungen dürften sich die negativen Bilder, die mit den Zwangsgenossenschaften der kommunistischen Regime verbunden sind, abschwächen und die neuen Formen sozialer Unternehmen mit den Traditionen der Sozialwirtschaft verbinden lassen.

6.5.

Parallel dazu versuchen Politiker, Unternehmer und Bevölkerung in Ländern mit einer starken sozialwirtschaftlichen Tradition, ihren Regionen neues Leben einzuhauchen und das entstandene wirtschaftliche und soziale Ungleichgewicht auszugleichen. Das Herzstück lokaler politischer Maßnahmen bildet vielerorts die Sozialwirtschaft in ihrer traditionellen, aber auch in ihrer neuen Ausprägung, die zur Stärkung des Zusammenhalts und des demokratischen Lebens beiträgt.

7.   Die sozialwirtschaftlichen Unternehmen stehen für soziale und wirtschaftliche Innovation

7.1.

Innovationen werden häufig als soziale oder gesellschaftliche Innovationen bezeichnet, ein Thema, das der EWSA bereits in früheren Stellungnahmen erörtert hat. Soziale Innovationen sind nicht nur von Nutzen für die Gesellschaft, sondern verbessern auch ihre Handlungsfähigkeit. Grundlage für soziale Innovation ist ein ethischer, ideologischer oder am Gemeinwohl orientierter Standpunkt, für den die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Gestaltung von Wohlfahrtssystemen ein Beispiel ist. Sozialwirtschaftliche Unternehmen sind Katalysatoren für soziale Innovation, da sie auf eine bestimmte Nutzergruppe oder einen nicht gedeckten Bedarf in der Gesellschaft ausgerichtet sind bzw. eine Lücke schließen.

7.2.

Es entsteht eine Vielzahl neuer Geschäftsmodelle, die die Beziehungen zwischen Herstellern, Händlern und Verbrauchern verändern (z. B. funktionale Wirtschaft, Sharing Economy und verantwortungsvolles Finanzwesen). Sozialwirtschaftliche Unternehmen sind nicht neu, aber entsprechen dieser Kategorie alternativer Wirtschaftsmodelle, da sie allesamt darauf abzielen, andere zentrale Herausforderungen für die Menschen und den Planeten anzugehen, die für eine nachhaltige Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind: soziale Gerechtigkeit, partizipative Governance und die Erhaltung der Ressourcen und des Naturkapitals. Die EU kann bei innovativen Wirtschaftsmodellen, die wirtschaftlichen Wohlstand, hochwertigen Sozialschutz und ökologische Nachhaltigkeit untrennbar miteinander verbinden, eine führende Rolle einnehmen und eine „europäische Marke“ etablieren. Dafür muss sie den entsprechenden Ehrgeiz an den Tag legen.

7.3.

In Belgien ermöglicht das Genossenschaftsprojekt SMART den als Selbständigen tätigen Anteilseignern, ihre Wirtschaftsaktivität in einem sicheren Rahmen zu entwickeln. SMART ist derzeit in neun europäischen Ländern mit insgesamt 120 000 Unternehmern vertreten.

7.4.

In Spanien steht die genossenschaftliche Unternehmensgruppe Mondragón seit mehr als 70 Jahren für einen bedeutenden Teil der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Baskenlands. Der Genossenschaftsverbund Mondragón beschäftigt heute mehr als 90 000 Mitarbeiter.

7.5.

In Frankreich haben die gemeinwohlorientierten Genossenschaften („société coopérative d’intérêt collectif“ — SCIC) in hohem Maße zur Begleitung und Wiedereingliederung von Personen in schwierigen Lebenslagen beigetragen. Sie sind zu Akteuren der territorialen Entwicklung geworden und führen Projekte zur lokalen Entwicklung durch.

7.6.

Immer mehr Unternehmer und Forscher im Digitalbereich agieren als Genossenschaften, als Unternehmen, die sich auf „immaterielle Güter“ berufen.

7.7.

Dasselbe gilt für den fairen Handel sowie die Produktion und den Vertrieb hochwertiger landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus biologischer oder nachhaltiger Landwirtschaft. Im Bereich Umweltschutz gibt es immer mehr sozialwirtschaftliche Initiativen.

7.8.

In der Sozialwirtschaft sind nicht nur Kleinunternehmen tätig. Einige dieser Unternehmen aus dem Banken- und Versicherungssektor (wie der Crédit coopératif in Frankreich oder die Gruppe P&V in Belgien) sind auf ihren heimischen Märkten führend. Auch Konsum- oder Vertriebsgenossenschaften sind in Europa beliebte Handelsstrukturen.

Brüssel, den 15. Mai 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 283 vom 10.8.2018, S. 1.

(2)  EWSA-Studie „Recent Evolutions of the Social Economy in the European Union“ (Die jüngsten Entwicklungen der Sozialwirtschaft in der Europäischen Union), 2017.

(3)  Verordnung (EU) Nr. 1296/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2013 über ein Programm der Europäischen Union für Beschäftigung und soziale Innovation („EaSI“) und zur Änderung des Beschlusses Nr. 283/2010/EU über die Einrichtung eines europäischen Progress-Mikrofinanzierungsinstruments für Beschäftigung und soziale Eingliederung (ABl. L 347 vom 20.12.2013, S. 238).