5.6.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 190/24


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank — Jahreswachstumsbericht 2019: Für ein starkes Europa in Zeiten globaler Ungewissheit“

(COM(2018) 770 final)

(2019/C 190/04)

Berichterstatterin: Anne DEMELENNE

Befassung

Europäische Kommission, 18.2.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

1.2.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.2.2019

Plenartagung Nr.

541

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

124/1/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Jahreswachstumsbericht enthält eine allgemein positive Bewertung der bisherigen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte in Bezug auf Wirtschaftswachstum, Investitionen und Arbeitsmarktentwicklungen. Trotz der begrüßenswerten Verbesserungen seit 2014 zeigen die vorgelegten Daten im Vergleich zu anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften bescheidene Ergebnisse.

1.2.

Im Jahreswachstumsbericht werden Gefahren durch externe Ereignisse aufgezeigt, aber keine geeigneten Gegenmaßnahmen vorgeschlagen. Externe Bedrohungen sollten als Notwendigkeit begriffen werden, Konjunkturmaßnahmen zur Stützung des Wachstums- und des Beschäftigungsniveaus vorzubereiten. Dies hat Auswirkungen auf den Haushalt der EU und die Haushalte der Mitgliedstaaten.

1.3.

Produktivitätszuwächse sind von entscheidender Bedeutung, um die Wettbewerbsposition der EU zu erhalten und den Wohlstand zu erhöhen. Reformen, die zur Steigerung der Produktivität führen können, sind zu begrüßen. Gleichwohl muss die frühere Politik angesichts der bislang gemischten Ergebnisse, einschließlich der langsamen wirtschaftlichen Erholung, anhaltender Bedenken hinsichtlich der Produktivität im Vergleich zu Wettbewerbern und der Zunahme prekärer Beschäftigung, eingehend evaluiert werden.

1.4.

Wie im Jahreswachstumsbericht hervorgehoben wird, hängt eine höhere Produktivität von Verbesserungen im Bereich Bildung und Ausbildung ab. Dies sollte von den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft sowie durch öffentliche und private Investitionen — einschließlich durch Investitionen der EU-Strukturfonds — gefördert werden.

1.5.

Die Bedeutung, die der sozialen Säule beigemessen wird, ist begrüßenswert. Allerdings sollte deutlicher dargelegt werden, wie sie in die Praxis umgesetzt werden soll, wie mit Hilfe des Europäischen Sozialfonds und anderer europäischer Instrumente Ressourcen bereitgestellt werden können und wie das auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten finanziert werden soll.

1.6.

Es werden Bereiche angesprochen, in denen neue Maßnahmen vorgeschlagen wurden, wie etwa gerechte Besteuerung, die Bankenunion und das Funktionieren des Euro-Währungsgebiets. Die Fortschritte gehen allerdings sehr langsam vonstatten und die Vorschläge fallen häufig eher bescheiden aus. Eine umfassende Einbeziehung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft wäre hilfreich.

1.7.

Die Bedeutung des Klimaschutzes wird zwar kurz erwähnt, er wird aber angesichts der mit dem Klimawandel verbundenen Risiken für die Wirtschaft, wie sie im „Global Risks Report“ (1) für das Weltwirtschaftsforum beschrieben sind, geradezu stiefmütterlich behandelt. Zudem fehlt eine Auseinandersetzung mit den externen Kosten der kohlenstoffbasierten Wirtschaft. Die bisherigen Klimaschutzmaßnahmen sind nach wie vor unzureichend. Ein wichtiger Schritt bestünde darin, den Jahreswachstumsbericht in „Jahresbericht über das nachhaltige Wachstum“umzubenennen. Damit würde nicht nur die Bedeutung des Klimawandels anerkannt werden, sondern auch, wie wichtig es ist, im Interesse der Wirtschaft und der kommenden Generationen mit endlichen Ressourcen nachhaltig umzugehen und die Umwelt zu schützen.

1.8.

In vielen Bereichen hängt die Umsetzung der Politik von Finanzierungen durch den privaten, aber auch durch den öffentlichen Sektor ab. Diese sollte sowohl durch Reformen zur Schaffung eines günstigen Umfelds für private Investitionen als auch durch einen angemessenen EU-Haushalt und die Verpflichtung zu einer „goldenen Regel“erleichtert werden, die die Finanzierung wirtschaftlich und sozial produktiver Investitionen aus den Haushalten der Mitgliedstaaten ermöglicht, ohne die künftige Haushaltssolidität zu gefährden.

2.   Die allgemeinen Prioritäten der Europäischen Kommission im Jahreswachstumsberichts 2019

2.1.

Der Jahreswachstumsbericht 2019 ist vor dem Hintergrund eines seit 22 aufeinanderfolgenden Quartalen andauernden Wachstums zu sehen, das die Chance für die Durchführung der notwendigen Reformen bietet, um den zunehmenden globalen Unsicherheiten und den möglichen internen Risiken zu begegnen, d. h.

die privaten und öffentlichen Investitionen erhöhen, um das Wachstum der totalen Faktorproduktivität zu steigern;

hochwertige Investitionen in FuE, Innovation, Bildung, Qualifikationen und Infrastrukturen erbringen;

die Produktivität, die Inklusion und die institutionelle Qualität steigern;

für gut funktionierende und integrierte Kapitalmärkte sorgen;

die makrofinanzielle Stabilität und solide öffentliche Finanzen gewährleisten.

3.   Allgemeine Bemerkungen zu den Empfehlungen der Europäischen Kommission

3.1.

Der EWSA begrüßt das fortgesetzte Engagement für die Reformen zur Steigerung hochwertiger Investitionen, des Produktivitätswachstums, der Inklusivität und der institutionellen Qualität und dass die makroökonomische Finanzstabilität sowie gesunde öffentliche Finanzen weiterhin sichergestellt werden sollen. Er begrüßt, dass die Notwendigkeit von Investitionen in Bildung und Ausbildung anerkannt und mehr Gewicht auf die Notwendigkeit gelegt wird, die soziale Dimension der EU zu stärken, die Ungleichheiten innerhalb und zwischen den Regionen sowie in Bezug auf den Zugang zu Bildung abzubauen und die politischen Instrumente aufeinander abzustimmen. Gleichwohl ist noch festzulegen, wie diese Ziele erreicht werden können, und die Bewertung der wirtschaftlichen Leistung entspricht nicht in allen Bereichen den Daten in den Anhängen und ist mitunter selbstgefällig: Positive Aspekte werden übertrieben und es werden nicht fundierte Behauptungen aufgestellt, die bisherige Politik habe positive Wirkungen.

3.2.

Es wird auf Gefahren und Unsicherheiten verwiesen, einschließlich Veränderungen in der Weltwirtschaft und der US-Handelspolitik und Ungewissheiten bezüglich der künftigen Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich. Angesichts des Risikos einer kurz- bis mittelfristigen Rezession müssen, wie von der OECD empfohlen, Konjunkturmaßnahmen für den Erhalt der Wachstums- und Beschäftigungsniveaus vorbereitet werden (2). Diesbezüglich sollte die Einrichtung einer Funktion der makroökonomischen Stabilisierung im Rahmen des EU-Haushalt erwogen werden, die dem Euroraum eine höhere Krisenfestigkeit verleihen würde. Damit könnten Schocks abgefedert und dem Euro-Währungsgebiet der vom EWSA geforderte positive haushaltspolitische Kurs (3) ermöglicht werden, selbst wenn einzelne Mitgliedstaaten ihren haushaltspolitischen Spielraum nicht in Übereinstimmung mit den europäischen Zielsetzungen nutzen.

3.3.

Nach der relativ enttäuschenden Wirtschafts- und Sozialbilanz in der Zeit nach 2008 bergen auch die internen politischen Entwicklungen Risiken. Dies zeigt ebenfalls die Bedeutung dieser Reformen und politischen Maßnahmen, die zu mehr Produktivität und Wirtschaftswachstum sowie zur Stärkung des Zusammenhalts und der sozialen Dimension der Politik führen würden.

3.4.   Wachstum

3.4.1.

Die EU befindet sich seit 2014 in einer fünfjährigen Phase des Wirtschaftswachstums, wobei die Wachstumsraten in einigen Ländern mit niedrigem Einkommen über dem EU-Durchschnitt liegen. Dadurch konnten die Unterschiede zwischen den höchsten und den niedrigsten Einkommen in der EU als Ganzes in gewissem Maße abgebaut werden, wenngleich einige Länder zurückgefallen und dadurch neue Unterschiede entstanden sind.

3.4.2.

Ab 2017 ist erstmals seit dem Ausbruch der Krise in allen EU-Mitgliedstaaten ein gewisses Wachstum zu verzeichnen. Trotzdem liegt das Wachstum in der gesamten EU immer noch unter dem Vorkrisenniveau und nimmt sich im Vergleich zum aktuellen Wachstum anderer fortgeschrittener Volkswirtschaften bescheiden aus. Zudem hat die EU nach der außergewöhnlich langen Rezession nach 2008 einen größeren Rückstand aufzuholen.

3.5.   Soziale Aspekte

3.5.1.

Sowohl das Beschäftigungsniveau als auch die Beschäftigungsquote haben sich seit den Jahren der Rezession nach 2008 erheblich erholt. Obwohl bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze tendenziell höhere Qualifikationsniveaus gefragt waren, wie aus den Daten im Anhang zum Jahreswachstumsbericht hervorgeht, ist gleichzeitig die Qualität vieler der neu geschaffenen Arbeitsplätze gesunken.

3.5.2.

Arbeitnehmer werden zunehmend auf der Grundlage von befristeten und Teilzeitverträgen eingestellt. Die Mehrheit von ihnen würde einen Standard- bzw. Vollzeitvertrag bevorzugen (4). Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten an der Gesamtbeschäftigung stieg zwischen 2008 und 2017 von 16,8 % auf 18,7 % an, mit höheren Niveaus und einer stärkeren Zunahme bei jungen Menschen. Obwohl heute mehr Menschen beschäftigt sind, liegt die Gesamtzahl der 2017 geleisteten Arbeitsstunden leicht unter dem Wert von 2008 (5).

3.5.3.

Laut Jahreswachstumsbericht ist die Erwerbstätigenarmut in mehreren Mitgliedstaaten hoch und steigt weiter an (2008: 8,6 %, 2017: 9,6 % der Erwerbsbevölkerung (6)). Ein höherer Stand der Gesamtbeschäftigung ist — auch wenn Beschäftigung der Arbeitslosigkeit vorzuziehen ist — kein Beleg für inklusives Wachstum.

3.5.4.

Bevölkerungsgruppen wie z. B. Bezieher von Invaliditätsleistungen werden häufig bei der Berechnung der Arbeitslosenquote nicht berücksichtigt (7). Dies sollte bei Empfehlungen berücksichtigt werden, insbesondere im Hinblick auf Flexibilität und Sicherheit für solche Personengruppen und um ihnen den Zugang zum offenen Arbeitsmarkt zu erleichtern, ohne dass sie dadurch Leistungsansprüche verlieren.

3.5.5.

Es sollte auch darauf geachtet werden, dass Menschen mit prekären und atypischen Arbeitsverträgen wie z. B. Selbstständigen, Teilzeitbeschäftigten oder über Plattformen Beschäftigten angemessener Sozialschutz gewährt wird. Ebenso Anlass zur Sorge geben Personen, die durch ihre Ausgaben aufgrund ihres Gesundheitszustands oder einer Behinderung nicht über die Runden kommen und die mitunter angemessene finanzielle Unterstützung für entsprechende Ausgaben verlieren, sobald sie sich in einer bezahlten Beschäftigung befinden.

3.5.6.

Die Kommission schlägt vor, den Sozialschutz an die neuen Formen der Beschäftigung anzupassen. Sicherlich müssen neue Finanzierungsquellen erschlossen werden. Anzustreben ist die Rückkehr zu hochwertigen Arbeitsplätzen, die den Arbeitsmarkterfordernissen entsprechen, und zu nachhaltigen Arbeitsverträgen, die ein Recht auf angemessenen Sozialschutz bieten. Die Diskriminierung von — häufig hoch qualifizierten — älteren Menschen, Menschen ausländischer Herkunft oder mit Behinderungen sowie von Jugendlichen oder Frauen auf dem Arbeitsmarkt muss ebenfalls bekämpft werden.

3.5.7.

Verweise auf die Gewährleistung eines breiteren Zugangs zu hochwertigen Dienstleistungen und die Verbesserung des Zugangs von Eltern (vor allem Frauen) zum Arbeitsmarkt sind zu begrüßen. Dies hat positive Auswirkungen auf die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung und die Verbesserung des Arbeitskräfteangebots. Maßnahmen zur Förderung der sozialen Integration von Einwanderern sollten auch als Teil einer Migrationspolitik gemäß den europäischen Werten der Solidarität und Toleranz sowie Wahrung der Menschenrechte gefördert werden.

3.6.   Löhne und Produktivität

3.6.1.

Die Löhne sind nur sehr gering gestiegen und zwischen den Ländern bestehen — selbst für die gleiche Arbeit — immer noch wesentliche Unterschiede. Das Lohnwachstum in der EU als Ganzes ist weiterhin niedriger als das Produktivitätswachstum.

3.6.2.

Das bedeutet, dass der Anteil der Löhne am Nationaleinkommen gesunken ist. Inwieweit die Vorteile der höheren Produktivität gleichmäßig verteilt werden, ist je nach Mitgliedstaat unterschiedlich und hängt vom Geltungsbereich erfolgreicher Tarifverhandlungen und der Politik zur Förderung des Lohnwachstums ab. Wenngleich eine höhere Produktivität normalerweise als notwendige, aber nicht hinreichende Vorbedingung für höhere Löhne anzusehen ist, darf die systematische Verbindung zwischen Produktivität (die auch von den Investitionen abhängig ist) und Löhnen nicht dazu führen, dass der Anstieg der Lebenshaltungskosten bei der Lohnbildung unberücksichtigt bleibt. Andernfalls können erhebliche soziale Spannungen auftreten.

3.6.3.

Niedrige Löhne sind auch ein Hindernis für eine höhere Produktivität in Niedriglohnländern, da die am besten qualifizierten Arbeitskräfte deshalb anderswo Arbeit suchen. Die Mobilität der Arbeitskräfte ist da zu begrüßen, wo sie der Wunschentscheidung von Einzelpersonen entspricht. Sie ermöglicht auch den Erwerb von Kompetenzen und Erfahrungen, die in das jeweilige Herkunftsland mitgenommen werden können. Gleichwohl verhindert die Abwanderung Hochqualifizierter auch Investitionen in Aktivitäten, die hohe Qualifikationsniveaus erfordern, weshalb Niedriglohnländer nicht in der Lage sind, die anspruchsvollsten wirtschaftlichen Aktivitäten zu entwickeln.

3.6.4.

In einer Reihe von Mitgliedstaaten (insbesondere in Mittel- und Osteuropa) führten höhere Mindestlöhne und höhere Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst zu einem höheren Lohnniveau. Ein höherer Verbrauch hat zur Steigerung des BIP beigetragen. Maßnahmen zur Gewährleistung eines Mindestlohns und Mindesteinkommens als Teil eines Prozesses der sozialen Konvergenz in der EU können ebenso zum Sozialschutz und zum Erreichen eines angemessenen Lebensstandards in allen Ländern beitragen und gleichzeitig das Wachstum unterstützen.

3.7.   Produktivität und Kompetenzen

3.7.1.

Auf eine längere Rezession nach 2008 folgten hinter den wichtigsten globalen Wettbewerbern zurückliegende Produktivitätszuwächse, wie in Abbildung 3 (8) dargestellt. Der Rückstand war im Euro-Währungsgebiet besonders stark ausgeprägt. Die Verringerung dieses Rückstands bedarf der Schaffung eines für höhere private Investitionen und die Nutzung von Forschung und Innovation zuträglichen Umfelds. Zudem muss dazu das gesamte Potenzial der EU-Bevölkerung genutzt, die Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft minimiert und in Maßnahmen zur Unterstützung der Rückkehr von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt investiert werden.

3.7.2.

Grundlegende Voraussetzung für die Erhöhung der Produktivität bleibt die Verbesserung von Kenntnissen, Kompetenzen, Qualifikationen, Einstellungen und Kreativität. Zudem trägt sie zu Demokratie und nachhaltiger Entwicklung bei. Zu Recht wird im Jahreswachstumsbericht auf die Bedeutung von Investitionen in Kompetenzentwicklung, Bildung und lebenslanges Lernen verwiesen. 40 % der Arbeitgeber berichten über Schwierigkeiten, angemessen qualifizierte Arbeitskräfte zu finden. Viele angehende Arbeitnehmer finden es auch schwierig, ihre Kompetenzen in ihren Heimatländern anzuwenden.

3.7.3.

Die Entwicklung von Strategien zur Antizipierung künftiger Kompetenzanforderungen in Kombination mit geeigneten Validierungssystemen für die betreffenden Kompetenzen sowie zur besseren Abstimmung von Bildung und Ausbildung auf den Beschäftigungsbedarf ist von grundlegender Bedeutung. Zudem sollten Arbeitgeber bei der Suche nach Arbeitnehmern mit angemessenen Kompetenzen und Qualifikationen auch durch Investitionen in Dienste unterstützt werden, die vor allem Angehörigen diskriminierter Gruppen wie Menschen mit Behinderungen oder mit Migrationshintergrund helfen, die Schule nicht abzubrechen bzw. ihre Hochschulausbildung fortzusetzen (9). Es ist eine wichtige Verantwortung der Arbeitgeber, den Ausbau von Kompetenzen und Qualifikationen zu ermöglichen und zu erleichtern — hier gibt es enorme Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten —, und die Konzipierung und Umsetzung erfolgreicher Strategien sind ohne die umfassende Beteiligung der Sozialpartner, Zivilgesellschaft, Bildungseinrichtungen und Ausbildungsbetrieben undenkbar. Laut Jahreswachstumsbericht sind für die Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs zu hochwertiger Bildung zudem „entsprechende Investitionen erforderlich“. Diese sollten öffentliche Investitionen umfassen, die durch die länderspezifischen Empfehlungen und eine angemessene Beteiligung der Strukturfonds und ihres Investitionsprogramms zu untermauern sind.

3.8.   Herausforderung des Klimawandels

3.8.1.

In puncto Gefahren infolge des Klimawandels und Fortschritte der EU beim Erreichen der in Paris vereinbarten Ziele ist der Jahreswachstumsbericht sehr vage und viel zu wenig aussagekräftig. Im Vergleich zum „Global Risks Report“ (10), der im Januar 2019 den Teilnehmern des Weltwirtschaftsforums vorgelegt wurde, wird die Relevanz des Klimawandels für Wachstum und Wirtschaft geradezu nebensachlich behandelt. Dabei zeigt der „Global Risks Report“dass die drei (!) größten Gefahren für die Weltwirtschaft in den Klimaveränderungen und den zu zaghaften Handeln der Politik bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft liegen. Klimaschutz ist somit längst keine Frage des Umweltschutzes mehr, sondern existentielle Voraussetzung für die Wirtschaft. Die von Bloomberg NEF erstellten regelmäßigen Berichte zeigen, dass Investitionen in saubere Energien seit 2011 rückläufig sind (11). Die EU kann hier oder bei Innovationen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen keine weltweite Führungsposition beanspruchen.

3.8.2.

Im Bericht des Weltklimarats (IPCC) wird auf die Dringlichkeit von Maßnahmen gegen den Klimawandel verwiesen, der in drei Jahren unumkehrbar sein könnte. Deshalb müssen auf allen Regierungs- und Verwaltungsebenen (öffentliche und private Investitionen) Finanzmittel für die Modernisierung und Dekarbonisierung der Industrie, des Verkehrs und der Energie eingesetzt werden.

3.8.3.

Dies ist auch wegen der extrem hohen externen Kosten der heutigen Wirtschaft fiskalpolitisch geboten. Der Jahreswachstumsbericht klammert diese Frage aber weitgehend aus, obwohl die Kommission quasi zeitgleich mit dem Jahreswachstumsbericht entsprechende Zahlen veröffentlicht hat: Danach haben allein wetterbedingte Katastrophen 2017 Kosten in Höhe von 283 Mrd. EUR verursacht (12). Der EWSA hat mehrfach darauf hingewiesen, dass der Internationale Währungsfonds die direkten und indirekten Subventionen in kohlenstoffbasierte Energieproduktionen in der EU auf 330 Mrd. USD pro Jahr beziffert. Es ist deshalb ein Mangel des Jahreswachstumsberichts, dass die Frage der Internalisierung externer Kosten sowie die Debatte „über das BIP hinaus“nicht angegangen wird.

3.9.   Investitionen

3.9.1.

Investitionen sind für Produktivitätszuwächse von entscheidender Bedeutung. Die Frage ist dringlich für die EU, da sie in entscheidenden Spitzentechnologiebranchen und in der Entwicklung kohlenstoffarmer Technologien hinter den wichtigsten Wettbewerbern zurückliegt. Eine sich kontinuierlich verbessernde Wirtschaft ist eine unentbehrliche Grundlage für die Finanzierung von Sozialschutz- und Gesundheitsleistungen auf dem von den europäischen Bürgern gewünschten Niveau. Sicher ist ein hohes Maß an Wohlstand, Zusammenhalt und sozialer Gerechtigkeit mit dem Wachstum von Wirtschaft und Produktivität vereinbar (13).

3.9.2.

Der EWSA bekräftigt seinen Appell an die Kommission und die Mitgliedstaaten, ihre Bemühungen zur Beseitigung von Investitionsengpässen und zur Schaffung eines investitionsfreundlichen Klimas zu verstärken. Durch die Vollendung der Energieunion, der Strategie für einen digitalen Binnenmarkt und des Aktionsplans für die Kreislaufwirtschaft könnten Investitionsmöglichkeiten entstehen. Darüber hinaus sollten neue Möglichkeiten für „grüne“Investitionen in den Klimaschutz erwogen werden.

3.9.3.

Auch internationale Handelsabkommen können Perspektiven für die Stimulierung des Wirtschaftswachstums bieten. Die Frage ist angesichts der Gefahren durch einen eventuellen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und Handelskonflikte mit den Vereinigten Staaten besonders dringlich. Die EU sollte ein regelbasiertes System internationaler Wirtschaftsbeziehungen unterstützen, das durch die Aushandlung von Freihandelsabkommen ergänzt wird. Bei diesen Abkommen sollten minimale Zölle angestrebt sowie die Menschenrechte, die IAO-Normen und das Recht der Staaten angemessen berücksichtigt werden, im öffentlichen Interesse Rechtsvorschriften zu erlassen.

3.9.4.

Im Jahreswachstumsbericht ist von Sorge über die Höhe der Investitionen keine Rede. Es wird darauf hingewiesen, dass die nach 2008 festzustellende Lücke nahezu geschlossen wurde. Als Bruttoanlageinvestitionen verstandene Investitionen erreichten 2018 20,6 % des BIP, im Vergleich zu 22,5 % im Jahr 2007 und 19,4 % im Jahr 2014 (14). Die Investitionslücke kann anhand dieser Zahlen zwar als etwas verringert, aber nicht als geschlossen bezeichnet werden.

3.9.5.

Die Investitionen bleiben im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und Südkorea — die zu den traditionellen Wettbewerbern der EU bei Innovationen gehören — auf einem niedrigen Niveau. In einer Reihe von Niedriglohnländern und Ländern mit den größten Rückgängen nach 2008 ist dieser Stand nach wie vor besonders niedrig.

3.9.6.

Im Jahreswachstumsbericht werden einige vorrangige Bereiche für soziale Investitionen ausgemacht, u. a. Gesundheit, Langzeitpflegesysteme und öffentlicher Wohnungsbau. Der EWSA hat die vielen positiven Auswirkungen von sorgfältig geplanten, wirksamen und effizienten sowie zukunftsorientierten Sozialinvestitionen herausgestellt, die nicht als Kosten, sondern vielmehr als Investitionen in das Wachstums- und Beschäftigungspotenzial Europas zu verstehen sind (15). Die Umsetzung dieser Ziele erfordert Spielraum für öffentliche Ausgaben.

3.9.7.

Die Investitionsoffensive für Europa wird als ein Mittel zur Förderung von Investitionen begrüßt, die auf die politischen Prioritäten der EU zugeschnitten sind. Gleichwohl sind die zur Verfügung gestellten Mittel begrenzt und konnten in aggregierter Form lediglich den Gesamtbetrag der EIB-Kredite halten, nicht aber erhöhen (16). Diese lagen 2017 7 % unter dem durchschnittlichen Niveau der Jahre 2013-2016 (17).

3.9.8.

Erforderlich ist ein Konzept mit einem angemessen finanzierten Investitionsprogramm, das Mittel aus dem EU-Haushalt, die durch die Haushalte der Mitgliedstaaten ergänzt werden, umfasst. Dadurch kann die EU ihre anvisierten Ziele in puncto Unterstützung der Entwicklung von KMU, Investitionen in neue Technologien zur Förderung des angestrebten ökologischen Wandels sowie Investitionen in die Verbesserung des Bildungs- und Qualifikationsniveaus und der sozialen Bedingungen besser erreichen. Der EWSA hat bereits darauf hingewiesen, dass die derzeit unter dem Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) gewährte Flexibilität unzureichend ist, und dass auf Ebene der EU Diskussionen über eine vollumfängliche Regelung, die im Allgemeinen als „goldene Regel“bezeichnet wird, in Gang gesetzt werden sollten, damit wertschöpfende öffentliche Investitionen vom Geltungsbereich des SWP ausgenommen werden, um einen tragfähigen Schuldenstand sicherzustellen (18).

3.10.   Schulden

3.10.1.

Der EWSA teilt im Einklang mit seiner früheren Stellungnahme (19) die im Jahreswachstumsbericht geäußerte Sorge, dass hohe öffentliche und private Schuldenstände — vor allem im Euroraum — ständig für Anfälligkeit sorgen. Der öffentliche Bruttoschuldenstand ging von seinem Höchstniveau von 88,1 % des BIP im Jahr 2014 auf 81,4 % des BIP im Jahr 2018 zurück und liegt damit immer noch weit über dem Stand von 2008 und dem Zielwert von 60 % des BIP. Gleichwohl zeigen internationale Vergleiche, dass öffentliche Schuldenstände über 60 % des BIP nicht unbedingt mit einem langsameren Wirtschaftswachstum einhergehen. Der Abbau der öffentlichen Verschuldung scheint bei hohem Wirtschaftswachstum am einfachsten zu sein. Der wirksamste Schutz gegen die mit einem hohen Schuldenstand verbundenen Gefahren ist daher die umfassende Ankurbelung des Wirtschaftswachstums durch antizyklische makroökonomische Maßnahmen. Zudem ließen sich durch eine wachstumsfreundliche Haushaltskonsolidierung in guten Zeiten negative Reaktionen des Marktes in schlechten Zeiten verhindern.

3.10.2.

Die private Verschuldung ist in den letzten Jahren gesunken, liegt aber in den meisten EU-Mitgliedstaaten immer noch über dem Stand vor der Einführung des Euro. Der Schuldenabbau bei Haushalten und Unternehmen verläuft bei hohem Wirtschaftswachstum rascher und weniger mühevoll. Die Destabilisierung der Volkswirtschaften des Euroraums durch einen prozyklischen Wohnungsmarkt muss aufmerksam beobachtet und durch regulatorische Maßnahmen zur Vermeidung von Wirtschaftskrisen verhindert werden.

3.10.3.

Hochwertige Institutionen, wie sie den leistungsfähigsten Wirtschaften eigen sind, erleichtern den Schuldenabbau. Sie gewährleisten die Effizienz der Waren-, Dienstleistungs-, Finanz- und Arbeitsmärkte, helfen, eine angemessene Qualität der öffentlichen Verwaltung zu erreichen, und unterstützen eine angemessene Renten-, Wettbewerbs- und Steuerpolitik.

3.11.   Bankenunion

3.11.1.

Die gegenwärtigen Vorschläge für die Bankenunion sind angesichts der Erfahrungen der vergangenen Finanzkrisen unzureichend. Es sollten Maßnahmen ergriffen werden, um expandierende Kapitalmärkte angemessen zu überwachen, damit keine schädlichen verbrieften Produkte, die zur nächsten Finanzkrise beitragen könnten, in die europäischen Kapitalmärkte geleitet werden können. Aufsichtsorgane in der EU müssen sicherstellen, dass die Kapitalmarktunion in Zeiten angespannter Kapitalmärkte nicht zu einer beschleunigten Kapitalflucht aus einzelnen Mitgliedstaaten führt. Um günstige Finanzierungsbedingungen für die Realwirtschaft zu gewährleisten, sollte die negative Rückkopplung zwischen Banken und Zinssätzen auf Staatsanleihen abgemildert werden. Zwei wesentliche Elemente hierfür sind eine europäische Einlagenversicherung und die Bereitstellung einer geeigneten Letztsicherung („Backstop“) für den einheitlichen Abwicklungsfonds durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus. Vor der Einführung eines europäischen Einlagenversicherungssystems sollten die Bilanzen der teilnehmenden Banken so gründlich wie möglich von notleidenden Krediten bereinigt werden.

3.12.   Reform des Euro-Währungsgebiets

3.12.1.

Die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) sollte mit mehr Einfallsreichtum und Entschlossenheit betrieben werden. Die Vorschläge für die Reform der WWU und ihrer Steuerung reichen derzeit nicht aus, um vor den Gefahren asymmetrischer Schocks zu schützen. Der vorherige einseitige, ausschließlich schuldnerorientierte Ausgleich der Leistungsbilanzen war dem gesamten BIP des Euro-Währungsgebiets abträglich und hat zu seiner schleppenden Erholung nach 2008 beigetragen. Um den Ländern mit früherem Leistungsbilanzdefizit mehr Raum für die Entwicklung ihrer Volkswirtschaften zu geben (im Sinne des Haushaltssaldos und der Außenbilanz), sollten die Länder mit Leistungsbilanzüberschuss nicht nur dazu angehalten werden, mehr zu investieren, sondern auch ihre Löhne und Sozialleistungen zu erhöhen, um den privaten Verbrauch zu fördern.

3.12.2.

Der EWSA fordert die europäischen Entscheidungsträger nachdrücklich auf, die Reformen im Hinblick auf die WWU, die Bankenunion und die Kapitalmarktunion zu beschleunigen. Solange das Euro-Währungsgebiet allerdings über keinen gemeinsamen Haushalt verfügt, der einen positiven haushaltspolitischen Kurs für das Euro-Währungsgebiet als Ganzes ermöglicht, werden bei künftigen Rezessionen nach wie vor geldpolitische Impulse nötig sein. Mit dem absehbaren Ende der EZB-Programme zum Ankauf von Vermögenswerten Ende 2018 empfiehlt der EWSA der EZB, ein Programm zum Ankauf von Vermögenswerten zu erwägen, das während einer Rezession rasch aktiviert werden kann, falls Konjunkturmaßnahmen nicht greifen. Das Programm sollte auf die Realwirtschaft und klimafreundliche Investitionen ausgerichtet sein.

3.13.   Faire Besteuerung

3.13.1.

Angesichts der Diskussionen innerhalb der Europäischen Kommission darüber, ob die Besteuerung künftig unter die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit fallen könnte, spricht sich der EWSA weiterhin dafür aus, den Schwerpunkt auf eine gerechte Steuerpolitik zu legen, d. h. die Fähigkeit des Einzelnen zu berücksichtigen, einen Beitrag zu leisten. Der EWSA unterstützt im Einklang mit früheren Stellungnahmen die Entwicklung einer allgemein akzeptierten gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage als Mittel zur Stärkung des Binnenmarktes, indem die Besteuerung größerer Unternehmen vereinfacht und aggressive Steuerplanung bekämpft wird (20). Zudem begrüßt er Initiativen zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft, da es seiner Auffassung nach sehr wichtig ist, allseits akzeptable neue Regeln für die Zuordnung von Unternehmensgewinnen nach Maßgabe der Wertschöpfung zu einem EU-Mitgliedstaat und für die entsprechende Besteuerung dieser Gewinne zu entwickeln (21). Außerdem begrüßt er die Bedeutung, die im Einklang mit früheren Stellungnahmen des EWSA (22) der Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuerhinterziehung und aggressiver Steuerplanung im Jahreswachstumsbericht beigemessen wird.

3.14.   Strukturreformen

3.14.1.

Im Jahreswachstumsbericht wird erneut betont, wie wichtig Strukturreformen sind, die zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Verringerung des Schuldenstands beitragen. Unklar bleibt indes, was unter „Strukturreformen“zu verstehen ist. Dadurch lassen sich Behauptungen bezüglich der nachweislich positiven Auswirkungen vergangener Reformen nur schwer einordnen. Der EWSA ist in früheren Stellungnahmen für auf soziale und wirtschaftliche Entwicklung ausgerichtete Strukturreformen eingetreten: mehr und bessere Arbeitsplätze, besserer Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildung, Ausbildung und Kompetenzerwerb, nachhaltiges Wachstum, Qualität der Verwaltung und der Institutionen sowie Umweltverträglichkeit (23). Er plädierte dafür, dass solche Reformen länderspezifisch sein und im Einklang mit nationalen Reformprogrammen (NRP) durchgeführt werden sollten, um den Wohlstand zu fördern, und Rückhalt durch demokratische Unterstützung zu erfahren. Eine Einheitslösung für alle Mitgliedstaaten sollte vermieden werden (24).

3.14.2.

Die bescheidenen jüngsten Entwicklungen in puncto Wachstum und Arbeitsmarkt werfen Fragen nach dem Nutzen einiger bisheriger Maßnahmen auf, die unter dem Etikett „Strukturreform“durchgeführt wurden. Die Zahl der Beschäftigten hat sich im Zuge der steigenden Nachfrage zwar erhöht, aber dies ist häufig mit einer Verschlechterung der Qualität der Arbeitsplätze und mit einer zunehmenden Segmentierung des Arbeitsmarkts verbunden.

3.14.3.

Die Ergebnisse der bisherigen „Strukturreformen“geben weiterhin Anlass zu Kontroversen. Einige Bewertungen fielen positiv aus seitens der Arbeitgeber, die eine gewisse Zufriedenheit mit den Arbeitsmarktreformen geäußert haben sollen (25). Allerdings gibt es auch zahlreiche Veröffentlichungen, die ernsthafte Zweifel an den bisherigen arbeitsmarktpolitischen Empfehlungen der Europäischen Kommission aufkommen lassen (26). Daher wird in der letzten Beschäftigungsstrategie der OECD nun auf der Grundlage „neuer Erkenntnisse“argumentiert, dass Länder mit Maßnahmen und Einrichtungen zur Förderung der Qualität und Quantität der Arbeitsplätze sowie mehr Inklusion bessere Ergebnisse erzielen als diejenigen, in denen der Schwerpunkt in erster Linie auf der Erhöhung oder dem Erhalt der Marktflexibilität liegt (27).

3.14.4.

Der EWSA wiederholt seine Einschätzung, dass die erfolgreiche Durchführung — oder das Scheitern — bestimmter Reformmaßnahmen sich häufig erst nach mehr als fünf Jahren zeigt (28). Die Auswirkungen der als „Strukturreformen“eingeführten Maßnahmen der Vergangenheit sollten evidenzbasiert und unter umfassender Einbeziehung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft bewertet werden. Diese Bewertung sollte dann als Ausgangspunkt für künftige politische Empfehlungen dienen (29).

3.15.   Europäische Säule sozialer Rechte

3.15.1.

Der EWSA begrüßt, dass die Bedeutung der Säule sozialer Rechte anerkannt wird und bekräftigt, dass sie angesichts der schlechten Wirtschafts- und Sozialbilanz in vielen Ländern seit 2008 dringend der praktischen Umsetzung bedarf.

3.15.2.

Die soziale Säule sollte uneingeschränkt in das Europäische Semester integriert und nicht nur als Anhang beigefügt werden. Der beigefügte sozialpolitische Anzeiger (Scoreboard) gibt einen Hinweis auf das Ausmaß der bevorstehenden Aufgaben, wenn die EU ein AAA-Rating im sozialen Bereich erreichen möchte. Ganz eindeutig wurde nicht in allen Mitgliedstaaten ein annehmbares Niveau in puncto Einkommen, Lebensstandard, soziale Sicherheit, Sozialleistungssysteme, Bildungsabschluss und digitaler Zugang erreicht (30).

3.15.3.

Die europäische Säule sozialer Rechte sollte dazu genutzt werden, die Berücksichtigung der Empfehlungen an die Mitgliedstaaten zu messen. Die 20 Grundsätze der Säule sollten als Anzeiger bei der Bewertung dienen, inwiefern es den Mitgliedstaaten gelungen ist, ihr Engagement für die soziale Säule in ihre Wirtschaftspolitik zu integrieren.

3.15.4.

Dies macht auch deutlich, dass angemessene Finanzmittel einschließlich Beiträge seitens der EU notwendig sind. Eine angemessen finanzierte Investitionsoffensive der EU und die EU-Kohäsionspolitik können beide in Abstimmung mit den länderspezifischen Empfehlungen dazu einen Beitrag leisten. Das setzt voraus, dass im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakt angemessene Flexibilität gewährt wird. Wie bereits in einer früheren Stellungnahme ausgeführt, sind auch weiterhin angemessene Mittel für die Kohäsionspolitik aus dem EU-Haushalt erforderlich (31).

3.15.5.

Zudem sollte der von Präsident Juncker in seiner Rede zur Lage der Union 2017 unterbreitete Vorschlag, eine Europäische Arbeitsbehörde einzurichten, sorgfältig erwogen werden. Diese könnte dazu beitragen, die in der EU geltenden Arbeits- und Sozialversicherungsrechte wirksam durchzusetzen und unlauteren Wettbewerb zu bekämpfen.

3.15.6.

Das zusammen mit der sozialen Säule eingerichtete Scoreboard sollte als Leitfaden für politische Empfehlungen, aber auch als Beispiel für ähnliche Analysen der Leistung der einzelnen Länder in Bezug auf Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen genutzt werden, so dass diese mit der gleichen Seriosität bewertet werden können.

3.15.7.

Da nachhaltiges Wachstum in sozialer, wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Hinsicht gefördert werden muss, sollte der Jahreswachstumsbericht in „Jahresbericht über das nachhaltige Wachstum“umbenannt werden.

3.16.   Die Rolle der Sozialpartner im Europäischen Semester

3.16.1.

Die Regierungen der Mitgliedstaaten, die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft müssen sich über die wesentlichen nationalen Reformen einigen, die die besten Voraussetzungen für ihre Volkswirtschaften schaffen, den Lebensstandard ihrer Bürger zu erhalten oder zu erhöhen. Deshalb sollten auch die lokalen Beauftragten für das Europäische Semester, die nationalen Räte für Finanzpolitik, die nationalen Ausschüsse für Produktivität und die nationalen Wirtschafts- und Sozialräte beteiligt werden. Die Mitglieder des EWSA können diesbezüglich ebenfalls eine Rolle spielen.

Brüssel, den 20. Februar 2019.

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Global Risks Report 2019 des Weltwirtschaftsforums.

(2)  OECD Economic Outlook November (OECD-Wirtschaftsausblick) 2018: „Editorial“of the Chief Economist (Leitartikel des Chefökonomen), und „General Assessment of the Macroeconomic Situation“ (Allgemeine Bewertung der makroökonomischen Lage) S. 43-46.

(3)  Ergänzende Stellungnahme des EWSA zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets 2018 (ABl. C 62 vom 8.6.2018, S. 312).

(4)  COM(2018) 761 final, S. 14.

(5)  COM(2018) 761 final, S. 14.

(6)  COM(2018) 761 final, S. 41.

(7)  Aus dem Gemeinsamen Beschäftigungsbericht 2018 der Europäischen Kommission geht hervor, dass sich nur 47,4 % der Erwerbspersonen mit Behinderungen in einem Beschäftigungsverhältnis befinden.

(8)  COM(2018) 770 final, S. 6.

(9)  Laut dem gemeinsamen Beschäftigungsbericht 2018 der Europäischen Kommission ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit Behinderungen die Schule abbrechen (auf der Grundlage der Zahlen von 2015) um 10,3 Prozentpunkte höher als bei Menschen ohne Behinderung und die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Hochschulausbildung abschließen (auf der Grundlage der Zahlen von 2015) um 13,6 Prozentpunkte niedriger als bei Menschen ohne Behinderung.

(10)  Global Risks Report 2019 des Weltwirtschaftsforums.

(11)  Bloomberg NEF – Clean Energy Investment Trends (Trends bei Investitionen in saubere Energien), 3. Quartal 2018.

(12)  COM(2018) 773 final.

(13)  Stellungnahme des EWSA zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets 2017 (ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 33).

(14)  AMECO-Datenbank.

(15)  Stellungnahme des EWSA zur Finanzierung der Europäischen Säule sozialer Rechte (ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 1).

(16)  Stellungnahme des EuRH zum EFSI: Der Vorschlag zur Verlängerung und Aufstockung des EFSI ist verfrüht, S. 23.

(17)  EIB, Statistischer Bericht 2017.

(18)  Stellungnahme des EWSA zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets 2018, Ziffer 3.4 (ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 216).

(19)  Stellungnahme des EWSA zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets 2018 (ABl. C 197 vom 8.6.2018, S. 33).

(20)  Stellungnahme des EWSA zu einer gemeinsamen (konsolidierten) Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 58).

(21)  Stellungnahme des EWSA zur Besteuerung der Gewinne multinationaler Unternehmen in der digitalen Wirtschaft (ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 73).

(22)  Stellungnahme des EWSA zu einer gemeinsamen (konsolidierten) Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 18).

(23)  Beispielsweise Verbesserung der Rahmenbedingungen und Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen sowie FuE-Ausgaben; Steigerung der Produktivität von Unternehmen, einzelnen Branchen und der Volkswirtschaft; Förderung der Schaffung qualifizierter Arbeitsplätze mit höheren Löhnen bei gleichzeitigem Abbau von befristeten und prekären Beschäftigungsverhältnissen im Niedriglohnbereich; Stärkung von Tarifverhandlungen und der Autonomie der Sozialpartner in diesem Bereich sowie des sozialen Dialogs auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene; Reform der öffentlichen Verwaltungen, damit sie wirkungsvoller der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung dienen können und für die Öffentlichkeit transparenter sind; Förderung hochwertiger Bildungs- und Berufsbildungssysteme für Arbeitnehmer im Sinne von Chancengleichheit und positiven Ergebnissen für alle gesellschaftlichen Gruppen.

(24)  Stellungnahme des EWSA zur Finanzierung der Europäischen Säule sozialer Rechte, Ziffer 2.5 (ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 1).

(25)  EZB, Structural policies in the euro area (Strukturpolitische Maßnahmen im Euro-Währungsgebiet).

(26)  A. Piasna & M. Myant (Hrsg.), Myths of Employment Deregulation: How it neither creates jobs nor reduces labour market segmentation (Mythen der Beschäftigungsderegulierung: weder neue Arbeitsplätze noch eine geringere Segmentierung des Arbeitsmarkts), Brüssel, ETUI, 2017.

(27)  Good Jobs for All in a Changing World of Work, The OECD Jobs Strategy (Gute Jobs für alle in einer Arbeitswelt im Wandel, Die Beschäftigungsstrategie der OECD), S. 8.

(28)  Stellungnahme des EWSA zum Reformhilfeprogramm (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 121).

(29)  Stellungnahme des EWSA zum Reformhilfeprogramm (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 121).

(30)  Stellungnahme des EWSA zur Finanzierung der Europäischen Säule sozialer Rechte (ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 1).

(31)  Stellungnahme des EWSA zum Mehrjährigen Finanzrahmen nach 2020 (ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 106).