6.12.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 440/135


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zum Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbstständige“

(COM(2018) 132 final)

(2018/C 440/22)

Berichterstatterin:

Giulia BARBUCCI

Befassung

Europäische Kommission, 14.5.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 292 in Verbindung mit Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe c, Artikel 153 Absatz 2 Unterabsatz 3 und Artikel 352 AEUV

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

19.7.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.9.2018

Plenartagung Nr.

537

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

148/39/32

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist im Einklang mit grundlegenden internationalen Verträgen der Ansicht, dass jede Person in allen Lebensphasen das Recht auf ein würdevolles Leben, sozialen Schutz sowie Schutz vor allen großen Gefährdungen am Arbeitsplatz genießen sollte, einschließlich Gesundheitsversorgung und des Rechts auf einen angemessenen Ruhestand im Alter. Eine adäquate Absicherung für Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen und Selbstständige würde zu diesem Ziel beitragen und den Grundsätzen der europäischen Säule sozialer Rechte entsprechen, die jetzt verwirklicht werden müssen. Es muss gewährleistet werden, dass diese Personengruppen Zugang zu Krankheits- und Gesundheits-, Mutter- und Elternschafts-, Invaliditäts- und Altersversorgungsleistungen haben und Beiträge ins System leisten.

1.2.

Der EWSA macht darauf aufmerksam, dass der Zugang zu Sozialschutzsystemen ein entscheidendes Element für gerechtere Gesellschaften und eine grundlegende Komponente für produktive, gesunde und aktive Arbeitskräfte ist. Die Wiederherstellung sozialer Nachhaltigkeit (1) als Grundsatz bei der Gestaltung und Umsetzung von EU-Maßnahmen, mit dem übergeordneten Ziel, gleiche Ausgangsbedingungen im Sozialbereich zu schaffen, sodass alle nach gleichen Regeln und unter vergleichbaren Bedingungen Zugang zum Sozialschutz erhalten, sollte ein gemeinsames Ziel von Institutionen aller Ebenen, der organisierten Zivilgesellschaft und der Sozialpartner sein.

1.3.

Der EWSA empfiehlt, dass die Mitgliedstaaten die Empfehlung erforderlichenfalls mittels spezieller Aktionspläne umsetzen, die u. a. auf jene Schwachstellen abzielen, die in der Folgenabschätzung der Europäischen Kommission zu der Empfehlung umrissen werden, und auch darüber Bericht erstatten, wobei die Sozialpartner und die organisierte Zivilgesellschaft umfassend beteiligt werden sollten.

1.4.

Der EWSA begrüßt die wichtigsten Auswirkungen, die von der Umsetzung der Empfehlung erwartet werden, da sie Bürgern, Arbeitnehmern und Unternehmen zugutekommen werden: u. a. eine stärkere Risikoteilung, ein höheres Maß an Einkommenssicherheit, eine Steigerung der Arbeitsmarktdynamik, eine höhere Produktivität, eine bessere Ressourcenzuweisung sowie eine Verringerung von Unsicherheit und Armut für den Einzelnen.

1.5.

„Der EWSA plädiert für eine umfassende Lösung der Problematik der Anerkennung von Sozialversicherungsansprüchen für Arbeitnehmer in den neuen Formen der Beschäftigung; sie könnte im Rahmen einer allgemeinen Reform der Finanzierung des Systems gefunden werden. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, nach Lösungen für die Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherheit zu suchen und dabei die Ressourcen so einzusetzen, dass die langfristige Tragfähigkeit gewährleistet ist und zugleich Personen Zugang verschafft wird, die in den neuen Formen der Arbeit tätig sind“ (2).

1.6.

Der EWSA empfiehlt, dass Initiativen, die im Rahmen der Empfehlung ergriffen werden, angemessene Leistungen und Vorschriften enthalten sollten, einschließlich der Absicherung von Menschen, die die unteren Schwellenwerte für Ansprüche nicht erreichen können, insbesondere arbeitsunfähige Menschen und deren Familien. Der EWSA bedauert, dass das Grundeinkommen in der Empfehlung verworfen wurde, wie in der Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen — Folgenabschätzung (3) dargelegt wird. Der EWSA hatte bereits 2013 eine europäische Richtlinie zur Einführung eines europäischen Mindesteinkommens gefordert, da dies „zum wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt, zum Schutz der grundlegenden Menschenrechte, zu einem Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen und zu einer gerechten Verteilung von Ressourcen und Einkommen beitragen“ würde (4).

1.7.

Alter und Geschlecht spielen eine wichtige Rolle beim Ausschluss von Menschen aus Sozialversicherungssystemen: Diese Faktoren sollten bei der Festlegung von Maßnahmen im Rahmen der Empfehlung besonders berücksichtigt werden.

1.8.

Der EWSA weist darauf hin, dass vor allem dann, wenn Maßnahmen auf der nationalen Ebene festgelegt und umgesetzt werden, die Wirksamkeit der Absicherung und des Zugangs zu den Systemen gewährleistet und aufrechterhalten werden sollte; die Übertragbarkeit sozialer Rechte sollte berücksichtigt werden, wenn eine Person zwischen unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen auf dem Arbeitsmarkt und zwischen verschiedenen Systemen und Kumulierungen von Ansprüchen wechselt.

1.9.

Der EWSA hält es für erforderlich, die Komplexität der Rechtsvorschriften und andere Verwaltungsaspekte anzugehen, um vollständige Transparenz zu gewährleisten, damit sich die Menschen ihrer Pflichten und Rechte stärker bewusst sind und diese besser kennen; dies könnte auch durch eine höhere Qualität der statistischen Daten erfolgen (aufgeschlüsselt nach Art des Beschäftigungsverhältnisses, Alter, Geschlecht, Behindertenstatus, Staatsangehörigkeit usw.).

2.   Einleitung

2.1.

Die Empfehlung zum Sozialschutz ist eine der Initiativen, die von der Kommission im Rahmen der europäischen Säule sozialer Rechte ergriffen wurden. Die Empfehlung und ihre Grundprinzipien stehen im Einklang und sind kohärent mit mehreren der zwanzig zentralen Grundsätze der europäischen Säule sozialer Rechte und der Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen. Grundsatz 12 besagt insbesondere Folgendes: „Unabhängig von Art und Dauer ihres Beschäftigungsverhältnisses haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und unter vergleichbaren Bedingungen Selbstständige das Recht auf angemessenen Sozialschutz“ (5).

2.2.

Hauptziel der Initiative ist es, allen Arbeitnehmern, insbesondere den Arbeitnehmern in atypischen Beschäftigungsverhältnissen, sowie Selbstständigen konkreten und wirksamen Zugang zu Sozialschutzmaßnahmen zu garantieren. Außerdem soll sie die Mitgliedstaaten dabei unterstützen bzw. deren Bemühungen ergänzen, Lücken zu schließen und allen Erwerbstätigen unabhängig von ihrem Beschäftigungsstatus fairen und angemessenen Zugang zum Sozialschutz zu gewähren (6).

2.3.

Die Empfehlung zielt in erster Linie auf „die Beseitigung oder den Abbau der Hindernisse ab, die Sozialschutzsysteme in ihrer Fähigkeit beeinträchtigen, einen angemessenen Sozialschutz von Personen unabhängig von der Art ihres Beschäftigungsverhältnisses oder des Arbeitsmarktstatus zu gewährleisten, und achtet gleichzeitig die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit“ (7).

2.4.

Außerdem soll mit dieser Empfehlung sichergestellt werden, dass alle Zugang zu einem angemessenen Sozialschutzniveau haben: „[D]ie Schwellenwerte hinsichtlich Einkommen und Dauer (Beitragszeiten, Wartezeiten, Mindestarbeitszeiten, Dauer der Leistungsgewährung) können einigen Gruppen atypischer Arbeitnehmer und den Selbstständigen den Zugang zum Sozialschutz ungebührlich erschweren.“ (8)

2.5.

Der EWSA bedauert, dass das Grundeinkommen in der Empfehlung des Rates verworfen wurde. Die OECD zog in einer jüngeren Untersuchung (9) folgendes Fazit: „Angesichts des raschen Wandels des Arbeitsmarkts liefern die laufenden Diskussionen rund um das Grundeinkommen jedoch wertvolle Impulse hinsichtlich der von den Gesellschaften gewünschten Art von Sozialschutz.“ Der EWSA äußerte in einer früheren Stellungnahme (10) die Ansicht, dass ein „europäisches Mindesteinkommen zum wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt, zum Schutz der grundlegenden Menschenrechte, zu einem Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen und zu einer gerechten Umverteilung von Ressourcen und Einkommen beitragen wird“; ferner sprach er sich für die Annahme einer Rahmenrichtlinie aus sowie für die „Prüfung von Finanzierungsmöglichkeiten für ein europäisches Mindesteinkommen“.

2.6.

Die in der Empfehlung umrissenen Maßnahmen und Grundsätze zielen einerseits darauf ab, den Zugang aller Erwerbstätigen (insbesondere von Arbeitnehmern in atypischen Beschäftigungsverhältnissen und von Selbstständigen) zum Sozialschutz zu gewährleisten, und, andererseits, sollen sie sicherstellen, dass unter allen Umständen ein angemessener Sozialschutz garantiert ist.

2.7.

Europäische und nationale Sozialpartner haben sich in früheren Vereinbarungen, gemeinsamen Erklärungen und nationalen Tarifverhandlungen intensiv mit der Sicherstellung des Zugangs aller Erwerbstätigen zu angemessenem Sozialschutz beschäftigt. So wird zum Beispiel in den Präambeln zu Vereinbarungen der europäischen Sozialpartner über befristete Arbeitsverträge und Teilzeitarbeit darauf hingewiesen, dass dafür Sorge zu tragen ist, dass die Regelungen bezüglich des Sozialschutzes so angepasst werden, dass sie den entstehenden flexiblen Beschäftigungsformen Rechnung tragen. In ihrem Arbeitsprogramm 2015/2016 (11) haben die europäischen Sozialpartner darauf hingewiesen, dass die Nachhaltigkeit und Zugänglichkeit der Sozialschutzsysteme für alle Bürgerinnen und Bürger sichergestellt werden müssen.

2.8.

Die europäischen Sozialpartner haben in ihrer 2015 ausgehandelten eingehenden Beschäftigungsanalyse („In-depth employment analysis“) (12) ihre Sorge zum Ausdruck gebracht und empfohlen, dass die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission besser zusammenarbeiten sollten, um Korruption, Steuerbetrug und Steuerhinterziehung zu bekämpfen, die negative Auswirkungen auf die Sozialsysteme sowie verantwortungsvolle Unternehmen und Einzelpersonen haben. Außerdem empfahlen sie den Mitgliedstaaten, in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern zu überprüfen, wo es bei der Nachhaltigkeit und Angemessenheit ihrer Sozialschutzsysteme Defizite gibt, und Anstrengungen zu unternehmen, um sicherzustellen, dass diese Systeme den Bedürfnissen der Menschen, insbesondere der sozial schwächsten und am stärksten von sozialer Ausgrenzung bedrohten, auch in Zukunft noch gerecht werden (13).

3.   Allgemeine Bemerkungen: Kontext

3.1.

Der Wandel der Arbeitswelt: Die Digitalisierung, der demografische Wandel, die Energiewende, die Globalisierung und die neuen Beschäftigungsformen stellen die Regierungen, die organisierte Zivilgesellschaft und die Sozialpartner vor Herausforderungen, können aber auch Chancen bedeuten.

3.2.

Der Wandel der Arbeitsmärkte: Aufgrund von Strukturreformen kam es zu einer Diversifizierung der Arbeitsmärkte, weswegen derzeit manche Beschäftigungsverhältnisse in einigen Mitgliedstaaten von sozialen Basisschutzmaßnahmen ausgeschlossen sind. Es gibt eine zunehmende Vielfalt von Verträgen und erhebliche nationale Unterschiede in Bezug auf Kontext und Systeme: Im Jahr 2016 waren 14 % der Erwerbstätigen in der EU selbstständig, 8 % hatten befristete Vollzeitverträge, 4 % befristete Teilzeitverträge und 13 % waren Festangestellte in Teilzeit (14).

3.3.

Zwar unterscheiden sich die Sozialschutzsysteme der einzelnen Länder, doch stehen sie alle vor ähnlichen Herausforderungen: Wandel des Arbeitsmarktes und Änderungen bei der Gesetzgebung, Alterung der Erwerbsbevölkerung und Tendenz zur Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters, qualitativ und quantitativ geringe Erwerbsbeteiligung von jungen Menschen und Frauen, Eingliederung der arbeitsmarktfernsten bzw. am wahrscheinlichsten dauerhaft ausgegrenzten Menschen in den Arbeitsmarkt, Digitalisierung und neue Beschäftigungsformen. In einigen Sozialschutzsystemen sind die Sozialversicherungsbeiträge Bestandteil des Entgelts der Arbeitnehmer. Dies muss bei der Bewältigung dieser neuen Herausforderungen berücksichtigt werden.

3.4.

Die Rolle des Geschlechts in Bezug auf den Eintritt in bzw. den Verbleib im Arbeitsmarkt sowie auf Integration/Ausschluss beim Zugang zum Sozialschutz muss bewertet werden. Neben jungen Menschen und Migranten sind Frauen in neuen Beschäftigungsformen häufig überdurchschnittlich vertreten (15), was Folgen für ihre Sozialschutzansprüche hat.

3.5.

Auch das Alter spielt eine wichtige Rolle beim Zugang zum Sozialschutz: Jüngere Menschen sind häufiger atypisch beschäftigt („Der Anteil jüngerer Arbeitnehmer im Alter von 20 bis 30 Jahren mit befristeten Verträgen oder ‚sonstigen Verträgen oder ohne Vertrag‘ ist doppelt so hoch wie der anderer Altersgruppen.“ (16)). Die Übergänge zwischen Ausbildung und herkömmlichen Beschäftigungsformen sind länger geworden und können einen Stigmatisierungseffekt sowohl in Bezug auf den Zugang zum Sozialschutz als auch auf künftige Rentenansprüche zur Folge haben, auch aufgrund der extrem zerstückelten beruflichen Laufbahn (17).

3.6.

Lücken beim Zugang zum Sozialschutz, die auf den Arbeitsmarktstatus und die Art des Beschäftigungsverhältnisses zurückzuführen sind, können Menschen davon abhalten, von einem Arbeitsmarktstatus in einen anderen zu wechseln, wenn ein solcher Wechsel den Verlust von Ansprüchen bedeutet, und somit letztlich zu einem geringeren Wachstum der Arbeitsproduktivität führen. Daher sind derartige Lücken wohl auch kaum geeignet, unternehmerisches Handeln zu fördern, und können dem Wettbewerb und nachhaltigen Wachstum entgegenstehen.

3.7.

Darüber hinaus können diese Lücken auch zum Missbrauch der unterschiedlichen Beschäftigungsstatus und zu unfairen Wettbewerbsbedingungen zwischen Unternehmen führen, die weiterhin Beiträge zum Sozialschutz leisten, und jenen, die nicht dazu beitragen.

3.8.

Auf längere Sicht steht hier die soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit der nationalen Sozialschutzsysteme auf dem Spiel, vor allem angesichts der derzeitigen demografischen Entwicklung und der Arbeitslosenraten.

4.   Besondere Bemerkungen: Wesentlicher Inhalt der Empfehlung

4.1.

Der EWSA weist darauf hin, dass zwar mit früheren Rechtsvorschriften auf europäischer Ebene (unter anderem mit den Richtlinien 2010/41/EU, 2014/50/EU und (EU) 2016/2341 versucht wurde, die Lücken in Sozialschutzsystemen zu schließen, erste Erkenntnisse — zum Beispiel zu der Richtlinie 2010/41/EU — aber zeigen, dass es in einigen Fällen nicht gelungen ist, einen wirksamen Zugang Selbstständiger zum Sozialschutz sicherzustellen (18).

4.2.

Der EWSA weist ferner darauf hin, dass die Europäische Kommission im Jahreswachstumsbericht 2018 betont, dass Einkommensersatz mittels Sozialschutz von entscheidender Bedeutung ist, um Ungleichheiten zu verringern und sozialen Zusammenhalt sowie inklusives Wachstum zu fördern (19).

4.3.

Die Zahl der Selbstständigen in Europa ist in den vergangenen Jahren insgesamt leicht gesunken (20). Neben dem ungenügenden bzw. fehlenden Schutz dieser Erwerbstätigen im Fall von Krankheit sind hierfür auch Gründe ausschlaggebend, die mit den persönlichen Lebensumständen zusammenhängen (Mutterschaft, Vaterschaft, familiäre Betreuungs- und Pflegepflichten usw.). Daher könnte ein angemessener Schutz zu mehr und besserer Selbstständigkeit führen. Allerdings ist es unerlässlich, dass Institutionen auf allen Ebenen sämtliche Formen von Scheinselbstständigkeit auch grenzüberschreitend bekämpfen.

4.4.

Der EWSA begrüßt und unterstützt diesbezüglich die in die Empfehlung aufgenommene Entscheidung, weiter zu gehen als in der Folgenabschätzung ursprünglich vorgeschlagen, d. h. zu empfehlen, die formelle Absicherung für alle Arbeitnehmer verpflichtend zu machen und dafür Sorge zu tragen, dass die Selbstständigen Zugang zum Sozialschutz haben, indem die formelle Absicherung für Selbstständige verpflichtend gemacht wird für Leistungen bei Krankheit und Gesundheitsleistungen, Leistungen bei Mutterschaft/Vaterschaft, Leistungen bei Alter und Invalidität sowie Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten und nur für Leistungen bei Arbeitslosigkeit auf freiwillige Basis gestellt wird. Der EWSA ist der Ansicht, dass die niedrigen Beitrittsquoten Selbstständiger zu freiwilligen Systemen (von weniger als 1 % bis 20 %), dort wo es solche Systeme gibt, verstärkte Maßnahmen rechtfertigen, um die Absicherung und den Schutz auszuweiten.

4.5.

Maßnahmen, die in Richtung einer vollständigen Absicherung von Selbstständigen gehen, werden daher begrüßt. Dies erstreckt sich, falls erforderlich, auch auf mithelfende Ehegatten, wenn bei Ehegatten oder Partnern, die selbstständig erwerbstätig sind, die mithelfenden Ehegatten regelmäßig und aktiv zur Erwerbstätigkeit der Selbstständigen beitragen, und zwar auf eine Weise, die als Haupterwerbstätigkeit der mithelfenden Ehegatten betrachtet werden kann.

4.6.

Alle Bürgerinnen und Bürger sollten Zugang zu Sozialschutzsystemen haben, die angemessene Leistungen bieten können. Die Systeme, zu denen alle Menschen ihren Möglichkeiten entsprechend beitragen (bzw. von solchen Beiträgen befreit sind) und aus denen sie Leistungen beziehen, die ihren Bedürfnissen entsprechen, zumindest in Bezug auf eine angemessene Mindestversorgung und ein Netz der sozialen Absicherung im Notfall, können steuerfinanziert und/oder als Versicherung angelegt sein.

4.7.

Die Tragfähigkeit und die Finanzierung eines angemessenen Zugangs zum Sozialschutz zur Begleitung des Wandels der Arbeitsmärkte (21) müssen sichergestellt werden, um Inklusivität, Angemessenheit, Gerechtigkeit und Gleichheit in einer weiter gefassten Perspektive gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wachstums gerecht zu werden.

4.8.

Die Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene sollten von vornherein auf Gleichbehandlung und Chancengleichheit ausgerichtet sein, denn die öffentlichen Sozialausgaben in Europa sind fester Bestandteil des europäischen Sozialmodells und Europas Attraktivität im weltweiten Vergleich ist seinem hohen Niveau an sozialer Sicherheit zu verdanken.

4.9.

Die Sozialschutzsysteme müssen auf Solidarität und Gleichheit basieren, und es darf keine Diskriminierung aufgrund unterschiedlicher persönlicher Umstände/Hintergründe und/oder Beschäftigungsstatus möglich sein.

4.10.

Bei der Festlegung von Sozialschutzmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen sollte ein menschenrechtsbasierter Ansatz im Sinne des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verfolgt werden. Nicht erwerbsfähige Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen sollten vor dem Risiko von Armut geschützt werden und einen angemessenen Lebensstandard garantiert bekommen (22).

4.11.

Der EWSA fordert die vollständige Umsetzung der Empfehlung durch die Mitgliedstaaten, damit Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen und Selbstständige einen besseren Schutz genießen. Die Sozialschutzsysteme sollten so (um)gestaltet werden, dass sie zunehmend inklusiv werden, was auch den Empfehlungen im Jahreswachstumsbericht 2018 entspricht, die Folgendes besagen: „Wenn der Arbeitsmarkt und das System zur sozialen Integration besser aufeinander abgestimmt werden, profitieren davon alle benachteiligten Gruppen, was wiederum zu mehr Wohlstand für alle führt und den sozialen Zusammenhalt stärkt.“

4.12.

Die Bekämpfung von unlauterem Wettbewerb in der Europäischen Union und Maßnahmen gegen nicht angemeldete Erwerbstätigkeit (im Einklang mit den Maßnahmen der Europäischen Plattform zur Stärkung der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit) werden den Unternehmen zugutekommen, da sich mehr Sozialschutz und weniger unlauterer Wettbewerb positiv auf die Produktivität auswirken könnten.

4.13.

Der Zugang zu Gesundheitsversorgung für alle ist ein weiteres wichtiges Element der Empfehlung und stimmt mit Grundsatz 16 der europäischen Säule sozialer Rechte überein (23). Wie die Folgenabschätzung der Kommission deutlich gemacht hat, kann der Zugang zu Gesundheitsversorgung von Arbeitnehmern in atypischen Beschäftigungsverhältnissen und von Selbstständigen in einigen Ländern aufgrund vertraglicher Vereinbarungen oder der Arbeitsmarktbestimmungen eingeschränkt sein. Der Zugang aller Beschäftigten und Selbstständigen zu Gesundheitsversorgung sollte zwingend vorgeschrieben sein.

4.14.

Der EWSA begrüßt außerdem die angekündigte verstärkte Zusammenarbeit mit Eurostat, um geeignete Indikatoren für die Verzeichnung von Fortschritten bei der formellen Absicherung, der tatsächlichen Absicherung, der Transparenz usw. zu schaffen, sowie die geplanten Arbeiten der Kommission im Ausschuss für Sozialschutz im Hinblick auf die Schaffung eines Benchmarking-Rahmens für Sozialschutz. So kann das Fehlen einer soliden Datengrundlage ausgeglichen und eine genauere Abschätzung der Folgen der im Zusammenhang mit der Empfehlung umgesetzten politischen Maßnahmen vorgenommen werden.

Brüssel, den 20. September 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 1.

(2)  ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 7.

(3)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen — Folgenabschätzung — Begleitdokument zu dem Vorschlag für eine Empfehlung (nur auf EN verfügbar).

(4)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 23.

(5)  ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 10.

(6)  Siehe auch die Empfehlung der ILO Nr. 202, die Orientierungshilfen für die Einführung und Aufrechterhaltung eines Basisniveaus für Sozialschutz als Kernelement der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit bietet.

(7)  Siehe Empfehlung zum Sozialschutz, Seiten 8, 14, § 10, 15 § 4, 23 § 8, 10.

(8)  Siehe Empfehlung zum Sozialschutz, Seite 21 Erwägungsgrund 18.

(9)  Basic Income as a Policy Option: Technical Background Note Illustrating Costs and Distributional Implications for Selected countries, OECD, 2017.

(10)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 23.

(11)  http://resourcecentre.etuc.org/EU-social-dialogue-5.html.

(12)  2015 In-depth employment analysis (eingehende Beschäftigungsanalyse 2015) — EGB, BUSINESSEUROPE, CEEP, UEAPME.

(13)  Siehe Fußnote 12.

(14)  Eurostat, 2016.

(15)  ILO: INWORK Issue Brief No. 9, Mai 2017.

(16)  Siehe Empfehlung zum Zugang zum Sozialschutz, S. 2-3.

(17)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 15.

(18)  Siehe Barnard, C. und Blackham, A. (2015): The implementation of Directive 2010/41 on the application of the principle of equal treatment between men and women engaged in an activity in a self-employed capacity, Bericht des Europäischen Netzwerks von Rechtsexperten auf dem Gebiet der Geschlechtergleichstellung, in Auftrag gegeben von der Generaldirektion Justiz der Europäischen Kommission; siehe Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zum Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbstständige, Seite 9.

(19)  Europäisches Semester 2018: Jahreswachstumsbericht.

(20)  Siehe Eurofound: „The many faces of self-employment in Europe“.

(21)  Siehe Positionspapier von BUSINESSEUROPE zu der Empfehlung des Rates zum Zugang zum Sozialschutz, Seite 1, 1 (19. April 2018).

(22)  Siehe die Entschließung des Europäischen Behindertenforums (EDF): Resolution to promote employment & social inclusion of persons with disabilities, 6. November 2017 http://www.edf-feph.org/newsroom/news/social-pillar-edf-adopts-resolution-promote-employment-social-inclusion-persons.

(23)  Europäische Säule sozialer Rechte, Grundsatz 16: „Jede Person hat das Recht auf rechtzeitige, hochwertige und bezahlbare Gesundheitsvorsorge und Heilbehandlung.“


ANHANG

Folgende abgelehnte Änderungsanträge zu den Ziffern 1.6 und 2.5 erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen:

Ziffer 1.6

Ändern:

1.6.

Der EWSA empfiehlt, dass Initiativen, die im Rahmen der Empfehlung ergriffen werden, angemessene Leistungen und Vorschriften enthalten sollten, einschließlich der Absicherung von Menschen, die die unteren Schwellenwerte für Ansprüche nicht erreichen können, insbesondere arbeitsunfähige Menschen und deren Familien. Der EWSA bedauert weist darauf hin, dass das Grundeinkommen in der Empfehlung verworfen wurde, wie in der Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen — Folgenabschätzung  (1) festgestellt wird, und das aus verschiedenen Gründen, wie etwa Kriterien für die Absicherung oder weil vorgezogen wurde, die Probleme im Rahmen bestehender Systeme der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten anzugehen. Der EWSA begrüßt jedoch die in den Mitgliedstaaten laufende Debatte über das Grundeinkommen und andere Sicherheitsnetze mit dem Ziel der aktiven Eingliederung in den Arbeitsmarkt sowie generell in die Gesellschaft. Der EWSA hatte bereits 2013 eine europäische Richtlinie zur Einführung eines europäischen Mindesteinkommens gefordert, da dies „zum wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt, zum Schutz der grundlegenden Menschenrechte, zu einem Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen und zu einer gerechten Verteilung von Ressourcen und Einkommen beitragen“ würde (2).

Begründung

Erfolgt mündlich.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

91

Nein-Stimmen

112

Enthaltungen

10

Ziffer 2.5

Ändern:

2.5.

Der EWSA weist darauf hin, dass das Grundeinkommen in der Empfehlung verworfen wurde, wie in der Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen — Folgenabschätzung festgestellt wird, und das aus verschiedenen Gründen, wie etwa Kriterien für die Absicherung oder weil vorgezogen wurde, die Probleme im Rahmen bestehender Systeme der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten anzugehen. Der EWSA bedauert, dass das Grundeinkommen in der Empfehlung des Rates verworfen wurde. Die OECD zog in einer jüngeren Untersuchung folgendes Fazit: „Angesichts des raschen Wandels des Arbeitsmarkts liefern die laufenden Diskussionen rund um das Grundeinkommen jedoch wertvolle Impulse hinsichtlich der von den Gesellschaften gewünschten Art von Sozialschutz.“ Der EWSA äußerte in einer früheren Stellungnahme die Ansicht, dass ein „europäisches Mindesteinkommen zum wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt, zum Schutz der grundlegenden Menschenrechte, zu einem Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen und zu einer gerechten Umverteilung von Ressourcen und Einkommen beitragen wird“; ferner sprach er sich für die Annahme einer Rahmenrichtlinie aus sowie für die „Prüfung von Finanzierungsmöglichkeiten für ein europäisches Mindesteinkommen“.

Begründung

Der Geltungsbereich der Empfehlung umfasst keine Leistungen für das Existenzminimum. Der Schwerpunkt liegt auf der Erleichterung des Zugangs zum Sozialschutz für die Gruppen von Arbeitnehmern, die wahrscheinlich nicht durch die Systeme der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten geschützt sind. Daher gibt es keinen Grund, zu bedauern, dass das Konzept des Grundeinkommens in dem Vorschlag der Kommission verworfen wurde. Der EWSA könnte jedoch auf die laufende Debatte in den Mitgliedstaaten sowie in anderen Foren, wie z. B. der OECD, hinweisen. In Bezug auf die frühere Stellungnahme des EWSA zum Mindesteinkommen sollte auch ein Verweis auf die Erklärung der Gruppe Arbeitgeber aufgenommen werden, um deutlich darauf aufmerksam zu machen, dass in dieser Frage Uneinigkeit besteht. Der Verweis auf die Erklärung der Gruppe Arbeitgeber wurde zuvor bereits z. B. in den EWSA-Stellungnahmen SOC/542 (Europäische Säule sozialer Rechte) und SOC/564 (Auswirkungen der sozialen Dimension und der europäischen Säule sozialer Rechte auf die Zukunft der EU) verwendet.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

92

Nein-Stimmen

113

Enthaltungen

13


(1)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen — Folgenabschätzung — Begleitdokument zu dem Vorschlag für eine Empfehlung (nur auf EN verfügbar).

(2)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 23.