Brüssel, den 26.10.2017

COM(2017) 626 final

BERICHT DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DEN RAT

Situation in Bezug auf Kinderarzneimittel in der EU – Zehn Jahre EU-Verordnung über Kinderarzneimittel


1.Einleitung

Es gibt inzwischen einen breiten Konsens darüber, dass Kinder Zugang zu Arzneimitteln haben sollten, die speziell für die Anwendung bei jungen Patienten entwickelt und erforscht wurden. Die Entwicklung von Kinderarzneimitteln und die damit verbundenen Prüfverfahren waren bis vor kurzem jedoch bei Weitem nicht zufriedenstellend. Viele bei Kindern verwendete Arzneimittel wurden auf der Grundlage persönlicher Erfahrungswerte seitens der Ärzte verschrieben und verabreicht, und nicht auf der Grundlage klinischer Forschungsergebnisse. Außerdem standen die Arzneimittel oft nicht in einer für Kinder geeigneten Darreichungsform zur Verfügung. So waren die Kinderärzte gezwungen, auf für Erwachsene zugelassene Arzneimittel zurückzugreifen und die Dosis und Darreichungsform etwa dadurch anzupassen, dass sie die Tabletten für Erwachsene zerkleinerten und nur einen Teil davon verwendeten. Die zulassungsüberschreitende Verwendung („Off-Label-Use“) von Arzneimitteln für Erwachsene kann dazu führen, dass die Arzneimittel bei Kindern unwirksam sind und/oder zu Nebenwirkungen führen. Nebenwirkungen, die Erwachsene möglicherweise überhaupt nicht beeinträchtigen, können bei Kindern bedeutend und schwerwiegend sein.

Umfragen zufolge ist der Off-Label-Gebrauch von Arzneimitteln in zahlreichen Therapiebereichen weit verbreitet und erreicht häufig sogar eine Quote von über 50 %. Schutzimpfungen für Kinder stellen dabei eine bemerkenswerte Ausnahme dar. Sie sind eine Erfolgsgeschichte der modernen Medizin.

Es gibt mehrere Gründe dafür, warum die Entwicklung von Arzneimitteln für Kinder weitgehend vernachlässigt wurde. Bis in die 1980er Jahre wurde häufig argumentiert, dass Kinder aus ethischen Gründen vor der Teilnahme an klinischen Studien geschützt werden sollten. Seitdem näherte man sich immer weiter dem gegenwärtigen Konsens an, dass Kindern das gleiche Niveau gesundheitlicher Versorgung zusteht wie jeder anderen Altersgruppe; damit haben auch Kinder ein Anrecht auf die evidenzbasierte Verschreibung von Arzneimitteln. Was die proaktive Investition in diesen Sektor anbelangt, zeigten sich die Unternehmen allerdings zurückhaltend, was auch auf wirtschaftliche Erwägungen zurückzuführen ist. Kinder wachsen und werden älter, d. h., sie bilden keine einheitliche Untergruppe. Die Bedürfnisse und biologischen wie physiologischen Eigenschaften Neugeborener unterscheiden sich sehr stark von denen im Jugendalter. Deshalb sind oft zusätzliche altersspezifische Studien erforderlich, was den Entwicklungsprozess von Kinderarzneimitteln komplexer macht.

Um diesem Problem zu begegnen, wurde die Verordnung über Kinderarzneimittel 1 (im Folgenden „die Verordnung“) erlassen. Um vorhergehende Entwicklungen wieder umzukehren, hielt man einen Eingriff auf legislativer Ebene für erforderlich. Ein mehrjähriger Beratungs- und Diskussionsprozess stellte dabei die Grundlage für die Verordnung dar, die aber auch von Entwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika beeinflusst wurde, wo schon seit dem Ende der 1990er Jahre gesetzgeberische Ansätze für die Entwicklung von Kinderarzneimitteln erarbeitet wurden.

2017 jährt sich das Inkrafttreten der Verordnung zum zehnten Mal. In Übereinstimmung mit Artikel 50 Absatz 3 zeigt der vorliegende Bericht auf, zu welchen Errungenschaften die Verordnung geführt hat – sowohl hinsichtlich der öffentlichen Gesundheit als auch aus wirtschaftlicher Sicht – und inwieweit die Ziele der Verordnung erreicht wurden. Zwar wird innerhalb von zehn Jahren ein durchaus erheblicher Erfahrungsschatz aufgebaut, doch angesichts der langen Entwicklungszyklen von Arzneimitteln von oftmals bis zu zehn Jahren ist dieser Zeitraum wiederum relativ kurz.

Der vorliegende Bericht stützt sich auf einen 10-Jahres-Bericht der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) und ihres Pädiatrieausschusses, 2 eine von der Kommission in Auftrag gegebene externe Studie über die Auswirkungen der Verordnung 3 sowie eine öffentliche Konsultation und Diskussionen mit Mitgliedstaaten, dem Europäischen Parlament, 4 Patienten, Unternehmen, interessierten Dritten und externen Partnern über ihre Erfahrung mit der Auswirkung der Verordnung.

2.Die Kinderarzneimittelverordnung

Die Verordnung umfasst drei Hauptziele:

·Förderung und Ermöglichung einer hochwertigen Forschung zur Entwicklung von Kinderarzneimitteln;

·Gewährleistung, dass im Laufe der Zeit die Mehrzahl der Kinder verabreichten Arzneimittel eigens für eine solche Verwendung zugelassen wird, und zwar mit geeigneten Darreichungsformen und Formulierungen; und

·Verbesserung der Verfügbarkeit hochwertiger Informationen über Arzneimittel, die Kindern verabreicht werden.

Um diese Ziele zu erreichen, wurde mit der Verordnung ein System eingeführt, das sowohl Verpflichtungen als auch Bonusse und Anreize umfasst. Außerdem wurden Maßnahmen ergriffen, um zu gewährleisten, dass Arzneimittel regelmäßig erforscht, entwickelt und zugelassen werden, um dem Therapiebedarf von Kindern nachzukommen. Die einfache Grundidee der Verordnung besteht darin, die Unternehmen dazu zu verpflichten, die von ihnen entwickelten Arzneimittel auf ihre Eignung als Kinderarzneimittel zu prüfen. Dadurch sollte die Anzahl der Arzneimittel mit pädiatrischen Indikationen schrittweise erhöht werden.

Mit der Verordnung werden die Unternehmen verpflichtet, mit der EMA zu einem frühen Zeitpunkt der Entwicklungsphase ein pädiatrisches Forschungs- und Entwicklungsprogramm („pädiatrisches Prüfkonzept“) zu vereinbaren. Dadurch, dass die Verordnung eine Verpflichtung zur Investition in die pädiatrische Forschung beinhaltet, wirkt sie sich direkt auf die F&E-Ausgaben der Unternehmen aus. Hält ein Unternehmen sich nicht an die Vereinbarung, so kann die Genehmigung für das Inverkehrbringen (des entsprechenden Arzneimittels für Erwachsene) blockiert werden. Die Verordnung geht damit über die Mechanismen der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden 5 hinaus, die lediglich Anreize für Unternehmen beinhaltet.

Die in der Verordnung enthaltenen Verpflichtungen werden insbesondere durch folgende Maßnahmen ergänzt:

·ein System für die Freistellung von Arzneimitteln, die Kindern wahrscheinlich nicht zugute kommen, und ein System für Zurückstellungen im Hinblick auf den Zeitplan der durchzuführenden pädiatrischen Maßnahmen;

·einen Bonus für die Einhaltung der Verpflichtung in Form einer Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats 6 um sechs Monate;

·einen Sonderbonus für Arzneimittel für seltene Leiden in Form einer Verlängerung des Marktexklusivitätsrechts um zwei Jahre, zusätzlich zu den bestehenden zehn Jahren, die entsprechend der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden bereits gewährt wurden;

·eine neue Art der Genehmigung für das Inverkehrbringen, die Genehmigung für die pädiatrische Verwendung (Paediatric Use Marketing Authorisation, PUMA), als Anreiz für die Entwicklung pädiatrischer Indikationen patentfreier Arzneimittel;

·die Einrichtung eines Expertengremiums innerhalb der Europäischen Arzneimittel-Agentur, den Pädiatrieausschuss (PDCO); und

·ein System für eine gebührenfreie wissenschaftliche Beratung der Industrie, zur Verfügung gestellt von der EMA.

Die Verordnung dient außerdem der Förderung hochwertiger Informationen und hochwertiger Forschung, und zwar insbesondere durch folgende Maßnahmen:

·die EU-weite Verbindung von Netzwerken aus Prüfern und Studienzentren, die pädiatrische Forschung betreiben (Enpr-EMA);

·eine EU-weite Bestandsaufnahme des Kinderarzneimittelbedarfs;

·eine öffentliche Datenbank pädiatrischer Studien; und

·eine Verpflichtung der Unternehmen zur Vorlage bestehender pädiatrischer Studien über zugelassene Arzneimittel zur Prüfung durch die Regulierungsbehörden.

Eine unbestrittene Errungenschaft der Verordnung besteht darin, dass die Entwicklung von Kinderarzneimitteln in den Fokus gerückt wurde und sich die Investitionen in dem Bereich verstärkt haben. Die Unternehmen wurden quasi gezwungen, eine Infrastruktur für die Erforschung von Kinderarzneimitteln aufzubauen und sich entsprechendes Fachwissen anzueignen, um sicherzustellen, dass die Entwicklung ihrer Produkte mit einer angemessenen pädiatrischen Forschungskapazität einhergeht.

Im Jahr 2013 veröffentlichte die Kommission einen ersten Bericht über die Auswirkungen der Verordnung, in dem sie zu dem Schluss kam, dass bereits vielversprechende Hinweise auf Fortschritte gibt. 7 Gleichzeitig stellt sie jedoch fest, dass es angesichts der Entwicklungsdauer von Arzneimitteln mindestens zehn Jahre dauern würde, um die Lage umfassend einschätzen zu können.

Der Artikel 50 Absatz 3 der Verordnung verpflichtet die Kommission zur Veröffentlichung eines zweiten Berichts im Jahr 2017. In dem zweiten Bericht soll unter anderem thematisiert werden, ob etwaige Änderungen an der Verordnung ins Auge gefasst werden sollten.

3.Mehr Arzneimittel für Kinder

Die Zahlen belegen, dass die Entwicklung von Kinderarzneimitteln in der EU erheblich durch die Verordnung beeinflusst wurde. Die Pharmaunternehmen sehen die pädiatrische Entwicklung inzwischen als einen festen Bestandteil ihrer allgemeinen Entwicklungsstrategie für Arzneimittel, obgleich einige von ihnen die pädiatrische Forschung nach wie vor nicht als unternehmensgetrieben ansehen, sondern als von den Regulierungsbehörden ausgehend.

Von 2007 bis 2016 wurden mehr als 260 neue Arzneimittel für Kinder (neue Genehmigungen für das Inverkehrbringen und neue Indikationen) zugelassen, wobei die meisten davon mit den Anforderungen der Verordnung verknüpft waren. Die Anzahl der gebilligten pädiatrischen Prüfkonzepte (PPK) erreichte 2017 die 1 000-Marke; bis Ende 2016 waren 131 davon abgeschlossen. Bei der Anzahl der abgeschlossenen PPK lässt sich ein deutlicher Aufwärtstrend erkennen: Die Finalisierungsquote lag hier in den letzten drei Jahren bei über 60 %. Außerdem trugen die Beurteilungen der vor der Verordnung (Artikel 45) durchgeführten pädiatrischen Studien seitens der zuständigen Behörden dazu bei, die bestehende Evidenzlage zu konsolidieren und die Produktinformationen durch pädiatrische Daten zu ergänzen.

Vergleicht man also die Situation vor und nach der Verordnung, ist hinsichtlich der Neuzulassungen ein deutlich positiver Effekt zu erkennen. Das Gleiche gilt für den internationalen Vergleich von Rechtssystemen mit und ohne spezifischen pädiatrischen Vorschriften: In Rechtssysteme mit entsprechenden Bestimmungen liegt die Anzahl der neuen Kinderarzneimittel deutlich höher.

Die oben dargelegte quantitative Analyse zeigt, dass bereits erhebliche Fortschritte erzielt wurden. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es bis zu zehn Jahre dauern kann, bis ein Arzneimittel auf den Markt kommt, und angesichts des in der Verordnung vorgesehenen schrittweisen Anstiegs, entsprechen die Leistungszahlen auch den Erwartungen.

Gleichzeitig bedeutet die Erteilung einer Genehmigung für das Inverkehrbringen oder das Hinzufügen von pädiatrischen Informationen bei bestehenden Genehmigungen für das Inverkehrbringen nicht automatisch, dass das Arzneimittel sofort allen pädiatrischen Patienten in der EU zur Verfügung steht. Das ist möglicherweise auf noch ausstehende Erstattungsentscheidungen in den einzelnen Mitgliedstaaten oder auf bestimmte Verschreibungspraktiken zurückzuführen, nach denen die Ärzte nicht sofort auf ein neu zugelassenes Arzneimittel umstellen. Im Rahmen einer Umfrage, deren Ergebnisse für diesen Bericht herangezogen wurden, 8 schätzten die Befragten, dass die Anzahl der verfügbaren Arzneimittel um ca. 5-10 % gestiegen sei. Was den Verschreibungsusus betrifft, gaben 58 % der Befragten an, dass die Ärzte aufgrund der Verordnung mehr und mehr zugelassene Arzneimittel entsprechend der zugelassenen Indikation für Kinder verschreiben. Daraus lässt sich grundsätzlich eine positive Entwicklung, aber auch eine bestimmte Trägheit ableiten. Die Reduzierung des Off-Label-Gebrauchs von Arzneimitteln bei Kindern hängt schließlich nicht nur von der erhöhten Anzahl zugelassener Kinderarzneimittel ab, sondern auch von ihrer tatsächlichen Verfügbarkeit und Verwendung am Krankenbett.

In dem Zusammenhang wurde beobachtet, dass die Unternehmen neue Arzneimittel häufig stufenweise einführen, was zu Verzögerungen bei der flächendeckenden Verfügbarkeit der Medikamente in der EU führt. Die Verordnung enthält zwar verschiedene Instrumente, um zu gewährleisten, dass die Kinderarzneimittel nach dem Abschluss des PPK und nach der Zulassung auch tatsächlich in Verkehr gebracht werden; trotzdem kann eine gewisse Verzögerung nicht vollständig verhindert werden. Der Bonus für Inhaber von ergänzenden Schutzzertifikaten nach Artikel 36 wird beispielsweise nur dann gewährt, wenn das Arzneimittel in allen Mitgliedstaaten zugelassen ist. Zusätzlich sind die Unternehmen nach Artikel 33 verpflichtet, das Arzneimittel innerhalb von zwei Jahren ab dem Tag der Zulassung einer neuen pädiatrischen Indikation in Verkehr zu bringen.

Die rechtzeitige Verfügbarkeit der Kinderarzneimittel kann auch dadurch beeinflusst werden, dass sich der Abschluss der pädiatrischen Studien gegenüber dem Abschluss und der Zulassung des entsprechenden Arzneimittels für Erwachsene verzögert. Entsprechen der Verordnung können die Einleitung oder der Abschluss einiger oder aller Maßnahmen des pädiatrischen Prüfkonzepts zurückgestellt werden (Artikel 20), um zu gewährleisten, dass die Forschungsarbeiten nur dann durchgeführt werden, wenn sie sicher und ethisch vertretbar sind. Zudem soll damit verhindert werden, dass die Zulassung von Arzneimitteln für die erwachsene Bevölkerung blockiert oder verzögert wird.

Bisherigen Erfahrungen zufolge ist die Zurückstellung ein häufig genutztes Instrument. Bei nahezu allen PPK für neue Arzneimittel, die mit einer Entwicklung im Erwachsenenbereich verbunden sind, werden eine oder mehrere Maßnahmen zurückgestellt. Die Zurückstellung ist grundsätzlich ein hilfreiches und angemessenes Instrument; es gibt keine Hinweise darauf, dass die pädiatrischen Anforderungen die Bearbeitung der Anträge im Erwachsenenbereich verzögern. Der Pädiatrieausschuss genehmigte in einigen Fällen allerdings Zurückstellungen über einen sehr langen Zeitraum. Dies kann unter Umständen zu frustrierten Ärzten und Patienten führen – vor allem dann, wenn ein vielversprechendes pädiatrisches Arzneimittel aufgrund der Zurückstellung erst Jahre nach der Zulassung des entsprechenden Erwachsenenprodukts verfügbar wird. Wird der Beginn der pädiatrischen Studie bis nach der Zulassung des Arzneimittels für Erwachsene verschoben, ist die Rekrutierung von Patienten für die pädiatrischen Studien erfahrungsgemäß zudem schwieriger. Die Eltern sehen möglicherweise nicht, welchen Mehrwert es bringt, wenn ihr Kind an einer klinischen Studien teilnimmt, wenn das Arzneimittel für Erwachsene (zulassungsüberschreitend) bereits bei Kindern verwendet werden kann. In einigen Fällen wurden die Zurückstellungen auch mit der verspäteten Einreichung eines PPK in Verbindung gebracht. Die Zahl der verspäteten Einreichungen ist zwar generell rückläufig (sie liegt derzeit bei 10-20 %); in diesen Fällen sollte die Zustimmung zu einer Zurückstellung aber möglicherweise genauer geprüft werden, um zu verhindern, dass die verspäteten Einreichungen den zügigen Fortschritt pädiatrischer Behandlungsmöglichkeiten behindern.

Vor diesem Hintergrund werden die bisherigen Praktiken derzeit von der EMA und ihrem Pädiatrieausschuss geprüft, um einerseits für Konsistenz zu sorgen und andererseits lange Zurückstellungen zu vermeiden. Angesichts der fortschreitenden Wissenschaft könnte man einwenden, dass die langen Zurückstellungen bedeuten, dass der signifikante therapeutische Vorteil der Produktentwicklung gegenüber bestehenden Behandlungsmöglichkeiten für pädiatrische Patienten in Frage gestellt wird. In solchen Fällen könnten pädiatrische Studien nur einen marginalen Mehrwert bieten. Außerdem könnten lange Zurückstellungen die Durchsetzbarkeit pädiatrischer Anforderungen sowie die Verfügbarkeit von Bonussen untergraben – vor allem dann, wenn die Zurückstellung erst nach dem Ablauf der Schutzfrist des Arzneimittels endet.

4.Bessere Arzneimittel für Kinder

In den letzten zehn Jahren konnten aufgrund der Verordnung in einigen Therapiebereichen erhebliche Fortschritte erzielt werden. Als herausragende Beispiele dafür gelten dabei oft die Rheumatologie oder Infektionskrankheiten. Der massive Anstieg neuer Behandlungsmöglichkeiten für rheumatologisch erkrankte Kinder nach dem Abschluss entsprechender PPK hat diesen bisher vernachlässigten Krankheitsbereich deutlich verändert.

Gleichzeitig folgen diese positiven Entwicklungen aber keinem strategischen Plan, sondern sind häufig an die Entwicklungen auf den Arzneimittelmärkten für Erwachsene geknüpft. Da der Ausgangspunkt für die meisten PPK ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm für Erwachsene ist, hängt der Fortschritt im pädiatrischen Bereich von der Produkt-Pipeline der Unternehmen für Erwachsene und von den Ertragsaussichten in einem spezifischen Marktsegment ab. Überschneiden sich der Bedarf oder die Markterwartungen im Erwachsenenbereich mit dem Bedarf im pädiatrischen Bereich, schlägt sich das in einem direkten Nutzen für die Kinder nieder. Andererseits gibt es zahlreiche Erkrankungen, bei denen es biologische Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern gibt, die eine unterschiedliche Krankheitslast aufweisen oder die ausschließlich bei Kindern vorkommen. Bei solchen Krankheiten tut sich der von der Verordnung vorgesehene Mechanismus manchmal schwer, angesichts der wissenschaftlichen, klinischen und Marktgegebenheiten zu wirken.

Das hat Auswirkungen auf beiden Seiten. Ein aktuelles Beispiel, bei dem eine neue Entwicklungswelle von Arzneimitteln für Erwachsene möglicherweise droht, das System zu überlasten, ist Typ-II-Diabetes – eine Erkrankung, die bei Erwachsenen seit den 1980er Jahren zunehmend verbreitet ist. In den letzten Jahren haben sich viele Unternehmen auf dieses Behandlungsfeld konzentriert, was zu einem Höchststand an Tätigkeiten in dem Bereich und zu einer dynamischen Pipeline neuer Arzneimittel führte. Gleichzeitig führen solche Wellen zu einem Anstieg der pädiatrischen Forschungsprogramme, selbst wenn aus der Sicht des Therapiebedarfs möglicherweise auch weniger davon ausgereicht hätten, da Typ-II-Diabetes bei Kindern noch relativ selten vorkommt. Die Diskrepanz zwischen der Krankheitslast bei Erwachsenen und Kindern kann unter Umständen auch zu Machbarkeitsproblemen bei der Durchführung pädiatrischer Studien führen, da die Anzahl der jungen Patienten, die für eine PPK-Studie zur Verfügung stehen, schlicht zu niedrig ist. Um dieses Problem zu lösen, wurde vorgeschlagen, dass die Unternehmen bei ihren Forschungsprojekten zusammenarbeiten, um den begrenzten Patientenpool besser zu nutzen. Die Unternehmen zeigen sich jedoch zögerlich, vor allem wenn es um die Entwicklung von potenziellen Blockbuster-Produkten für Erwachsene geht. Gleichzeitig befindet sich der Pädiatrieausschuss nicht in einer Position zu bestimmen, welche pädiatrischen Prüfkonzepte innerhalb eines bestimmen Behandlungsbereichs Vorrang haben sollten. Daraus ergibt sich oftmals das Dilemma, dass der Pädiatrieausschuss nur auf der Grundlage von Ergebnissen klinischer Prüfungen entscheiden kann, welche Präparate am vielversprechendsten für Kinder sind. Das Eingreifen des Pädiatrieausschusses und die Vereinbarung eines pädiatrischen Prüfkonzepts finden aber in der Regel statt, bevor diese Ergebnisse verfügbar sind, denn es wird schließlich erst im Rahmen des PPK ermittelt und vereinbart, welche Studien durchzuführen sind.

Auf der anderen Seite gibt es Erkrankungen, die nur in der pädiatrischen Bevölkerung auftreten; in dem Fall hängt die Entwicklung der pädiatrischen Arzneimittel typischerweise von der strategischen Entscheidung eines Unternehmens ab, in diesen Bereich zu investieren, und zwar unabhängig davon, ob ein entsprechendes Programm für Erwachsene in Gang ist. Dies trifft vor allem auf seltene Kinderkrankheiten wie zum Beispiel Kinderkrebs zu.

Erfreulicherweise zeigt eine Untersuchung der gebilligten PPK, dass diese ein breites Spektrum an Therapiebereichen abdecken: Auf Infektionskrankheiten (12 %), Onkologie (10 %) und Endokrinologie/Stoffwechselerkrankungen (9 %) entfallen dabei die größten Anteile, es überwiegt aber kein bestimmtes Therapiefeld. Grundsätzlich ist das ein gutes Zeichen, denn es macht deutlich, dass die Tätigkeiten im pädiatrischen Bereich eine große Bandbreite an Krankheiten abdecken. Eine große Anzahl gebilligter PPK führt jedoch nicht automatisch zu einer großen Anzahl abgeschossener PPK. Die meisten abgeschlossenen PPK gibt es derzeit im Bereich der Immunologie/Rheumatologie (14 %), bei den Infektionskrankheiten (14 %), bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen und im Bereich der Impfstoffe (je 10 %); nur 7 % der abgeschlossenen PPK entfallen auf die Onkologie und die Endokrinologie/Stoffwechselerkrankungen. Außerdem entspricht die Entwicklung hinsichtlich der gebilligten und abgeschlossenen PPK nicht unbedingt der pädiatrischen Krankheitslast, was die Tatsache unterstreicht, dass die Entwicklung von Kinderarzneimitteln oftmals von der Entwicklung im Erwachsenenbereich angeschoben wird. Die Verordnung kann die Tätigkeiten nur bedingt in eine bestimmte therapeutische Richtung lenken. Die Verordnung ist ein wichtiger unterstützender Faktor – aber ob sich auch eine qualitative Wirkung zeigt, hängt nach wie vor stark von den Kräften des Marktes, verschiedenen Wachstumstreibern und den strategischen Überlegungen der Unternehmen ab.

In der Diskussion um den pädiatrischen Arzneimittelbedarf wird die Kinderonkologie oft als Paradebeispiel für einen Bereich mit einem hohen pädiatrischen Therapiebedarf genannt, in dem nur unzureichende Fortschritte erzielt wurden. Obwohl Kinderkrebs nur selten vorkommt, handelt es sich dabei nach wie vor um die häufigste krankheitsbedingte Todesursache nach dem Kleinkindalter, und das obwohl die Überlebensrate in den letzten Jahrzehnten bei einigen Krebsarten verbessert werden konnte.

Im Rahmen der Diskussion um die Kinderonkologie wird oft das Freistellungskonzept von Artikel 11 der Verordnung genannt, nach dem spezifische Arzneimittel oder Arzneimittelklassen unter bestimmten Umständen von der Anforderung eines PPK freigestellt werden können. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn ein Arzneimittel bei Kindern wahrscheinlich unwirksam oder für sie nicht sicher ist oder das Medikament keinen signifikanten therapeutischen Vorteil gegenüber bestehenden Behandlungen aufweist. Eine Freistellung erfolgt auch dann, wenn die Krankheit oder der Zustand, für den das betreffende Arzneimittel vorgesehen ist, lediglich bei Erwachsenen auftritt.

Ziel einer Freistellung ist es, unnötige oder sogar unethische Forschungstätigkeiten zu vermeiden und den Rahmen der Pflichten korrekt abzustecken. Die Freistellung gilt als ein angemessenes Instrument, diese Ziele zu erreichen. Von 2007 bis 2016 gewährte die EMA mehrere Freistellungen für Arzneimittelklassen sowie 486 produktspezifische Freistellungen für die Verwendung eines Arzneimittels bei einer oder mehreren Krankheiten. Obwohl es grundsätzlich angemessen ist, von pädiatrischen Studien abzusehen, kann – sofern die Zielkrankheit bei Kindern nicht vorkommt – ein bestimmtes Präparat dennoch einen Nutzen für Kinder haben, wenn auch für eine andere Krankheit. Während zahlreiche Kinderkrebsarten etwa biologische Ähnlichkeiten mit bestimmten Krebsarten bei Erwachsenen aufweisen, treten sie in unterschiedlichen Organen auf und werden dadurch in der Regel als unterschiedliche Krankheiten betrachtet. Folglich kann einem Unternehmen möglicherweise eine Freistellung gewährt werden, obwohl der Wirkmechanismus des für Erwachsene entwickelten Präparats und das entsprechende molekulare Ziel auch zur Behandlung bestimmter Kinderkrebsarten wirksam sein könnten.

In den letzten Jahren kamen zahlreiche innovative Krebsmedikamente für Erwachsene auf den Markt, darunter erste Vertreter neuer Arzneimittelklassen, was zu besseren Behandlungsoptionen, besseren Patientenergebnissen und längeren Überlebenszeiten führte. Krebsmedikamente machen derzeit die größte Gruppe neuer Arzneimittel aus, und zwar auch im Hinblick auf das Ertragspotenzial. Es ist zu erwarten, dass sie die Therapielandschaft auch weiterhin verändern werden. 9

Rund ein Viertel aller Arzneimittel, die sich derzeit in einer späten Entwicklungsphase befinden, sind Krebsmedikamente. Ein weiterer Indikator für das anhaltende hohe Interesse an der Entwicklung von Krebsmedikamenten ist die Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden, in der Krebsmittel zu den Arzneimitteln gehören, die am häufigsten als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen werden, was auf eine Entwicklung hin zu eng fokussierten Arzneimitteln hinweist. 10 Das Fortschrittstempo im Erwachsenenbereich ist bei Arzneimitteln für Kinder bislang nicht zu erkennen. Bei einigen Kinderkrebsarten stammen die am häufigsten verwendeten Arzneimittel aus den 1990er Jahren, sofern überhaupt welche zur Verfügung stehen.

Gleichzeitig erzeugte die Verordnung sehr wohl eine Wirkung und führte auch zur Zulassung neuer Krebsmittel. Im Rahmen von PPK wurden sieben Entwicklungen abgeschlossen, wodurch Behandlungsmöglichkeiten für das hochgradige Gliom, das Rhabdomyosarkom, das Astrozytom und die akute lymphoblastische Leukämie entstanden.

Die Anzahl der gebilligten PPK für Krebsmittel (68), die über 30 verschiedene Wirkmechanismen umfassen, versprechen weitere Verbesserungen für die Zukunft. Einige dieser PPK basieren auf dem Grundsatz des Wirkmechanismus, d. h. anstatt sich freistellen zu lassen, verpflichteten sich die Unternehmen mit Blick auf den potentiellen Nutzen des Präparats in der Kinderkrebstherapie zur pädiatrischen Forschung.

Die Verordnung sollte ein Appell an die Unternehmen sein, ihr Fachwissen im Bereich der Entwicklung von Kinderarzneimitteln zu vertiefen; diese Zusagen zur pädiatrischen Forschung waren womöglich ein Nebeneffekt davon. Die Verordnung hat strategische Entscheidungen von Unternehmen möglicherweise dahingehend beeinflusst, dass sie den pädiatrischen Therapiebedarf mit einbezogen haben, insbesondere durch die Verwendung innovativer Studiendesigns wie Basket-Studien, bei denen ein Präparat auf mehrere Krebsarten getestet wird, damit die vielversprechendsten Entwicklungen frühzeitig ausgewählt werden können. Außerdem stellt die EU gezielte Finanzierungsmöglichkeiten für die Krebsforschung zur Verfügung, einschließlich über den Europäischen Fonds für strategische Investitionen. 11

Da die oben dargelegten Ergebnisse gemischter Natur sind, wurde teilweise der Ruf nach einer größeren Bedeutung des Grundsatzes des Wirkmechanismus sowie legislativen Änderungen am Freistellungskonzepts laut, um so die Unternehmen zu zwingen, ihre Investitionen in die Entwicklung pädiatrischer Krebsmittel zu verstärken. Ein solcher Ansatz könnte jedoch die Vorhersehbarkeit des Umfangs eines PPK beeinflussen und die Unternehmen dazu bringen, ihre allgemeine Produktentwicklungsstrategie zu überdenken.

Im Jahr 2015 überprüfte die EMA ihre Entscheidung zu Gruppenfreistellungen vor dem Hintergrund des Grundsatzes des Wirkmechanismus und begrenzte in dem Rahmen deren Geltungsbereich. Dieser Ansatz kann dazu beitragen, sich mit Krebsmittel entwickelnden Unternehmen auszutauschen. Bleiben diese Unternehmen weiterhin auf einer Freistellung bestehen, müssen sie dies in einem direkten Antrag an den Pädiatrieausschuss (über eine arzneimittelspezifische Freistellung) begründen. Dieses Verfahren erlaubt eine direkte Diskussion, in der trotz Antrag auf Freistellung das pädiatrische Potenzial hervorgehoben werden kann. Außerdem zwingt es die Unternehmen dazu, im Rahmen der Entwicklung frühzeitig mit dem Ausschuss in Kontakt zu treten, um Gewissheit über die Anforderungen der Verordnung zu erlangen. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Überprüfung der Gruppenfreistellungen auswirkt, denn die Übergangsfrist von drei Jahren ist noch nicht abgelaufen. Anstatt gesetzliche Vorschriften aufzuerlegen, können mit diesem Ansatz jedoch möglicherweise mehr Unternehmen überzeugt werden.

Außerdem ist noch immer nicht ganz klar, warum die Unternehmen die Vorteile der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden bei Kinderkrebs nicht ähnlich nutzen wie bei Krebsarten von Erwachsenen. Es gibt eine erhebliche Anzahl neuer Krebsmittel für Erwachsene, die von dem Anreizsystem der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden deutlich profitieren, während dies bei den Arzneimitteln für Kinderkrebsarten nicht der Fall ist, obwohl sie im Sinne der Verordnung alle als selten gelten.

5.Voranbringen reiner pädiatrischer Entwicklungen

Am sichtbarsten sind die positiven Auswirkungen der Verordnung und der dadurch erzeugte Kulturwandel in der Einbeziehung der pädiatrischen Entwicklung in die allgemeine Entwicklungsstrategie für neue Arzneimittel. Bei reinen pädiatrischen Entwicklungen, die nicht aus einem Entwicklungsprojekt für Erwachsene entstehen, sondern bei denen ein Unternehmen ein ausschließlich für Kinder bestimmtes Arzneimittel für eine spezifische Kinderkrankheit entwickeln will, sind die positiven Auswirkungen weniger offensichtlich.

Die derzeitige Datenlage lässt keine klare Schlussfolgerung zu. Einige sind der Meinung, dass das PPK-Verfahren für Arzneimittel, die ausschließlich für Kinder bestimmt sind, die Komplexität für Kinderarzneimittel erhöht und die Entwicklung dadurch möglicherweise in die Länge zieht. Die EMA und der Pädiatrieausschuss bieten zwar durchaus hilfreiche Leitlinien und stellen sicher, dass alle relevanten pädiatrischen Untergruppen in den Entwicklungsprozess mit einbezogen werden, doch die Auswirkungen sind im Vergleich zu den Entwicklungen im Erwachsenenbereich weniger deutlich. Zumindest in den ersten Jahren nach Inkrafttreten der Verordnung haben die Unternehmen möglicherweise pädiatrische Projekte, die mit einer Produktentwicklung für Erwachsene verbunden waren, gegenüber ausschließlich pädiatrischen Projekten vorgezogen, um sie zeitnah zum Abschluss zu bringen. Das kann sich mit der Zeit zwar ändern, aber insbesondere im Bereich der seltenen Kinderkrankheiten scheint es notwendig, näher zu ergründen, welche gemeinsame Auswirkung die Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden und die Kinderarzneimittelverordnung erzeugen und wie sie zusammenwirken, um den Mehrwert dieser beiden Rechtsverordnungen für ausschließlich bei Kindern vorkommende Krankheiten zu ermitteln.

Für eine Gruppe rein pädiatrischer Entwicklungen wurde mit der Verordnung bisher vergeblich versucht, ein spezifisches Interesse zu erzeugen: Mit der Verordnung wurde das Konzept der Genehmigung für die pädiatrische Verwendung (paediatric use marketing authorisation, PUMA) eingeführt. Hauptziel der Genehmigung für die pädiatrische Verwendung (Artikel 30) ist es, Anreize für die Erforschung bestehender, patentfreier Präparate zu schaffen und/oder dazu beizutragen, die Off-Label-Verwendung von Arzneimitteln in den Zulassungsbereich zu führen, da dieser sicherer und durch die Genehmigung für das Inverkehrbringen klarer geregelt ist. Ist ein Arzneimittel einmal zugelassen, erhält der Hersteller mit der Genehmigung für die pädiatrische Verwendung dafür eine Schutzfrist von zehn Jahren; in diesem Zeitraum dürfen keine entsprechenden Generika in Verkehr gebracht werden.

Bislang wurden nur drei Genehmigungen für die pädiatrische Verwendung gewährt. Angesichts der Tatsache, dass im Siebten Rahmenprogramm (RP7) seit mehreren Jahren EU-Mittel für patentfreie Arzneimittel zur Verfügung stehen, bleibt diese Zahl eindeutig hinter den Erwartungen zurück. Die EMA hat zwar über 20 PPK mit der Aussicht auf eine Genehmigung für die pädiatrische Verwendung gebilligt, doch es ist nach wie vor unklar, wie viele davon tatsächlich abgeschlossen und zur Vermarktung eines neuen Produkts führen werden.

Um zusätzliches Interesse zu wecken, stellten die Kommission und die EMA 2014 klar, dass ein PPK nicht unbedingt alle Altersgruppen abdecken muss, um eine Genehmigung für die pädiatrische Verwendung zu erhalten. Trotzdem hielt sich die Wirkung bisher in Grenzen. Die Unternehmen können ihre Forschungstätigkeiten so zwar womöglich auf die wichtigsten pädiatrischen Untergruppen konzentrieren, doch die Zielgruppe und das Umsatzpotenzial drohen dadurch weiter zu schrumpfen.

Wie jedes Programm, das Unternehmen dazu ermutigen soll, in zusätzliche Forschung für bekannte Präparate zu investieren, die seit langem auf dem Markt sind (Neuausrichtung), hat auch das PUMA-Konzept mit diesen Problemen zu kämpfen. Die Produktentwickler befürchten, dass eine Genehmigung für die pädiatrische Verwendung die Ärzte nicht unbedingt davon abhalten wird, weiterhin wirkstoffgleiche, günstigere Konkurrenzprodukte zu verwenden, die für andere Indikationen zugelassen sind (Off-Label), und dass die Apotheken nicht unbedingt davon abgehalten werden, das betreffende Arzneimittel durch günstigere Varianten zu ersetzen. Außerdem sehen die Kostenträger der nationalen Gesundheitsversorgung in der Regel nicht ein, warum sie für solche Produkte einen Spitzenpreis zahlen sollten.

Angesichts der begrenzten Anzahl der erteilten PUMA ist es weder möglich zu überprüfen, ob diese Risiken begründet sind, noch zu ermitteln, welchen wirtschaftlichen Wert der PUMA-Bonus hat. Aktuelle Daten zeigen zwar, dass die über eine PUMA zugelassenen Arzneimittel in mehreren Mitgliedstaaten zu positiven Erstattungsentscheidungen führten und wirtschaftlich rentabel sind, dies könnte aber schlicht und ergreifend die Ausnahme zur Regel sein – teilweise bedingt durch die spezifischen Eigenschaften des Arzneimittels und nicht so sehr allein durch das PUMA-Konzept.

Daraus ergibt sich die Feststellung, dass der wirtschaftliche Erfolg von PUMA von komplexen Faktoren abhängt, die sich auf EU-Ebene nur schwer regeln lassen. Es geht dabei um nachgelagerte Entscheidungsprozesse auf einzelstaatlicher Ebene und damit einen Bereich, der sich außerhalb des EU-rechtlichen Einflussgebiets befindet. Gesetzgeberische Anreize sind kein Ausgleich für wirtschaftlichen Erfolg. Teilweise wurde vorgeschlagen, dass das PUMA-Konzept vielleicht dort greifen könnte, wo kinderspezifische Formulierungen oder Darreichungsformen erforderlich sind. Diese Hypothese ist zwar theoretisch vorstellbar, die Erfahrung zeigt aber, dass sich mit einer Genehmigung für die pädiatrische Verwendung nicht vollständig ausschließen lässt, dass ein Arzt weiterhin Arzneimittel verschreibt, die nicht für Kinder angepasst wurden.

6.Die Kosten von Kinderarzneimitteln

Mit der Verordnung werden die Pharmaunternehmen aufgefordert, pädiatrische Forschung zu betreiben, die sie ansonsten möglicherweise nicht durchgeführt hätten. Insofern wird ihnen dadurch eine zusätzliche Last auferlegt, denn die Forschung erfordert zusätzliche Investitionen und ein Überwachungsverfahren für die Einhaltung der geltenden Vorschriften. Die Verordnung verknüpft diese Verpflichtung allerdings mit einem Bonussystem, damit die Unternehmen die zusätzlich entstandenen Vorlaufkosten über erweiterte Schutzfristen wieder zurückholen können. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das EU-System vom US-amerikanischen System: für die Einhaltung der pädiatrischen Anforderungen der US-Arzneimittelbehörde (FDA) ist kein Bonus vorgesehen, außer ein Unternehmen führt auf entsprechenden schriftlichen Antrag der FDA freiwillig zusätzliche Forschungsarbeiten durch.

Der Bonus kann abgerufen werden, sobald das PPK abgeschlossen ist und dessen Ergebnisse zu einer entsprechenden Genehmigung für das Inverkehrbringen führen. Dabei hat das Unternehmen selbst dann Anspruch auf den Bonus, wenn die Ergebnisse der pädiatrischen Studien die Verwendung des Präparats bei Kindern letztlich nicht unterstützen; denn der Bonus soll die Forschungsarbeit an sich belohnen, und nicht ein bestimmtes Ergebnis. In der Verordnung wird zwischen folgenden zwei wesentlichen Bonussen unterschieden: dem Bonus in Form einer Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats und dem Bonus für Arzneimittel für seltene Leiden. Die Bonusse schließen sich gegenseitig aus und verfolgen unterschiedliche Zwecke, verzögern aber beide den Markteintritt von Konkurrenzprodukten. Die zusätzlichen Einnahmen, die durch die Bonusse entstehen, werden letztlich von den Kostenträgern der nationalen Gesundheitsversorgung und/oder den Patienten abgedeckt, da die Gesellschaft für die Dauer der Exklusivitätsverlängerung nicht von einem größeren Wettbewerb und niedrigeren Preisen profitiert.

Laut Artikel 36 der Verordnung kann ein Unternehmen eine sechsmonatige Verlängerung der Laufzeit des ergänzenden Schutzzertifikats erhalten. Ein ergänzendes Schutzzertifikat ist ein unabhängiger, einzigartiger Rechtsanspruch in Zusammenhang mit dem Bestehen eines Grundpatents. Das Zertifikat entschädigt den Patentinhaber für die lange Zeit, die erforderlich ist, um eine Genehmigung für das Inverkehrbringen zu erhalten, und in der das Patent vom Patentinhaber nicht verwertet werden kann. Das ergänzende Schutzzertifikat versetzt dessen Inhaber also für einen variablen Zeitraum (von einem bis zu höchstens fünf Jahren) in eine Position, die der eines Patentinhabers ähnlich ist. Dieser Zeitraum wird durch den Bonus in Form einer Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats erweitert oder, falls die Laufzeit dieses Zertifikats zuvor negativ war, in eine positive Laufzeit umgewandelt 12 . Interessanterweise wählte der Gesetzgeber ein externes Bonussystem, das mit dem Patentstatus eines Arzneimittels verknüpft ist, und nicht ein für den Arzneimittelsektor spezifisches Bonussystem mit regulatorischem Datenschutz.

Der Bonus für Arzneimittel für seltene Leiden (Artikel 37) besteht aus einer Erweiterung der Marktexklusivität um zwei Jahre, d. h. auf bis zu zwölf Jahre. Ein Grund für die Einführung des spezifischen Bonus für Arzneimittel für seltene Leiden war die Tatsache, dass zu dem Zeitpunkt, als der Vorschlag für die Verordnung diskutiert wurde, die Mehrheit der für seltene Leiden ausgewiesenen Arzneimittel patentfrei war. Es wurde folglich als angemessen erachtet, einen alternativen Bonus anzubieten, um sicherzustellen, dass die Hersteller von Arzneimitteln für seltene Leiden ebenfalls Zugang zu einer Entschädigung haben.

Das System der Verordnung basiert auf der Annahme, dass der Bonus für alle Arzneimittel zulässig ist, für die ein PPK vorgesehen ist, und zwar nachdem die pädiatrische Entwicklung abgeschlossen ist. In Wirklichkeit konnten nicht alle Unternehmen einen Bonus in Anspruch nehmen. Wie Zahlen belegen, konnten bislang nur 55 % der abgeschlossenen PPK von einem Bonus profitieren; die meisten davon in Form einer Erweiterung des ergänzenden Schutzzertifikats. In einigen Fällen wurde ein Marktexklusivitätsrecht für ein Arzneimittel für seltene Leiden gewährt. Zwar ist zu erwarten, dass sich der Anteil der den Bonus in Anspruch nehmenden Arzneimittel mit der Zeit vergrößert, weil die Unternehmen anfangen, ihre pädiatrische Forschung besser und früher zu planen, doch eine Erfolgsrate von 100 % ist auch für die Zukunft unwahrscheinlich.

6.1.Der Bonus in Form einer Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats

Die Erweiterung der Laufzeit des ergänzenden Schutzzertifikats gilt häufig als wertvollster Bonus. Bis Ende 2016 konnten über 40 Arzneimittel den Bonus in Form einer Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats in Anspruch nehmen und Unternehmen die entsprechenden Zertifikate auf nationaler Ebene beantragen. Die Anzahl der gewährten Verlängerungen ergänzender Schutzzertifikate in den letzten 10 Jahren (über 500) zeigt, dass die Unternehmen diesen Bonus regelmäßig von den nationalen Patentämtern erhalten, bei denen sie den Antrag stellen. Das weist auf ein funktionierendes Bonussystem hin.

Gleichzeitig führt die Nutzung eines externen Bonussystems, das mit einem anderen Rechtsinstrument verknüpft ist, zu Komplikationen und Ineffizienz. Bei den ergänzenden Schutzzertifikaten handelt es sich beispielsweise um nationale Rechtstitel, d. h. die Verlängerungen müssen in dem jeweiligen Mitgliedstaat, in dem es ein ergänzendes Schutzzertifikat gibt, vom nationalen Patentamt gewährt werden; manche betrachten dieses Verfahren als übermäßig komplex.

Darüber hinaus muss die Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats zwei Jahre vor dem Ablauf des Zertifikats beantragt werden. In einigen Fällen führte dies dazu, dass die Unternehmen den Bonus nicht in Anspruch nehmen konnten, da sie das PPK nicht rechtzeitig abschließen konnten. Andererseits stellt diese Frist einen Anreiz für die Unternehmen dar, ihre pädiatrische Forschung so schnell wie möglich abzuschließen, und gleichzeitig wird sichergestellt, dass die Hersteller von Generikaprodukten, die im Wettbewerb mit den betreffenden Unternehmen stehen, mit ausreichendem Vorlauf von etwaigen Laufzeitverlängerungen erfahren, die die Markteinführung ihrer Generika beeinflussen könnten.

Die Verordnung über das ergänzende Schutzzertifikat wird auf Initiative der Kommission derzeit überprüft, um den Nutzen des Instruments zu beurteilen. 13 Die Ergebnisse und die Folgen für die Zukunft des Systems des ergänzenden Schutzzertifikats sind bisher noch nicht bekannt, werden aber für die nächsten Monate erwartet. Durch Modernisierungs- oder Nachbesserungsmaßnahmen können ineffiziente Systembereiche möglicherweise korrigiert werden, sie könnten sich aber auch auf die Funktionsweise des pädiatrischen Bonussystems und damit auf die Verordnung selbst auswirken. Die Ergebnisse der Bewertung sollten bei jeglicher politischen Entscheidung über die Verordnung deshalb unbedingt mit berücksichtigt werden.

Der monetäre Wert des Bonus in Form einer Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats hängt weitgehend von den Gesamteinnahmen ab, das ein bestimmtes Arzneimittel in dem Zeitraum, in dem es von einem ergänzenden Schutzzertifikat geschützt wird, generiert. Der Wettbewerb durch Generika wird in Bezug auf das ganze Arzneimittel (einschließlich der Verwendung bei Erwachsenen) verzögert, wodurch dem Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen ein zusätzlichen Zeitraum mit hohen Einnahmen gewährt wird. In der Vergangenheit entstanden die höchsten Umsatzzahlen in genau diesem Zeitraum. Neue Marktentwicklungen können andererseits zu einer Verkürzung der Ertragszeiten führen. Durch den Markteintritt neuer innovativer Produkte in derselben Therapieklasse kann die Marktposition eines Arzneimittels im Laufe der Zeit geschwächt werden.

Zur Abschätzung des wirtschaftlichen Vorteils, den ein Unternehmen durch den Bonus erlangt, müssen zunächst die regulatorischen Kosten ermitteln werden, die den Unternehmen aufgrund der Einhaltung eines PPK entstehen. Laut einer externen Studie, die von der Kommission in Auftrag gegeben wurde 14 , entstehen der gesamten Industrie durch die Verordnung jedes Jahr geschätzte Kosten in Höhe von 2,1 Mrd. EUR. Diese Zahl ergibt sich aus einer Hochrechnung aufgrund 85 echter pädiatrischer Prüfkonzepte. Die Forschungs- und Entwicklungskosten belaufen sich im Durchschnitt auf insgesamt 18,9 Mio. EUR pro PPK, wobei jedes Konzept durchschnittlich drei klinische Studien umfasst. Darüber hinaus entstehen den Unternehmen in Verbindung mit dem Erstantrag eines PPK und den nachfolgenden Änderungen Gemeinkosten in Höhe von ca. 720 000 EUR.

Diese durchschnittlichen Zahlen beziehen sich zwar auf eine relativ robuste Stichprobengröße, eine Über- bzw. Unterschätzung kann allerdings nicht vollständig ausgeschlossen werden. Da die Schätzungen auf Durchschnittswerten basieren, kommt es unweigerlich zu Abweichungen, insbesondere bei den Kosten für die klinischen Prüfungen (Phase II und Phase III), die den größten Teil der F&E-Kosten ausmachen. 15 Dennoch legen diese Zahlen nahe, dass die der Industrie aufgrund der Verordnung zusätzlich entstehenden Kosten lediglich zu einer begrenzten Steigerung der Gesamtentwicklungskosten eines Arzneimittels führen.

Um diese Kosten mit dem Wert des Bonus in Form einer Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats zu vergleichen, wurden acht Arzneimittel speziell zu diesem Zweck untersucht. Unter den ausgewählten Arzneimitteln befinden sich Produkte, deren ergänzendes Schutzzertifikat zunächst verlängert wurde und deren Schutzdauer vor Ende 2014 auslief. Die Stichprobe ist naturgemäß eher klein, da nur ein Bruchteil der Arzneimittel mit abgeschlossenen PPK ihr Exklusivitätsrecht bereits verloren haben und folglich Daten über die Folgen dieses Verlustes auf das Einkommen liefern können. Die Zahlen zu diesen Arzneimitteln sind zwar mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten, da die Unternehmen in den Anfangsjahren möglicherweise Arzneimittel priorisierten, deren Kapitalrendite (ROI) sie aufgrund der Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats am höchsten einschätzten, doch sie bieten interessante Einsichten in den wirtschaftlichen Wert des Bonus, wenn man das tatsächliche Einkommen bei Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats mit dem hypothetischen Einkommen ohne die Verlängerung vergleicht.

Die Daten zeigen, dass der Preisrückgang bei Markenarzneimitteln häufig im ersten Quartal nach dem Verlust des Exklusivitätsrechts einsetzt, dieser sich im Umfang jedoch begrenzt hält (bis zu 20 %), bevor er weiter sinkt. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen Arzneimitteln und Ländern, was höchstwahrscheinlich auf die Wettbewerbsfähigkeit des spezifischen therapeutischen Marktes und/oder einzelstaatliche Politiken zur Förderung von Generika zurückzuführen ist; dies führt zu großen Unterschieden beim wirtschaftlichen Wert der Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats als Teil der Gesamteinnahmen (zwischen 10 und 93 %). Der bereinigte wirtschaftliche Wert des Bonus in Form einer Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats bei den acht untersuchten Arzneimitteln betrug 926 Mio. EUR, wobei die Einnahmen speziell auf Blockbuster-Produkte abzielten, die in der Stichprobe enthalten waren.

Diese Zahl ist zwar mit den durchschnittlichen F&E-Kosten pro PPK (18,9 Mio. EUR) vergleichbar, bei einer detaillierteren Untersuchung könnte der Schwerpunkt aber auch auf ein produktbasiertes Kosten-Nutzen-Verhältnis der acht Entwicklungen gelegt werden. Das heißt, der geschätzte Nutzen für die Gesellschaft und die Kindergesundheit, der durch die gezwungenermaßen durchgeführte pädiatrische Entwicklung entsteht, wird mit den Kosten verglichen, die der Gesellschaft aufgrund der zusätzlichen Monopolabgabe entstehen, die das Unternehmen über das Bonussystem erhält.

Ein solcher Vergleich ist explorativer Natur, denn die positiven Auswirkungen im Sinne besserer Behandlungsmöglichkeiten für Kinder und eines geringeren Off-Label-Gebrauchs sowie das Potenzial von Nebenwirkungen müssen dabei monetär bewertet werden. Auf der Grundlage eines Modells, das als Teil einer wirtschaftlichen Untersuchung entwickelt wurde, weisen zwei der acht Arzneimittel über einen Zeitraum von zehn Jahren ein sehr günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis für die Gesundheitssysteme auf, d. h. die gesellschaftlichen und gesundheitlichen Vorteile überwiegen gegenüber den Zusatzkosten, die aufgrund der zusätzlichen Monopolabgabe entstehen. Alle anderen Arzneimittel weisen über einen 10-Jahres-Zeitraum ein negatives Kosten-Nutzen-Verhältnis auf, vor allem die Produkte, bei denen der Abschluss eines PPK nicht zu einer neuen pädiatrischen Indikation führte. Es ist zwar nach wie vor hilfreich, Gewissheit darüber zu haben, dass ein Arzneimittel für Erwachsene bei Kindern nicht verwendet werden sollte, doch der wirtschaftliche Wert einer solchen Information ist im Vergleich zum Wert von Arzneimitteln, die eine neue Behandlungsalternative für pädiatrische Patienten darstellen, deutlich geringer.

Diese produktbezogenen Ergebnisse müssten aber möglicherweise um die Arzneimittel bereinigt werden, die die Verpflichtung zur Erstellung eines PPK einhalten mussten, aber in dem betreffenden Zeitraum keinen Bonus erhielten (rund 45 %). Diese Fälle führten zu wertvollen pädiatrischen Informationen, die zugänglich wurden, ohne dass sich die Gesellschaft an den Kosten für die zusätzliche Monopolabgabe beteiligt hat. Werden diese Arzneimittel in die Berechnung miteinbezogen, verbessern sich zwar die Ergebnisse, doch das Kosten-Nutzen-Verhältnis bleibt nach wie vor negativ.

Darüber können aufgrund der zusätzlichen F&E-Investitionen in neue und verbesserte Arzneimittel durch die Verordnung wirtschaftliche Spill-over-Effekte entstehen, die zu weiteren Investitionen führt und sektorübergreifend zur Schaffung von Arbeitsplätzen, Wachstum und Innovation führt. Laut einer konservativeren Schätzung der Rendite einer jährlichen Investitionssumme in pädiatrische F&E in Höhe von 2,1 Mrd. EUR könnte der gesellschaftliche Nutzen nach 10 Jahren insgesamt rund 6 Mrd. EUR betragen. 16 Diese geschätzte gesellschaftliche Rendite ist deutlich höher als der wirtschaftliche Wert der Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats, was darauf hinweist, dass der Nutzen der Verordnung für die Gesellschaft – auf monetärer Ebene – gegenüber den Kosten für die zusätzliche Monopolabgabe überwiegt.

6.2.Der Bonus für Arzneimittel für seltene Leiden

Bisher erhielten sieben Arzneimittel den Bonus für seltene Leiden, bei dem das Marktexklusivitätsrechts um zwei Jahre verlängert wird. 2014 wurde der Bonus erstmals vergeben. Teilweise verzichteten die Unternehmen freiwillig auf die Ausweisung des betreffenden Produkts als Arzneimittel für seltene Leiden, damit das Arzneimittel für den Bonus in Form einer Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats in Frage kommt. Möglicherweise ist das damit zu erklären, dass der Bonus in Form einer Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats indikationsübergreifend die ganze Produktfamilie eines bestimmten Präparats schützt, während der Bonus für Arzneimittel für seltene Leiden tatsächlich auf die ausschließliche Verwendung des Arzneimittels für seltene Leiden beschränkt ist. Können mit einem Arzneimittel also sowohl häufige als auch seltene Krankheiten behandelt werden, liegt das Einkommen aus einer sechsmonatigen Erweiterung des ergänzenden Schutzzertifikats unter Umständen höher als das Einkommen aus einer zusätzlichen Marktexklusivität von zwei Jahren für eine seltene Krankheit.

Dazu kommt vielleicht auch, dass eine ständig wachsende Anzahl der neu zugelassenen Arzneimittel für seltene Leiden patentgeschützt sind (derzeit über 90 %), was erfreulich ist, weil es zeigt, dass das System, das mit der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden eingeführt wurde, aufgrund neuer Forschung für innovative Arzneimittel sorgt. Andererseits macht es auch eine Schwäche des Bonus für Arzneimittel für seltene Leiden sichtbar: Der Bonus ist hauptsächlich für patentfreie Arzneimittel gedacht und ist in seinem Aufbau nicht flexibel genug, um den Unternehmen zu ermöglichen, den Status eines Produkts als Arzneimittel für seltene Leiden beizubehalten und gleichzeitig den Bonus in Form einer Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats zu beantragen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt und ohne weitere Studien ist es nicht möglich, den wirtschaftlichen Wert des Bonus für Arzneimittel für seltene Leiden auf der Grundlage einer ähnlichen Stichprobengröße wie für den Bonus in Form einer Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats abzuschätzen, da die meisten Produkte derzeit noch geschützt werden. Folglich ist es nicht möglich zu untersuchen, wie sich der Verlust des Exklusivitätsrechts tatsächlich auf das Einkommen auswirkt. Angesichts der Seltenheit mancher Krankheiten und der begrenzten Größe des Zielmarktes gibt es beispielsweise keine Garantie dafür, dass entsprechende Generika überhaupt oder genauso schnell auf den Markt kommen wie bei Arzneimitteln für nicht seltene Leiden. Gleichwohl kann zur Abschätzung des wirtschaftlichen Werts des Bonus ein ähnliches Wirtschaftsmodell herangezogen werden wie beim Bonus in Form einer Verlängerung des ergänzenden Schutzzertifikats, mit dem Hauptunterschied, dass die Verzögerung in diesem Fall zwei Jahre anstatt sechs Monate beträgt.

7.Verbesserte Umsetzung

Die Verordnung überträgt der EMA und ihrem Pädiatrieausschuss die vorrangige Zuständigkeit für die Bearbeitung von pädiatrischen Prüfkonzepten, Zurückstellungen und Freistellungen. Die EMA spielt bei der Umsetzung der Verordnung daher eine Schlüsselrolle. Es wurden Anstrengungen unternommen, von den ersten Jahren der Umsetzung zu lernen und die Gutachten über die PPK zu vereinfachen, um die Notwendigkeit von Änderungen zu reduzieren, sofern das Programm nur unwesentlich abgeändert werden soll. Durch diese Anstrengungen konnte die Änderungsrate im Großen und Ganzen reduziert werden, auch wenn die Zahlen zeigen, dass es bei jedem pädiatrische Prüfkonzept im Durchschnitt mindestens eine Änderung gibt. Die meisten Änderungen gehen auf die Fristen (43 %) oder die Anzahl der an der Studie teilnehmenden Kinder (14 %) zurück.

Darüber hinaus wurden mit der Neufassung der Leitlinien der Kommission für das Format und den Inhalt eines pädiatrischen Prüfkonzepts aus dem Jahr 2014 17 diverse Maßnahmen eingeführt, um das Billigungsverfahren der Konzepte zu straffen. Zudem hielt die EMA 2015 im Rahmen eines Pilotprojekts frühzeitige Treffen mit Unternehmen ab, um den pädiatrischen Bedarf schon in die ersten Phasen der Produktentwicklung einzubinden. Auf der Grundlage dieser Erfahrung wird das Konzept der schwerpunktmäßig auf ein bestimmtes Projekt bezogenen Diskussionen über die Produktentwicklung derzeit überarbeitet, um angemessene Zeitpläne und die Einbeziehung pädiatrischer Maßnahmen in die Gesamtentwicklung zu thematisieren.

Sicherzustellen, dass es zwischen den verschiedenen Ausschüssen und Arbeitsgruppen innerhalb ihrer jeweiligen Zuständigkeiten zu Diskussionen über die Arzneimittel und einem Wissensaustausch kommt, ist ein zentraler Bestandteil der Koordinierungsrolle der EMA. Im Bereich der pädiatrischen Entwicklung betrifft das insbesondere den Kontakt des Pädiatrieausschusses mit anderen wissenschaftlichen Gremien oder beratenden Arbeitsgruppen. Zur Ermöglichung dieser Zusammenarbeit laufen ständig verschiedene Verbesserungsmaßnahmen.

Um die Zusammenarbeit zwischen den Regionen zu stärken, wurde 2007 ein aus Vertretern der EMA und der US-Arzneimittelbehörde bestehendes Diskussionsforum eingerichtet, um sich – hauptsächlich über Telekonferenzen („pädiatrische Cluster“) – regelmäßig auszutauschen. Seitdem nehmen auch die japanische Agentur für Arzneimittel und Medizinprodukte (PMDA), das kanadische Gesundheitsministerium (Health Canada) und die australische Arzneimittelbehörde (TGA) als Beobachterin daran teil. 2013 riefen die EMA und ihr US-amerikanisches Pendant die sogenannten „gemeinsamen Kommentare“ über pädiatrische Entwicklungspläne ins Leben, die sowohl bei der EMA als auch bei der FDA eingereicht wurden und dadurch von beiden Behörden geprüft werden. Die Kommentare und Diskussionen der beiden Agenturen haben zwar einen informellen Charakter uns sind nicht verbindlich, doch sie haben dazu beigetragen, ihre jeweiligen Ansichten anzugleichen und widersprüchliche Anforderungen an die pädiatrischen Entwicklungsprogramme zu vermeiden.

Für die EMA und ihren Pädiatrieausschuss – genauso wie für die Unternehmen – bleibt es aber nach wie vor eine Herausforderung, die wichtigsten Aspekte Arzneimittelentwicklung zu berücksichtigen, falls bestimmte Informationen noch nicht bekannt sind und die Diskussionen noch auf Annahmen und einer dünnen Datenlage basieren. Das ist vor allem deshalb der Fall, weil ein Ziel der pädiatrischen Entwicklungspläne darin besteht, Rechtssicherheit darüber zu schaffen, welche Erwartungen die Regulierungsbehörden an die Unternehmen haben. Andererseits ist eine nahtlose Einbindung der pädiatrischen Entwicklung in die Gesamtproduktentwicklung nur durch frühzeitige Planung möglich; ansonsten wird sie zu einer nachträglichen Nebensache. Eigentlich sollte dadurch auch eine (kosten)effizientere F&E möglich sein, da beispielswiese pädiatrische Patienten (z. B. Jugendliche) in Erwachsenenstudien und frühzeitig in die Formulierungsentwicklungsplanung einbezogen werden können, wodurch die Gesamtentwicklungskosten sinken.

8.Mehr klinische Prüfungen an Kindern

Ziel der Verordnung ist es sicherzustellen, dass die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit eines Arzneimittel belegt wird, bevor das Arzneimitteln den Kindern verabreicht wird. Das heißt, dass vor der Zulassung der Arzneimittel mehr klinische Forschung an Kindern erforderlich ist. Aus der Datenlage ergibt sich ein erheblicher Anstieg der Zahlen. Der Anteil der klinischen Prüfungen in der Datenbank über klinische Prüfungen der Europäischen Union (EudraCT), an denen Kinder teilnahmen, hat sich von 2007 bis 2016 von 8,25 % auf 12,4 % um 50 % gesteigert. Außerdem wird deutlich mehr Forschung an bisher vernachlässigten pädiatrischen Untergruppen durchgeführt. Vor der Verordnung wurde bei der Entwicklung neuer Arzneimittel so gut wie keine Forschung an Neugeborenen durchgeführt.

Im Allgemeinen sind EU-Rechtsvorschriften gut dafür geeignet sicherzustellen, dass die pädiatrische Forschung wissenschaftlich fundiert und ethisch vertretbar ist. Diese Aspekte werden nicht nur vom Pädiatrieausschuss der EMA bei seiner Prüfung der pädiatrischen Prüfkonzepte berücksichtigt, sondern auch von den nationalen Ethikausschüssen und Regulierungsbehörden, die für die Zulassung einzelner klinischer Prüfungen zuständig sind.

Die Verordnung förderte die fachliche Diskussion über den optimalen pädiatrischen Prüfplan. Initiativen zum Austausch bewährter Verfahren gehören dabei genauso dazu wie die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Leitlinien. Eine weiterer wichtiger Faktor war die Einrichtung eines Netzwerks von Forschungsnetzwerken durch die EMA (Enpr-EMA) 18 , das sich dank seiner erfolgreichen Arbeit inzwischen über Europa hinaus erstreckt und auch amerikanische, kanadische und japanische nationale und auf mehrere Gebiete spezialisierte Netzwerke umfasst.

Darüber hinaus förderte die Verordnung auch die Weiterentwicklung innovativer Studienkonzepte und Modellierungs- und Simulationsstrategien, um die Anzahl der erforderlichen Studienteilnehmer zu senken. Auch die Debatte darüber, welche Rolle Kinder in Forschungsentscheidungen spielen sollten, gewann durch die Verordnung an Aufmerksamkeit. Die diesbezüglichen Initiativen reichen von der Einrichtung von Beratungsgruppen für junge Menschen über die Diskussion über angemessene Informationen über klinische Studien für Patienten und Eltern bis hin zu praktischen Fragen wie Einverständniserklärungen.

Trotz allem sorgen pädiatrische Studien immer noch für besondere Herausforderungen. Probleme bei der Rekrutierung führen zum Beispiel häufig dazu, dass sich die Durchführung und der Abschluss der Studien verzögert. Bei pädiatrischen Prüfungen handelt es sich außerdem häufig um multizentrische Prüfungen mit nur wenigen Patienten pro Standort, was zu operativen Problemen wie beispielsweise der Schwierigkeit führen kann, das notwendige Personal und Fachwissen vor Ort zu halten. Zur weiteren infrastrukturellen Unterstützung pädiatrischer klinischer Prüfung wurde im Rahmen der „Initiative Innovative Arzneimittel“, einer EU-finanzierten öffentlich-privaten Partnerschaft, Ende 2016 ein europaweites nachhaltiges Netzwerk für klinische Prüfungen im Kindesalter 19 eingerichtet.

Mit der vor kurzem gestarteten Initiative zur Einrichtung Europäischer Referenznetze 20 unterstützt die Kommission virtuelle Netzwerke aus Gesundheitsdienstleistern aus ganz Europa, um komplexe und seltene Leiden und Erkrankungen zu bekämpfen, die eine hochspezialisierte Behandlung sowie konzentriertes Wissen und gebündelte Ressourcen erfordern. Die themenspezifischen Netzwerke, die an dem Projekt teilnehmen, konzentrieren sich teilweise speziell auf seltene Leiden im Kindesalter. Sie werden für eine engere Zusammenarbeit sorgen und den Weg frei machen für zusätzliche klinische Forschung, die in der Vergangenheit nicht machbar gewesen wäre.

Insgesamt hat die Verordnung die pädiatrische Forschung deutlich gestärkt. Dabei wird anerkannt, dass das Ziel dieser Forschung die Entwicklung neuer Arzneimittel ist. Bei einigen Erkrankungen und in bestimmten Therapiebereichen wurde noch kein tiefgreifendes Verständnis der zugrundeliegenden Erkrankung erreicht. Um eine angemessene Produktentwicklung zu ermöglichen und diese mit den nötigen Informationen zu untermauern, wäre es sinnvoll, zusätzliche Grundlagenforschung über die Krankheiten selbst zu betreiben. Die Verordnung kann das nicht leisten; vielmehr sind dafür zusätzliche Anstrengungen und Mittel aus öffentlichen und privaten Quellen erforderlich.

9.Herausforderungen der Zukunft

Die Art und Weise, wie Arzneimittel entwickelt werden, kann sich aufgrund des wissenschaftlichen Fortschritts, technologischer Entwicklungen und neuer Geschäftsmodelle mit der Zeit ändern. Zu den neuesten Trends gehören etwa die stratifizierte Entwicklung von Arzneimitteln oder das Konzept der personalisierten Medizin, bei der die Verwendung von Arzneimitteln dadurch optimiert werden soll, dass die Medikamente individuell an die Gene der einzelnen Patienten angepasst werden, um sicherzustellen, dass sie tatsächlich auf eine bestimmte Therapie ansprechen. Auch der verstärkte Markteintritt von Technologieunternehmen zur Verbesserung der Therapien durch technologiegestützte Patientenunterstützung und Dienstleistungen dürfte sich in den kommenden Jahren abzeichnen.

Die meisten dieser neuen Entwicklungsparadigmen scheinen zwar durch und durch kompatibel mit den Mechanismen der Verordnung zu sein, doch die Art und Weise, wie Unternehmen über Investitionsprioritäten entscheiden und klinische Prüfungen aufbauen, kann dadurch beeinflusst werden. Auf kurze Sicht werden sich diese Trends wahrscheinlich nicht auf die Verordnung auswirken, denn bis 2021 sollen jährlich 45 neue Wirkstoffe auf den Markt kommen, was bedeutet, dass es eine historisch hohe Anzahl neuer Arzneimittel gibt, die sich innerhalb der Pipeline in den letzten Entwicklungsphasen befinden. Das PPK-Verfahren muss jedoch die nötige Flexibilität bieten, diese Trends abzubilden, und gleichzeitig sicherstellen, dass die Kinder neue Konzepte wie die personalisierte Medizin in vollem Umfang in Anspruch nehmen können.

Im Detail betrachtet, sollte auch die Tatsache berücksichtigt werden, dass die Umsetzung der Verordnung voraussetzt, dass nicht nur seitens der EMA 21 , sondern auch seitens der Mitgliedstaat erhebliche Ressourcen investiert werden – und zwar durch die Bestellung von Mitgliedern in den Pädiatrieausschuss und die Mitarbeit bei der Beurteilung der pädiatrischen Prüfkonzepte oder der historischen oder neuen pädiatrischen Prüfergebnisse, die von den Unternehmen vorgelegt werden. Als Teil des Anreizprogramms für die Entwicklung von Kinderarzneimitteln können die Antragsteller diese Verfahren laut der Verordnung gebührenfrei in Anspruch nehmen. Es spricht zwar nichts dafür, dass sich die Gebührenfreiheit bislang negativ auf die Qualität der Beurteilung auswirkte, doch die Langzeitauswirkung auf das reibungslose Funktionieren des Systems ist bisher noch nicht bekannt. Im Rahmen der laufenden Prüfung des Gebührensystems der EMA wird die Kommission auch die Kosten für die Beurteilung der pädiatrischen Prüfkonzepte untersuchen.

10.Schlussfolgerung

Die Verordnung hat die Entwicklung von Kinderarzneimitteln in der EU erheblich beeinflusst. Dank der Verordnung wurde die Entwicklung von Kinderarzneimitteln zu einem festen Bestandteil der Gesamtentwicklung von Arzneimitteln. Dieses Ergebnis wäre ohne spezifische Rechtsvorschriften nicht möglich gewesen und unterstreicht die anhaltende Bedeutung der Verordnung. Die Maßnahmen zur Verbesserung der Umsetzung der Verordnung haben ihre Wirksamkeit mit der Zeit gestärkt.

Auf wirtschaftlicher Ebene weist die Verordnung aus sozioökonomischer Sicht eine positive Gesamtbilanz auf, was zeigt, dass die Direktinvestitionen ein angemessenes Mittel sind, um die Verfügbarkeit von Kinderarzneimitteln zu verbessern. Die Kombination aus Verpflichtungen und Boni scheint eine wirksame Methode zu sein, mehr Aufmerksamkeit auf die pädiatrische Entwicklung von Arzneimitteln zu lenken. Andererseits wurden die Boni nur von 55 % der abgeschlossenen PPK in Anspruch genommen, und teilweise fielen die Ausgleichszahlungen zu hoch oder zu niedrig aus, was auf bestimmte Einschränkungen des aktuellen Systems hinweist. Darüber hinaus hat das PUMA-Konzept mit seinem spezifischen Bonus die Erwartungen nicht erfüllt.

Der Anstieg der pädiatrischen Forschung und die steigende Zahl der neuen Arzneimittel mit spezifischen pädiatrischen Indikationen sind erfreulich; sie werden im Laufe der Zeit sicherstellen, dass der Off-Label-Gebrauch von Arzneimitteln für Erwachsene in der pädiatrischen Bevölkerungsgruppe zurückgehen wird. Die positiven Ergebnisse sind allerdings nicht in allen Therapiebereichen gleich verteilt; sie konzentrieren sich vielmehr auf bestimmte Bereiche, bei denen die Forschungspriorität häufig auf Erwachsenen und nicht auf Kindern liegt.

Das zeigt, dass die Verordnung in den Bereichen am besten funktioniert, in denen sich der Bedarf von Erwachsenen und Kindern überschneidet. Vor allem bei seltenen Leiden und/oder bei Krankheiten, die nur bei Kindern vorkommen, die in vielen Fällen auch im Rahmen der Rechtsvorschriften für Arzneimittel für seltene Leiden geregelt werden, sind wichtige therapeutische Fortschritte bislang oft ausgeblieben. Warum das so ist und warum der Bonus für Arzneimittel für seltene Leiden teilweise nicht dazu führt, dass pädiatrische Entwicklungen auf ähnliche Art vorangetrieben werden wie Entwicklungen von Arzneimitteln für seltene Leiden bei Erwachsenen, muss noch weiter untersucht werden.

Bevor irgendwelche Änderungen vorgeschlagen werden, beabsichtigt die Kommission daher eine genauere Betrachtung des kombinierten Effekts der Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden und der Kinderarzneimittelverordnung, und zwar durch eine gemeinsame Bewertung dieser beiden Rechtsinstrumente, deren gemeinsames Ziel es ist, die Entwicklung von Arzneimitteln für Untergruppen mit besonderen Bedürfnissen zu unterstützen. Angesichts der Tatsache, dass die in diesem Bericht ermittelten Schwächen häufig in Zusammenhang mit pädiatrischen Erkrankungen stehen, die als seltene Leiden gelten, ist ein solcher gemeinsamer Ansatz die einzige Möglichkeit zu gewährleisten, dass ggf. die richtigen Parameter angepasst werden.

Der vorliegende Bericht versteht sich nicht als Abschluss, sondern als wichtiger Zwischenschritt in der Debatte über eine gemeinsame Vision für die zukünftigen Parameter für Kinderarzneimittel und Arzneimittel für seltene Leiden. Im Rahmen der weiteren Bewertung zur Unterstützung dieses Prozesses sollen bis 2019 entsprechende Ergebnisse vorgelegt werden, damit die nächste Kommission eine fundierte Entscheidung über die möglichen politischen Optionen treffen kann. Dadurch können auch die künftigen Ergebnisse der Bewertung des ergänzenden Schutzzertifikats in die Gestaltung der Kinderarzneimittelverordnung der Zukunft mit einfließen.

Bis dahin setzt sich die Kommission für eine positive Agenda konkreter Maßnahmen ein, um die derzeitige Anwendung und Umsetzung der Vorschriften gemeinsam mit der EMA 22 bei Bedarf zu optimieren. Diese umfassen unter anderem:

·die Sicherstellung zusätzlicher Transparenz hinsichtlich neuer Arzneimittel, die für pädiatrische Indikationen zugelassen werden;

·die Analyse der Erfahrungen mit Zurückstellungen und die Prüfung von Änderungen in der Praxis, um den Abschluss von PPK zu beschleunigen;

·die Prüfung von Verfahren und Erwartungen in Zusammenhang mit der Bearbeitung von Anträgen für PPK und gegebenenfalls Anpassung der entsprechenden Leitlinie der Kommission;

·das Ausloten von Möglichkeiten, den pädiatrischen Bedarf in einem offenen und transparenten Dialog zu diskutieren, an dem alle relevanten Interessenträger wie die akademische Welt, Gesundheitsdienstleister, die Patienten/Pflegende, Netzwerke für klinische Prüfungen im Kindesalter sowie Vertreter der Industrie und von Regulierungsbehörden beteiligt sind;

·die Bereitstellung regelmäßiger Updates zu Entwicklungen und Trends der Kinderarzneimittelforschung in der EU;

·die Förderung internationaler Zusammenarbeit und Harmonisierung.

Durch Projekte wie die Europäischen Referenznetzwerke, die Gesundheitsdienstleister und Fachzentren zusammenbringen, wird die hochwertige Gesundheitsversorgung und Forschung für Kinder weiter gefördert. Diese Netzwerke können den Zugang zur Diagnose und Behandlung auf kurze Sicht erheblich verbessern und für die Gesundheit von Kindern einen entscheidenden Unterschied machen.

(1)  Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Kinderarzneimittel (ABl. L 378 vom 27.12.2006, S. 1).
(2)  10-year report to the European Commission – General report on the experience acquired as a result of the application of the Paediatric Regulation (10-Jahres-Bericht zur Vorlage bei der Europäischen Kommission – Allgemeiner Bericht über die Erfahrungen mit der Anwendung der Kinderarzneimittelverordnung).
(3)  Technopolis, Study on the economic impact of the Paediatric Regulation, including its rewards and incentives (Studie über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Kinderarzneimittelverordnung, einschließlich ihrer Bonusse und Anreize), 2017.
(4) Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Dezember 2016 über die Kinderarzneimittelverordnung.
(5) Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden (ABl. L 18 vom 22.1.2000, S. 1).
(6)  Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (ABl. L 152 vom 16.6.2009, S. 152).
(7)  Bessere Arzneimittel für Kinder – Vom Konzept zur Wirklichkeit, COM(2013) 443.
(8)  Studie von Technopolis, Kapitel 5.
(9)  QuintilesIMS Institute, Outlook for global medicines through 2021 (Ausblick für globale Arzneimittel bis 2021), Dezember 2016.
(10)  Europäische Kommission, Inventory of Union and Member States incentives to support research into, and the development and availability of, orphan medicinal products (Bestandsaufnahme der Anreize der Union und Mitgliedstaaten zur Unterstützung der Erforschung, Entwicklung und Verfügbarkeit von Arzneimitteln für seltene Leiden), SWD(2015)13.
(11)   https://ec.europa.eu/commission/news/investment-plan-europe-eib-grants-financing-apeiron-2017-aug-28_de .
(12)  Europäischer Gerichtshof in der Rechtssache C-125/10 Merck Sharp & Dohme gegen Deutsches Patent- und Markenamt, ECLI:EU:C:2011:812.
(13)  DG GROW, Optimising the Internal Market’s industrial property legal framework relating to supplementary protection certificates (SPC) and patent research exemptions (Optimierung des Rechtsrahmens des Binnenmarkts für gewerbliche Schutzrechte in Verbindung mit ergänzenden Schutzzertifikaten und Forschungsprivilegien für Patente), 16.2.2017.
(14)  Studie von Technopolis, Kapitel 2.
(15)  Studie von Technopolis, Kapitel 2.2.
(16)  Studie von Technopolis, Kapitel 6.
(17)  Leitlinie für Format und Inhalt von Anträgen auf Billigung oder Änderung eines pädiatrischen Prüfkonzepts, ABl. C 338 vom 27.9.2014, S. 1.
(18)  Europäisches Netzwerk für die pädiatrische Forschung der Europäischen Arzneimittel-Agentur.
(19)   https://www.imi.europa.eu/ .
(20)  Eingerichtet nach Artikel 12 der Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, https://ec.europa.eu/health/cross_border_care/policy_de .
(21)  In Einklang mit Artikel 48 der Verordnung unterstützt der Beitrag aus dem EU-Haushalt, den die EMA erhält, die Tätigkeiten der Agentur im pädiatrischen Bereich.
(22)  In dem Zusammenhang müssen aufgrund der Verlegung der EMA zur Aufrechterhaltung der Betriebskontinuität gegebenenfalls bestimmte Prioritäten gesetzt werden.