15.12.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 434/30


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Rolle und Perspektiven für die Sozialpartner und weitere Organisationen der Zivilgesellschaft bei den neuen Beschäftigungsformen“

(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des estnischen Ratsvorsitzes)

(2017/C 434/05)

Berichterstatterin:

Franca SALIS-MADINIER

Mitberichterstatterin:

Jukka AHTELA

Befassung

Estnischer Vorsitz des Rates, 17.3.2017

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

19.7.2017

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.9.2017

Plenartagung Nr.

528

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

185/2/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) erachtet es mehr denn je als notwendig, in dieser Zeit eines umfassenden digitalen, ökologischen und demografischen Wandels, der tiefgreifende Veränderungen für Arbeitnehmer, Arbeitgeber und für ihre Beziehungen als Sozialpartner mit sich bringt, die Rolle des sozialen Dialogs und der Tarifverhandlungen auf allen Ebenen anzuerkennen und zu stärken.

1.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der sich derzeit vollziehende Wandel so umfassend ist, dass eine kollektives, breit angelegtes und integratives Nachdenken erforderlich wird. Die Methode dafür muss auf einen sozialen Dialog auf allen Ebenen und auf die Einbeziehung aller Beteiligten gestützt sein, um stets weiter nach neuen, zweckdienlichen Antworten zu suchen und Vorschläge für die Welt von morgen und ihre Gestaltung vorzulegen.

1.3.

Die Sozialpartner sollten sich im Klaren sein über die Beschleunigung und das Ausmaß der Umwälzungen, sie sollten entschlossen sein, deren negativen Auswirkungen zu begrenzen, und überzeugt, dass die Wirtschaft des Teilens positive Entwicklungen bewirken und zu ergreifende Chancen bieten kann.

1.4.

Der EWSA ist überzeugt, dass die Ziele und die Grundsätze des sozialen Dialogs auch in der neuen Welt der Arbeit nach wie vor gültig sind. Der soziale Dialog, der u. a. die Unterrichtung, Anhörung und Mitwirkung der Arbeitnehmer umfasst, muss auf gegenseitigem Vertrauen und der Achtung der nationalen Gepflogenheiten beruhen.

1.5.

Der EWSA hat in mehreren seiner Stellungnahmen die zentrale Rolle des sozialen Dialogs bei den neuen Beschäftigungsformen bekräftigt (1). Der soziale Dialog muss eine herausragende Rolle spielen, und zwar auf allen relevanten Ebenen und unter vollständiger Achtung der Autonomie der Sozialpartner.

1.6.

Der EWSA ist der Meinung, dass derzeit noch nicht abzusehen ist, welche Chancen und Herausforderungen insgesamt durch die digitale Wirtschaft entstehen. Die Rolle des sozialen und gesellschaftlichen Dialogs besteht nicht darin, sich diesen Veränderungen zu widersetzen, sondern in ihrer Steuerung, um die Vorzüge bestmöglich zu nutzen, die diese Veränderungen für das Wachstum, die Förderung von Innovationen und Kompetenzen, hochwertige Arbeitsplätze, und für eine nachhaltige und solidarische Finanzierung des sozialen Schutzes haben können.

1.7.

Wie der EWSA bereits erklärt hat, werden die gewerkschaftliche Vertretung und die Tarifverhandlungen für die Arbeitnehmer der Plattformen in Frage gestellt (2). Es ist daher angezeigt, die Hindernisse für die Ausübung derjenigen Grundrechte zu beseitigen, die durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie die Übereinkommen der IAO garantiert werden (3).

1.8.

Die digitale Arbeitswelt ist eine Herausforderung für die traditionellen Methoden der Verwaltung und Geschäftsleitung, sie verlangt eine partizipative Steuerung und die Festlegung kollektiver Spielregeln. Bei dieser neuen Art der Steuerung müssen Räume für den Meinungsaustausch und für eine Beteiligung der Beschäftigten an der Lösung von Problemen sowie für den Austausch bewährter Verfahren vorgesehen werden, um so gemeinsame Bezugspunkte zu fixieren und das berufliche Fachwissen zu stärken sowie den Einsatz der personellen Ressourcen im Prozess der Innovation und der Entwicklung des Unternehmens zu optimieren.

1.9.

Zugleich erkennt der EWSA an, dass für die neuen Beschäftigungsformen, bei denen es weniger Vermittlung und einen raschen und unaufhörlichen Wandel gibt, die Strukturen und Verfahren des sozialen Dialogs angepasst werden müssen.

1.10.

Der EWSA empfiehlt, die Autonomie der Sozialpartner zu wahren, denn sie haben sich im Rahmen der Tarifverhandlungen dazu verpflichtet, innovative Formen des sozialen Dialogs und Antworten zu finden, die dem Bedarf der Arbeitgeber und ebenso der Arbeitnehmer sowohl in den traditionellen Unternehmen als auch in der digitalen Wirtschaft gerecht werden.

1.11.

Der EWSA führt in dieser Stellungnahme einige erste Erfahrungen, Antworten und innovative Lösungen sowie Tätigkeiten von Gewerkschaften und Ergebnisse von Tarifverhandlungen an, die allesamt Reaktionen auf die mit diesen Veränderungen verbundenen Herausforderungen sind.

1.12.

Der EWSA stellt fest, dass die Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf die Arbeit für alle Mitgliedstaaten auf europäischer Ebene Vorrang haben und in den Mittelpunkt des sozialen Dialogs gerückt werden müssen. Der EWSA spricht folgende Empfehlungen aus:

Überwachung der Entwicklungen und Trends, der Gefahren und Chancen der Digitalisierung und deren Auswirkungen auf die Arbeitsbeziehungen, die Arbeitsbedingungen und den sozialen Dialog,

Erhöhung der Wirksamkeit und Relevanz des sozialen Dialogs über die Veränderungen in der Arbeitswelt durch geeignete Mittel wie Informationsaustausch, die Durchführung prospektiver Studien und die gemeinsame Nutzung bewährter Verfahren sowie geeignete rechtliche und sonstige Rahmenbedingungen.

1.13.

In Anbetracht der tiefgreifenden Veränderungen überall in der Welt der Arbeit stellt sich auch die Frage einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartnern und den weiteren Organisationen der Zivilgesellschaft. Der EWSA hat bereits erklärt, dass klar zwischen dem sozialen Dialog und dem zivilen Dialog zu unterscheiden ist, wobei diese beiden Dialoge zwar nicht zusammengefasst, allerdings auch nicht vollständig voneinander getrennt werden dürfen (4). Außerdem zählen zu den in dieser Stellungnahme genannten Initiativen u. a. die umfassenden Konsultationen auf Ebene der Regierungen, wobei in die umfassenderen Debatten über die Auswirkungen der IKT auch weitere Interessenträger der Zivilgesellschaft einbezogen wurden.

2.   Einleitung

2.1.

Wie im Jahr 1985, als den Sozialpartnern und dem sozialen Dialog eine wichtige Rolle und Legitimität beim europäischen Aufbauwerk zugewiesen wurden, empfiehlt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, in dieser Zeit großer Umwälzungen die Rolle der Sozialpartner auf allen Ebenen zu stärken und zugleich die Rolle der Vertreter der Zivilgesellschaft anzuerkennen.

2.2.

Mit den neuen Formen der Beschäftigung und der steigenden Zahl der Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen ergibt sich die Notwendigkeit, diese Arbeitnehmer durch eine verstärkte Unterrichtung und Anhörung sowie durch eine Anpassung der kollektiven Rechte und der Bestimmungen über die Arbeitszeit und die sozialen Rechte mit einzubeziehen (5).

3.   Die Arbeit über Plattformen

3.1.

Einer Erhebung im Eurobarometer zufolge (6) nutzen 17 % der Bürgerinnen und Bürger der EU digitale Plattformen als Kunden und Arbeitnehmer. Sie sind größtenteils hoch qualifiziert und leben in städtischen Gebieten. Nur 5 % dieser Bürger bieten als Arbeitnehmer regelmäßig Dienstleistungen und ihre Arbeitskraft auf den Plattformen an, und 18 % tun dies sporadisch. Die Erwerbstätigkeit über die Plattformen als Haupterwerb ist daher noch eine Randerscheinung, aber sie nimmt zu. Allerdings gibt es viel erheblichere Auswirkungen der digitalen Technologie und der künstlichen Intelligenz auf die traditionellen Unternehmen, und — ohne die Arbeit auf den Plattformen zu vernachlässigen — sollten diese Entwicklungen, mit denen die Formen und die Organisation der Beschäftigung grundlegend verändert werden, im sozialen Dialog in den Mittelpunkt gerückt werden.

3.2.

Der EWSA fordert dazu auf, die vertragliche Stellung der Schwarmarbeiter (Crowdworker) und die anderen neuen Beschäftigungsformen zu untersuchen, sowie die Pflichten der Vermittler im Hinblick auf die Verhandlungen über die Arbeitsbedingungen. Klarstellungen sind ebenso zum Beschäftigungsstatus in Bezug auf Steuern und Sozialversicherung notwendig.

3.3.

Der EWSA empfiehlt, dass die Europäische Kommission, die OECD und die ILO gemeinsam mit den Sozialpartnern geeignete Bestimmungen zu menschenwürdigen Arbeitsbedingungen und dem Schutz von Arbeitnehmern, die IKT-gestützt mobil arbeiten, sowie von Erwerbstätigen in sonstigen neuen Beschäftigungsverhältnissen entwickeln sollten. Der EWSA hält die Erarbeitung eines Ansatzes auf EU-Ebene für sinnvoll, weist jedoch darauf hin, dass die meisten Maßnahmen auf nationaler, sektoraler oder betrieblicher Ebene umgesetzt werden müssen (7).

3.4.

Der EWSA ist vor allem besorgt, dass das Recht der Arbeitnehmer auf gewerkschaftliche Vertretung und ihr Recht auf Tarifverhandlungen infrage gestellt werden könnten. So könnten beispielsweise die EU-Wettbewerbsvorschriften auf selbstständige Arbeitnehmer Anwendung finden, die sich eigentlich in einer Situation befinden, die mit der eines abhängigen Beschäftigten vergleichbar ist. Es muss daher im Einzelfall geprüft werden, welchen Status der betreffende Arbeitnehmer hat, und im Falle der unselbständigen Tätigkeit müssen die Hindernisse beseitigt werden, die den Ausschluss dieser Arbeitnehmer aus den Tarifverhandlungen und der gewerkschaftliche Vertretung bewirken könnten (8).

4.   IKT und vorrangige Themen für die Sozialpartner im sozialen Dialog

4.1.

Nach Ansicht des EWSA sollten im Zeitalter der Digitalisierung folgende Fragen zu den großen Themen des sozialen Dialogs zählen: die Beschäftigung, berufliche Übergänge, die lebenslange Bildung (9), vor allem die berufliche Bildung, der soziale Schutz und die Nachhaltigkeit seiner Finanzierung (10), die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung sowie die Einkommenssicherheit.

5.   Beschäftigung und berufliche Bildung

5.1.

Die qualitative und quantitative Entwicklung der Beschäftigung aufgrund des digitalen Wandels ist nur schwer fassbar, insbesondere weil die Folgen je nach Wirtschaftszweig und Berufen unterschiedlich ausfallen können.

5.2.

Gleichwohl liegt es in der Verantwortung der Sozialpartner, diese zu antizipieren, damit die Kompetenzen der Arbeitnehmer an die neuen Berufsfelder angepasst werden können (11). Die lebenslange Bildung und die Anpassung ihres Inhalts an die nachgefragten digitalen Kompetenzen haben vorrangige Bedeutung. In einigen Mitgliedstaaten besteht ein Mindestanspruch auf bezahlte Bildungsfreistellung. Es sollte geprüft werden, ob dies für Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein sinnvolles Instrument zur Anpassung des Qualifikationsbedarfs ist und es europäischer Maßnahmen bedarf, um diese Erfahrungen in der EU zu verallgemeinern (12).

6.   Sozialschutz

6.1.

Die Funktionsweise der Systeme der sozialen Sicherheit muss überprüft und gegebenenfalls angepasst werden, denn sie war für durchgehende berufliche Laufbahnen entwickelt worden, die jetzt immer weniger die Regel sind. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der EU-Bürger, die in Teilzeit arbeiten, um 11 Millionen gestiegen (jetzt 44 Millionen), und die Zahl der Arbeitnehmer mit einem befristeten Arbeitsvertrag stieg um mehr als 3 Millionen (jetzt insgesamt 22 Millionen) (13).

6.2.

Auf nationaler und auf europäischer Ebene müssen politische Entscheidungen im Finanz- und Steuerbereich getroffen werden, um die Nachhaltigkeit unserer Sozialschutzsysteme zu gewährleisten, und auch diese Themen sind ein Thema für den sozialen Dialog.

7.   Die rechtliche Entwicklung des Unterordnungsverhältnisses

7.1.

Der EWSA vertrat in einer Stellungnahme (14) die Auffassung, dass die Definition der Arbeit als solcher und die strukturierende Unterscheidung zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit rechtlich weiterentwickelt werden müssen, damit die Erwerbstätigen im IKT-Bereich nicht ohne Schutz dastehen. Der EWSA fordert eine Klärung der Stellungen und Beziehungen in der digitalen Wirtschaft, um dafür zu sorgen, dass alle Arbeitnehmer über soziale Rechte und einen angemessenen Sozialschutz verfügen. Den Sozialpartnern kommt eine entscheidende Rolle zu um dafür zu sorgen, dass dieser Prozess zu einem positives, fairen und nachhaltigen Ergebnis führt, und dass etwaige Grauzonen bei Rechten und Schutz ausgeräumt werden.

8.   Auswirkungen auf die Beschäftigung

Die Digitalisierung hat tiefgreifende Auswirkungen sowohl auf bestehende Organisationen als auch auf neue Körperschaften. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitsmethoden, wie der rasche Anstieg der Telearbeit in zahlreichen Branchen nehmen jedoch rasant zu. Laut einer Studie von Eurofound aus jüngster Zeit sind in der EU-28 insgesamt durchschnittlich rund 17 % aller Beschäftigten in Telearbeit oder als mobile Arbeitnehmer im IKT-Bereich tätig (15).

8.1

Die Zunahme der Zahl der Telearbeiter und der mobilen Arbeitnehmer zwingt die Sozialpartner, neue innovative Wege und Verfahren zu finden, wie diese in den Räumlichkeiten der Unternehmen physisch nicht mehr anwesenden Arbeitnehmer erreicht werden können.

9.   Überwachung und Kontrolle der Arbeit

9.1

Die IKT und die Digitalisierung bieten zwar für bestimmte Arbeitnehmer die Chance, eigenständig über Arbeitszeit und Arbeitsorte zu entscheiden (da für ihre Bewertung in stärkerem Maße die Ergebnisse als die Stunden der Anwesenheit entscheidend sind), für andere wiederum werden durch die Informations- und Kommunikationstechnologien zwangsläufig eine Überwachung und verstärkte Kontrolle ihrer Arbeit eingeführt.

9.2

Die Sozialpartner müssen diese Herausforderungen im Wege des sozialen Dialogs bewältigen, um die kollektiven Interessen all dieser Arbeitnehmer zu vertreten und eine qualitativ hochwertige Arbeit zu gewährleisten.

10.   Die hypervernetzten Arbeitnehmer und die Gefahren für die Gesundheit

10.1

Die immer intensivere Nutzung der IKT kann auch eine Chance für bestimmte Arbeitnehmer sein und Eigenständigkeit sowie eine bessere Vereinbarkeit von Berufs-, und Privatleben bieten, kann bei schlechter Steuerung aber auch eine Gefahr für die Gesundheit sein. Der Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen mit Stress und Burnout-Syndrom ist eine Realität, die Anlass zur Sorge gibt und hohe Kosten verursacht. Im sozialen Dialog müssen entsprechende Lösungen gefunden werden. Die Kommission hat einen Richtlinienvorschlag zur Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben von Eltern und pflegenden Angehörigen im Rahmen des Maßnahmenpakets zur europäischen Säule sozialer Rechte vorgelegt (16).

10.2

Durch die IKT (17) können auch die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben verwischt werden. Einen breit angelegter Dialog, um die ständige Verfügbarkeit der Arbeitnehmer einzuschränken, und Schulungen im Hinblick auf die effiziente Nutzung der IKT sind ebenso erforderlich wie neue Rechte, wie etwa das unlängst in Frankreich eingeführte Recht auf Unerreichbarkeit.

11.   Mitbestimmung

11.1

Mit der Tendenz zu einer zunehmenden Eigenständigkeit, die sich bestimmten Arbeitnehmern durch die Digitalisierung bietet, werden die Unternehmensführung ebenso wie die Managementmethoden und die herkömmlichen hierarchischen Strukturen der Unternehmen herausgefordert. Diese Veränderungen erfordern vielfältigere Formen des sozialen Dialogs, der Unterrichtung und Anhörung sowie eine starke Beteiligung der Arbeitnehmer. Letztere können so selbst zu innovativen Verfahren und zu Entwicklungsprozessen beitragen, die vorteilhaft für die Unternehmen und die an ihnen interessierten Akteure sind.

11.2

Vor diesem Hintergrund ist der EWSA der Ansicht, dass eine stärkere Einflussnahme und Beteiligung der Arbeitnehmer in den Entscheidungsorganen erforderlich sind. Das Vertrauen der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften und deren Beitrag auf allen einschlägigen Ebenen und in allen Gremien auf lokaler Ebene wie auch auf der Ebene der Aufsichts- und Verwaltungsräte, ist von entscheidender Bedeutung. Ihre Beteiligung an der Antizipierung der Veränderungen, die Steuerung und die Beschlussfassung über diese Veränderungen sind von grundlegender Bedeutung für die Bewältigung der Auswirkungen des digitalen Wandels und für die Schaffung eines innovationsfreundlichen Betriebsklimas. Einem Eurofound-Bericht zufolge sind die Führungskräfte in der Mehrzahl davon überzeugt, dass die Einbeziehung der Arbeitnehmer in die Entscheidungen der Unternehmen für deren Wettbewerbsposition vorteilhaft ist (18).

11.3

Der EWSA erachtet es als notwendig, geeignete Formen der Anhörung und Unterrichtung der Arbeitnehmer bei den neuen Beschäftigungsformen zu berücksichtigen. Auf nationaler Ebene und ebenso in den Unternehmen sollten die Sozialpartner Lösungen finden, die am besten dazu geeignet sind, die Beteiligung der Akteure zu gewährleisten.

12.   Erste Ergebnisse des sozialen Dialogs über den IKT-Bereich in den Mitgliedstaaten: Grundsätze und bewährte Verfahrensweisen

12.1

In einer Reihe von Mitgliedstaaten haben die Regierungen einen Dialog über die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung auf den Weg gebracht, an dem Gewerkschaften, Arbeitgeber, Forscher und Vertreter der Zivilgesellschaft beteiligt sind.

12.2

Der EWSA verweist auf die Initiativen, die in einer Reihe von Staaten zur Antizipierung der neuen Beschäftigungsformen ergriffen wurden. An den Initiativen sind die Sozialpartner und die Akteure der Zivilgesellschaft beteiligt, darunter auch die Jugendorganisationen und die in der Armutsbekämpfung tätigen Organisationen.

12.2.1

Deutschland war 2015 Vorreiter mit der Veröffentlichung des Grünbuchs mit dem Titel „Arbeit 4.0 — Arbeit weiter denken“, mit dem der Dialog mit den Sozialpartnern und weiteren Interessenträgern über die Umsetzung des digitalen Wandels angestoßen wurde.

12.2.2

In Frankreich wurde ein Nationaler Rat für Digitalisierung eingerichtet und 2015 der sogenannte Mettling-Bericht veröffentlicht. Gewerkschaften, Arbeitgeber und die Bürgerinnen und Bürger wurden an der Erarbeitung des Berichts beteiligt, der eine Reihe von Empfehlungen enthält, die von den Unternehmen konkret umgesetzt werden müssen.

12.2.3

Initiativen dieser Art wurden von den Regierungen unter Einbeziehung der Sozialpartner, der Hochschulen und der Vertreter der Zivilgesellschaft in Österreich, Finnland, Schweden, Portugal, Italien, Spanien, Ungarn und Dänemark ergriffen.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Ergebnisse dieses Dialogs mit zahlreichen Interessenträgern auf europäischer Ebene konsolidiert werden müssen, und dass die geäußerten Bedürfnisse und angesprochenen Probleme in den Initiativen der EU zu berücksichtigen sind, damit der Bezugsrahmen harmonisiert werden kann.

13.   Sozialpartner und Entwicklung der Themen des sozialen Dialogs und der Aktionen der Gewerkschaften für den IKT-Bereich

13.1

Die nachstehend vom EWSA ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgeführten Versuche, die in zahlreichen Mitgliedstaaten durchgeführt wurden, belegen die Weiterentwicklung der Tätigkeit der Gewerkschaften und den Erwerb neuer Rechte durch Tarifverhandlungen über die neuen Beschäftigungsformen.

13.2

In Frankreich wurden zwei neue Rechte anerkannt: das erste dieser Rechte ist im Arbeitsgesetz vom August 2016 als Recht auf Unerreichbarkeit verankert, mit dem auf die Gefahren einer örtlich und zeitlich unbegrenzten Arbeit reagiert wird. Durch dieses Recht wird den über IKT tätigen Arbeitnehmern die Möglichkeit garantiert, die permanente Verbindung zum Arbeitgeber einzuschränken.

13.3

Im sozialen Dialog auf Unternehmensebene wird dieses Recht auf Unerreichbarkeit in Tarifverträgen für ein Unternehmen oder eine Branche festgeschrieben. In einer Reihe von Unternehmen wurden auch Vereinbarungen zur Telearbeit und zur mobilen Arbeit ausgehandelt. 2016 wurde ein Übereinkommen über den IKT-Bereich — das erste dieser Art in Europa — zwischen den Sozialpartnern einer in der Telekommunikation tätigen Unternehmensgruppe unterzeichnet. Darin ist insbesondere die Einrichtung eines Ausschusses mit den Sozialpartnern vorgesehen, der die neuen Kompetenzen bestimmen soll, die die Arbeitnehmer aufgrund des digitalen Wandels benötigen.

13.4

Das zweite neue, in Frankreich erlangte Recht ist das Recht auf ein persönliches Aktivitätskonto. Alle Arbeitnehmer (abhängig Beschäftigte, Selbständige und Scheinselbständige sowie Arbeitnehmer über Plattformen) können es in Anspruch nehmen und Rechte auf Weiterbildung, auf Sozialleistungen, auf Leistungen bei Erwerbslosigkeit und Altersrente auf einem einzigen, übertragbaren Konto zusammenfassen.

13.5

Zudem zeichnen sich neue innovative Formen des gewerkschaftlichen Handelns ab: bestimmte Gewerkschaften haben eine Plattform eingerichtet, auf der den Selbständigen neue Dienstleistungen wie eine Krankenversicherung sowie an ihre Tätigkeit angepasste Vorsorgegarantien und Rechtsberatung angeboten werden.

13.6

In Deutschland und Schweden haben die deutsche Gewerkschaft IG Metall und die schwedische Gewerkschaft Unionen im Juni 2016 eine Partnerschaft zur Überwachung und Bewertung der Arbeit auf digitalen Plattformen vereinbart, um die durch die neue Wirtschaft ausgelösten Veränderungen zu antizipieren und digitale Werkzeuge für die gewerkschaftliche Kommunikation zu entwickeln, damit die Selbständigen und Schwarmarbeiter organisiert werden können. Der Zugang zu der so geschaffenen Gewerkschaftsplattform ist grenzüberschreitend — das Angebot richtet sich an Arbeitnehmer über die nationalen Grenzen hinaus. Auch in Deutschland wurde eine Vereinbarung auf Branchenebene über mobile Arbeit getroffen, in der die neuen Beschäftigungsformen berücksichtigt werden: Telearbeit, nomadisierte Arbeit, Heimarbeit.

13.7

In Italien haben die Gewerkschaften in bestimmten Unternehmen Vereinbarungen für Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen mit Garantien für Vorsorge und Krankheit ausgehandelt, die bislang ausschließlich den Arbeitnehmern in klassischen Beschäftigungsverhältnissen vorbehalten waren. Zudem enthalten die Vereinbarungen eine angemessene Rechtsberatung.

13.8

In Dänemark, in vielen weiteren Ländern der Europäischen Union wie auch in den USA sind die neuen Formen der Beschäftigung im IKT-Bereich von den Gewerkschaften umfassend kritisiert worden, da sie von den geltenden arbeitsrechtlichen Vorschriften in den traditionellen Wirtschaftszweigen sowie den Steuervorschriften nicht erfasst werden. Das Transportunternehmen Uber, ein Paradebeispiel der Arbeit über Plattformen, stand im Mittelpunkt der Debatten über die digitale Wirtschaft. Die Herausforderung bestand darin, die Fahrer von Uber als abhängig Beschäftigte anzuerkennen und Uber auf dieser Grundlage zu zwingen, sie anzumelden, Arbeitgeberbeiträge zu zahlen und die arbeitsrechtlichen Vorschriften einzuhalten (19). Die Gewerkschaften haben insbesondere zum Ziel, im Namen der Arbeitnehmer von Plattformen über folgende Aspekte zu verhandeln: Mindestlöhne, die Transparenz bei den Kriterien, die die Algorithmen steuern und maßgeblich sind für die Bewertung und Beurteilung der Arbeitnehmer, wie auch über angemessene Arbeitsbedingungen (20).

13.9

In den Niederlanden haben die Arbeitnehmer mit flexiblen Verträgen und auch die „Selbständigen“ ebenfalls begonnen, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

13.10

Der europäische soziale Dialog in der Metallindustrie hat zu einem Gemeinsamen Standpunkt zu den Auswirkungen der Digitalisierung und die zu ergreifenden Maßnahmen geführt, den die Gewerkschaft IndustriAll und der Arbeitgeberverband CEEMET unterzeichnet haben (21).

13.11

Auf europäischer Ebene haben Business Europe, UNI Europa, der CEEP und die UEAPME eine gemeinsame Erklärung zu den Auswirkungen der IKT auf die Arbeitswelt unterzeichnet und auf die großen Herausforderungen hingewiesen, vor denen die Entscheidungsträger in der EU und die Sozialpartner auf europäischer Ebene stehen (22).

Brüssel, den 20. September 2017

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 10; ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 54; ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161.

(2)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 54.

(3)  Artikel 12 und 28 der Charta und die Übereinkommen Nr. 87 und 98 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), siehe auch nachstehend die Ziffern 3.2 ff.

(4)  ABl. C 458 vom 19.12.2014, S. 1.

(5)  So hat es Marianne Thyssen auf der Konferenz zum Thema „Die neue Welt der Arbeit“ zum Ausdruck gebracht, die der EGB und das ETUI im Juni 2016 gemeinsam veranstaltet hatten.

(6)  Flash Eurobarometer Nr. 438 (2016).

(7)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 54.

(8)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 54.

(9)  Stellungnahme zum Thema „Kompetenzen/neue Beschäftigungsformen“ (siehe Seite 36 dieses Amtsblatts).

(10)  Die Notwendigkeit der Anpassung der Besteuerung und der Sozialabgaben auf Arbeit auf den Plattformen zur Finanzierung des sozialen Schutzes, siehe ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161.

(11)  Stellungnahme zum Thema „Kompetenzen/neue Beschäftigungsformen“ (siehe Seite 36 dieses Amtsblatts).

(12)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 161.

(13)  Reflexionspapier zur sozialen Dimension Europas, April 2017.

(14)  ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 33.

(15)  Eurofound: „Arbeit jederzeit und überall: Auswirkungen auf die Arbeitswelt“, April 2017.

(16)  Mitteilung der Europäischen Kommission mit dem Titel „Eine Initiative zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben von berufstätigen Eltern und pflegenden Angehörigen“, April 2017.

(17)  Siehe die Studie von Eurofound: „Arbeit jederzeit und überall: Auswirkungen auf die Arbeitswelt“, April 2017.

(18)  „Work Organisation and employee involvement in Europe“ (Arbeitsorganisation und die Arbeitnehmerbeteiligung in Europa), 2013, siehe auch ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 35.

(19)  In England erging ein Urteil gegen Uber in der Rechtssache Y Aslam, J Farrar und andere gegen Uber; Uber ist in Berufung gegangen.

(20)  „Les impacts sociaux de la digitalisation de l’économie“ (Die Digitalisierung der Wirtschaft und ihre Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte), Christophe Degryse, Arbeitspapier des ETUI 2016.02; „ReformsWatch“, Online-Informationsdienst des ETUI, 2016; „Trade unions must organise people working through plateforms“ (Gewerkschaften müssen Menschen, die auf Plattformen arbeiten, organisieren), Gunhild Wallin, Juni 2016 und „Digitalisation and working life: lessons from the Uber cases around Europe (Digitalisierung und Arbeitswelt: die Lehren aus den Rechtsstreitigkeiten mit Uber in ganz Europa)“, Eurofound, Januar 2016.

(21)  Gemeinsamer Standpunkt von IndustriAll Europe und CEEMET vom 8. Dezember 2016.

(22)  Erklärung der europäischen Sozialpartner zur Digitalisierung, unterzeichnet auf dem Dreigliedrigen Sozialgipfel am 16. März 2016.