2.2.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 34/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Ein EU-Kontrollmechanismus für Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte“

(Initiativstellungnahme)

(2017/C 034/02)

Berichterstatter:

José Antonio MORENO DÍAZ

Mitberichterstatter:

Ákos TOPOLÁNSZKY

Befassung

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, 21.1.2016

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

 

 

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

27.9.2016

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.10.2016

Plenartagung Nr.

520

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

202/1/7

1.   Bemerkungen und Vorschläge des EWSA: ein EU-Mechanismus für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechte

1.1.

Die Europäische Union ist nicht nur ein gemeinsamer Markt; sie ist laut Artikel 2 des Vertrags eine Union gemeinsamer Werte. Außerdem erkennt sie die Rechte, Freiheiten und Grundsätze in der EU-Grundrechtecharta an. Diese Werte, auf die sich die Union gründet, bilden die Grundlage für die Integration und sind Teil der europäischen Identität. Sie sind Kriterien für den Beitritt und müssen von den Mitgliedstaaten danach in der Praxis eingehalten werden. Daher müssen die Vertragsverfahren unbedingt zur Anwendung kommen, wenn diese Werte verletzt werden. Nach Auffassung des EWSA sollten die EU-Institutionen einen proaktiven und präventiven Ansatz im Rahmen ihrer politischen Tätigkeiten wählen, um Probleme frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden.

1.2.

Wie viele europäische Organisationen der Zivilgesellschaft ist der EWSA zutiefst beunruhigt angesichts der Verschlechterung der Menschenrechtslage, der um sich greifenden populistischen und autoritären Tendenzen und der Gefahren, die dies für die Qualität der Demokratie und den Schutz der Grundrechte bedeutet — Rechte, die durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und durch den Europäischen Gerichtshof garantiert werden und als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind (1).

1.3.

Die genannten Werte werden in ganz Europa bedroht. Viele Organisationen der Zivilgesellschaft prangern die Lage in mehreren Mitgliedstaaten an und hoffen, dass der EWSA neue Initiativen verabschieden wird, damit die EU-Organe mit Entschlossenheit reagieren. Es ist nicht nur die Europäische Union in Gefahr, sondern es steht auch das Vertrauen der Bürger in die nationalen und europäischen demokratischen Institutionen auf dem Spiel. Der EWSA hält das Risiko für sehr ernsthaft und systembedingt.

1.4.

Was die Grundsätze und Standards, die sich aus der Rechtsstaatlichkeit ableiten, genau beinhalten, kann je nach dem Verfassungssystem des jeweiligen Mitgliedstaats auf einzelstaatlicher Ebene unterschiedlich sein. Diese Grundsätze und EU-Werte ergeben sich jedoch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie aus Dokumenten, die vom Europarat, insbesondere von der Venedig-Kommission, ausgearbeitet wurden. Zu diesen Grundsätzen gehören: Legalität, was einen transparenten, verantwortungsvollen, demokratischen und pluralistischen Rechtsetzungsprozess einschließt; Verbot willkürlicher exekutiver Befugnisse; unabhängige und unparteiische Gerichte; wirksame gerichtliche Kontrolle, einschließlich Wahrung der Grundrechte; Gleichheit vor dem Gesetz sowie Schutz der Menschenrechte, der auch für Angehörige von Minderheiten gilt.

1.5.

Sowohl der EuGH als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben bekräftigt, dass diese Grundsätze nicht nur rein formale und verfahrenstechnische Anforderungen, sondern Mittel sind, um die Einhaltung und Achtung von Demokratie und Menschenrechten zu gewährleisten. Die Rechtsstaatlichkeit ist ein verfassungsrechtlicher Grundsatz, der sowohl verfahrenstechnische als auch materielle Elemente umfasst.

1.6.

Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit ist untrennbar mit der Achtung von Demokratie und Grundrechten verbunden: Wenn die Rechtsstaatlichkeit nicht gewahrt wird, kann es keine Demokratie und keinen Schutz der Grundrechte geben und umgekehrt: Grundrechte sind nur wirksam, wenn sie justiziabel sind. Die Demokratie wird durch die grundlegende Rolle der Justiz, einschließlich der Verfassungsgerichte, geschützt. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es sich hierbei um Rechte von Menschen und nicht von Mitgliedstaaten oder Regierungen handelt. Deshalb sollte ihrem Schutz oberste Priorität eingeräumt werden.

1.7.

Im Lichte der Arbeit des EP-Ausschusses für konstitutionelle Fragen und unter Berücksichtigung der Berichte der Kommission und der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 27. Februar 2014 zu der Lage der Grundrechte in der Europäischen Union sollte nach Ansicht des EWSA zu gegebener Zeit Artikel 51 (2) der Grundrechtecharta der Europäischen Union dahin gehend geändert werden, dass sein Geltungsbereich erweitert und sichergestellt wird, dass alle Bestimmungen der Charta unmittelbar in den Mitgliedstaaten Anwendung finden (3).

1.8.

Es besteht ein regelmäßiger Dialog zwischen dem Gerichtshofs der Europäischen Union und dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte; dieser Dialog könnte ausgebaut werden, wenn die EU die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) unterzeichnet. Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission im ersten Halbjahr 2017 einen Vorschlag für die Unterzeichnung dieser Konvention durch die EU unterbreitet, die in Artikel 6 Absatz 2 des Vertrags aufgeführt ist.

1.9.

Die Verpflichtungen der Kandidatenländer laut den Kopenhagener Kriterien müssen gemäß Artikel 2 EUV für die Mitgliedstaaten auch nach dem Beitritt zur EU gelten, und der EWSA ist der Auffassung, dass alle Mitgliedstaaten daher regelmäßig beurteilt werden sollten, um zu überprüfen, ob sie auch weiterhin die Grundwerte der EU einhalten und um einem gegenseitigen Vertrauensverlust vorzubeugen.

1.10.

Nach Auffassung des EWSA müssen die EU-Institutionen dafür sorgen, dass die Verfahren und Mechanismen zum Schutz und zur Achtung der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte in allen Mitgliedstaaten gestärkt werden. In den letzten Jahren und insbesondere vor 2014 hat der Ausschuss mit Besorgnis feststellen müssen, dass die Kommission — obwohl sie in einigen Fällen Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat —, ihrer Rolle als Hüterin der Verträge nicht gerecht wurde und nicht in der Lage war, eine angemessene Antwort auf die Verletzungen der europäischen Grundsätze und Werte in mehreren Mitgliedstaaten zu geben.

1.11.

Der EWSA fordert die Kommission auf, gemäß Artikel 2 EUV die Werte und Grundsätze der EU in allen Mitgliedstaaten aktiv zu schützen und zu wahren und den bestehenden Rahmen 2014 voll zu nutzen.

1.12.

Der EWSA schlägt vor, dass die drei EU-Organe (Kommission, Rat und Parlament) einen gemeinsamen Ansatz verfolgen. Dialog und Zusammenarbeit zwischen den Organen sind bei einem derart wichtigen Thema unverzichtbar. Der EWSA plädiert dafür, dass der Rat den bestehenden Rahmen der Kommission durch die Verabschiedung eines Beschlusses zur Stärkung des Rahmens und zur Unterstützung einer weiteren Konsolidierung der Rechtsstaatlichkeit unterstützt.

1.13.

Die zivilgesellschaftlichen Organisationen spielen bei der Förderung demokratischer Werte, dem ordnungsgemäßen Funktionieren der Rechtsstaatlichkeit und dem Schutz von Grundrechten eine zentrale Rolle. Angesichts des schrumpfenden demokratischen Raums und der Sachzwänge, mit denen die NGO in den Mitgliedstaaten konfrontiert sind, ist die positive Rolle der NGO an der Basis zu bewundern. Der Ausschuss arbeitet sehr engagiert mit den Sozialpartnern und den NGO am Schutz der Grundrechte und der Rechte von Minderheiten, Flüchtlingen und Zuwanderern.

1.14.

Als Gremium zur Vertretung der europäischen organisierten Zivilgesellschaft möchte der EWSA einen Dialog mit dem Rat, der Kommission und dem Parlament aufnehmen, um die Politikgestaltung zu verbessern und die politische Koordinierung zwischen den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten zu stärken und ein Frühwarnsystem einzurichten.

1.15.

Der EWSA erachtet es für unverzichtbar, einen rechtlich bindenden europäischen Mechanismus zu schaffen, einen Rahmen, an dem sich Kommission, Parlament und Rat aktiv beteiligen und in dem der EWSA als Vertretungsinstanz der Zivilgesellschaft eine wichtige Funktion hat. Ein solcher Mechanismus würde den Rahmen der Kommission und den vom Rat eingeleiteten Dialog auf Regierungsebene ergänzen. Er könnte „neuer Kopenhagen-Mechanismus“ (4) genannt werden und würde der demokratischen und rechtlichen Kontrolle unterliegen (5).

Dieser Mechanismus sollte u. a. Aspekte wie Legalität, Hierarchie der Vorschriften, Rechtssicherheit, Gleichheit, Diskriminierungsfreiheit, freier Zugang zu Gerichten und faires Verfahren, Verhinderung von Gesetzesmissbrauch und Willkür seitens der öffentlichen Behörden, Gewaltenteilung, Achtung von und Schutz für politischen Pluralismus, Minderheiten und sozialer und sexueller Verschiedenheit u. a. sowie Achtung der Meinungs- und Pressefreiheit mit dem Ziel prüfen, aktuelle Mängel aufzudecken und zu beheben.

1.16.

Die Kommission möchte, dass der Berichtsentwurf im Hinblick auf seine Verabschiedung im LIBE-Ausschuss des Europäischen Parlaments erörtert wird und dass eine interinstitutionelle Vereinbarung über die Umsetzung des Pakts der Europäischen Union für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte erzielt wird. Der EWSA unterstützt den Vorschlag im Allgemeinen insofern, als er die Grundlage für die Umsetzung einer rechtlich bindenden interinstitutionellen Vereinbarung darstellt, mit der die europäische Politikgestaltung und die politische Koordinierung zwischen den EU-Organen und den Mitgliedstaaten gestärkt werden. Der EWSA sollte in diesen Pakt einbezogen werden und eine zivilgesellschaftliche Debatte im EWSA ermöglichen. Auch sollte er am vorgeschlagenen DRF-Semester mitwirken.

1.17.

Der Mechanismus sollte auf Indikatoren basieren, die auf quantitative und qualitative Daten gestützt sind:

Indikatoren für Rechtsstaatlichkeit;

Indikatoren für die Qualität der Demokratie;

Indikatoren für den Schutz der Grundrechte.

1.18.

Der Ausschuss betont die Bedeutung der Titel I, II, III und IV der Charta für die Erarbeitung von Indikatoren, wobei zu berücksichtigen ist, dass die grundlegenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte untrennbar mit den bürgerlichen und politischen Rechten verbunden sind.

1.19.

Es ist wichtig, dass sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Organe, Einrichtungen und Agenturen der EU die Grundrechte und somit auch die grundlegenden sozialen Rechte gerade auch in Krisenzeiten achten. Dies sollte auch für die Beziehungen und Abkommen mit Drittländern gelten, und zwar nicht nur in Bezug auf die Einhaltung dieser Rechte, sondern auch auf die Gewährleistung ihrer Durchsetzung.

1.20.

Der Mechanismus erfordert die Einführung eines Überwachungs- und Bewertungssystems unter Anwendung transparenter Verfahren. Die FRA sollten ausdrücklich mit der Begleitung eines solchen Mechanismus beauftragt werden. Der EWSA unterstützt den Vorschlag des Parlaments, eine Gruppe unabhängiger Sachverständiger (6) unter Leitung des wissenschaftlichen Ausschusses der FRA einzusetzen.

1.21.

Der Ausschuss möchte dieser Gruppe angehören. Er regt ferner an, dass die jeweiligen Regierungen die Bürgerbeauftragten der einzelnen Mitgliedstaaten als Sachverständige ernennen.

1.22.

Anhand der Indikatoren sowie unter Anwendung transparenter Verfahren wird die Sachverständigengruppe die Lage in jedem Mitgliedstaat prüfen und bewerten. Hierzu kann der EWSA durch die Organisation von Informationsreisen in die Mitgliedstaaten zur Überprüfung der Lage in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft vor Ort beitragen und Berichte erstellen.

1.23.

Der EWSA unterstützt die Umsetzung des DRF-Semesters. Die Kommission wird anhand der Sachverständigenberichte jedes Jahr länderspezifische Berichte erstellen, die auch Empfehlungen enthalten; das Parlament wird eine interparlamentarische Debatte abhalten und eine Entschließung erarbeiten; der Rat wird den jährlichen Dialog abhalten und Schlussfolgerungen verabschieden. Der Mechanismus muss im Rahmen eines neuen jährlichen Politikzyklus mit dem Ziel funktionieren, einen gemeinsamen und kohärenten Ansatz in der EU zu gewährleisten.

1.24.

Der Ausschuss möchte zu der Vorbereitung der interinstitutionellen Vereinbarung beitragen und könnte die Einsetzung einer ständigen Gruppe erwägen, die Anhörungen der Zivilgesellschaft veranstaltet und diesbezügliche Stellungnahmen und Berichte verfasst.

1.25.

Im Rahmen des Europäischen Semesters könnte er in Zusammenarbeit mit den Organisationen der Zivilgesellschaft ein jährliches Forum zur Überprüfung der Lage in Bezug auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte ausrichten, und er könnte Vorschläge und Empfehlungen für Kommission, Rat und Parlament erarbeiten. Der Ausschuss könnte auch mit den anderen Institutionen bei der Erarbeitung von Folgenabschätzungen zusammenarbeiten.

2.   Der Vertrag und damit zusammenhängende Fragen

2.1.

In den vergangenen Jahren wurde deutlich, dass es keine geeigneten Instrumente zum Schutz der Werte gemäß Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (VEU) gibt, in dem es heißt: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

2.2.

Die Union basiert auf diesen Werten, zu denen u. a. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte gehören. Die EU kann die Einhaltung dieser Werte vor dem Beitritt eines Staats zur EU anhand der sog. „Kopenhagener Kriterien“ oder „Beitrittskriterien“ überprüfen (7). Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben.

2.3.

Es gibt jedoch keinen vergleichbaren Mechanismus, der nach dem Beitritt der Mitgliedstaaten anwendbar ist. Das Fehlen eines solchen Kontrollmechanismus für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte wird mit dem Begriff „Kopenhagen-Dilemma“ bezeichnet.

2.4.

Das reibungslose Funktionieren der EU basiert auf „gegenseitigem Vertrauen“ zwischen den europäischen Institutionen und den Mitgliedstaaten ebenso wie zwischen den Mitgliedstaaten untereinander; Vertrauen darin, dass die Rechtsvorschriften und politischen Entscheidungen dieselben Grundsätze unter Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechte achten. Dies schafft gleiche Ausgangsbedingungen unter den Mitgliedstaaten im Hinblick auf den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Außerdem wird dadurch den Regierungen ermöglicht, in den Bereichen Justiz und Inneres, u. a. im Strafrecht, bei Asyl- und Zuwanderungsfragen zusammenzuarbeiten.

2.5.

Die Europäische Union wurde errichtet, um Frieden und Wohlstand in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten und die Lebensqualität der Menschen zu verbessern; sie hängt nicht nur von der Existenz des Freihandels, sondern auch von der Wahrung der europäischen Grundwerte ab. Durch diese Grundwerte wird sichergestellt, dass die Unionsbürger frei von Unterdrückung und Intoleranz unter Führung demokratisch gewählter und verantwortungsvoller Regierungen, die rechtsstaatlich handeln, leben können.

2.6.

In den letzten Jahren haben politische und legislative Beschlüsse in einigen Mitgliedstaaten zu Diskussionen und Konflikten mit den EU-Institutionen und mit anderen Mitgliedstaaten geführt, und das „gegenseitige Vertrauen“ wurde brüchig. Vielfach wurde den Regeln der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und den Grundrechten nicht gebührend Rechnung getragen, und die Europäische Union war nicht in der Lage, angemessen zu reagieren.

2.7.

Der EWSA stellt mit großer Besorgnis fest, dass derzeit in verschiedenen Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften angenommen werden, die auf eine ernsthafte Verschlechterung der Qualität der Demokratie hindeuten: Verletzung von Menschenrechten, insbesondere von Minderheiten; mangelnde Unabhängigkeit der Justiz und der Verfassungsgerichte; Einschränkung der Gewaltenteilung; Beschränkungen der Pressefreiheit, der freien Meinungsäußerung, der Demonstrations- und Vereinigungsfreiheit, kollektiver Konsultationsverfahren und Tarifverhandlungen sowie Beschränkungen anderer ziviler und sozialer Grundrechte. Die Europäische Union hatte mehrfach in einigen Mitgliedstaaten mit Krisen durch besondere Thematiken in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit zu tun, und die Kommission hat darauf mit politischem Druck und der Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren reagiert.

2.8.

Bislang sind die präventiven und sanktionsbasierten Mechanismen, die in Artikel 7 EUV — dem einzigen Artikel der Verträge zur Handhabung von Verstößen gegen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte in Bereichen außerhalb der Rechtsetzungskompetenz der EU — vorgesehen sind, noch nicht zur Anwendung gekommen. Es gibt zwei Ansatzpunkte: ein präventives und ein sanktionsbasiertes Vorgehen. Diese sind in der Praxis jedoch aufgrund der politischen Auswirkungen und der strengen an ihre Anwendung geknüpften Bedingungen — ausschließlich im Falle der „eindeutigen Gefahr“ einer „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung“ — noch nie genutzt worden.

2.9.

Die Kommission und das Parlament können im Rahmen der Präventivphase aktiv werden. In einem zweiten Schritt kann der Rat Sanktionen gegen den Mitgliedstaat verhängen, indem er bestimmte Rechte aussetzt, einschließlich der Stimmrechte der Vertreter dieses Mitgliedstaats im Rat.

2.10.

Gleichwohl hat der Rat hier recht großen Ermessensspielraum, da er keine spezifischen und transparenten Kriterien für die Einleitung des Verfahrens, für die von ihm herangezogenen Indikatoren oder für die Ausgestaltung der Bewertungsverfahren hat. Das Mandat des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist in diesen Fällen sehr begrenzt (8); gleichermaßen gibt es keine Bestimmung zur Anhörung des EWSA.

3.   Die Maßnahmen der europäischen Institutionen

3.1.

Die Europäische Kommission hat im März 2014 die Mitteilung „Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ (COM(2014) 158 final) angenommen. Der Rahmen gelangt zur Anwendung, wenn Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen oder Umstände tolerieren, die systematisch sind und aller Wahrscheinlichkeit nach die Integrität, Stabilität oder das ordnungsgemäße Funktionieren der Organe und der auf nationaler Ebene zum Schutz des Rechtsstaats vorgesehenen Sicherheitsvorkehrungen systematisch beeinträchtigen. Dies schließt Aspekte im Zusammenhang mit der verfassungsmäßigen Struktur, der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit der Justiz oder dem System der richterlichen Kontrolle einschließlich der Verfassungsjustiz ein.

3.2.

Mit dem Rahmen der Kommission sollen Gefahren für das Rechtsstaatsprinzip angegangen werden, bevor die Voraussetzungen für die Aktivierung des Mechanismus nach Artikel 7 EUV gegeben sind. Die Kommission ist hierfür verantwortlich und soll die Lücke schließen. Hierbei handelt es sich um keine Alternative, sondern um einen Mechanismus im Vorfeld und zur Ergänzung der in Artikel 7 vorgesehenen Mechanismen. In Fällen, in denen ganz klar eine „systemische Gefährdung“ der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat vorliegt, würde ein solcher Rahmen einen strukturierten Dialog zwischen der Europäischen Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat erleichtern. Der Prozess des Austausches würde drei Hauptphasen umfassen: Stellungnahme der Kommission, Empfehlung der Kommission und Folgemaßnahmen zu der Empfehlung. Die Kommission kann bei der Durchführung ihrer Bewertung Experten zurate ziehen (9).

3.3.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den von der Europäischen Kommission angenommenen Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips. Dieser Rahmen weist jedoch gewisse Unzulänglichkeiten auf.

3.3.1.

Die Bewertung liefert keine regelmäßigen, vergleichenden Untersuchungen der Probleme und Streitfälle, die in den Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten entstanden sind. Definitionsgemäß kann der Rahmen nur dann zum Einsatz kommen, wenn das Problem „systemisch“ ist, was eine hohe Schwelle darstellt. Eine „systemische“ Gefährdung kann bestehen, wenn die Justiz nicht mehr in der Lage ist, zu gewährleisten, dass die Regierung innerhalb der gesetzlichen Grenzen handelt, was dann bereits relativ spät ist.

3.3.2.

Die Kommission muss die Informationen transparent analysieren mit spezifischen Indikatoren oder objektiven Verfahren; sie muss ferner Protokolle zur Konsultation der Zivilgesellschaft und des EWSA aufstellen.

3.3.3.

Der Rahmen sieht keine spezifische Rolle für das Europäische Parlament vor; gleichwohl startet das Parlament seine eigenen diesbezüglichen politischen Initiativen.

3.3.4.

Auch ist darin kein Modell einer engeren interinstitutionellen Zusammenarbeit vorgesehen.

3.4.

Der EWSA ist besorgt darüber, dass im Rat bezüglich des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips bislang keine Folgemaßnahmen ergriffen wurden.

3.4.1.

Auf seiner Tagung vom 16. Dezember 2014 nahm der Rat (Allgemeine Angelegenheiten) Schlussfolgerungen zur Rolle des Rates bei der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit an. Der Rat plant die Einrichtung eines jährlichen Dialogs zwischen den Mitgliedstaaten, der im Rahmen des Rates (Allgemeine Angelegenheiten) stattfinden und vom Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) vorbereitet werden soll. Der luxemburgische Ratsvorsitz hat im November 2015 einen solchen Dialog eingeleitet, der verschiedene, nicht öffentlich bekannt gemachte spezifische Themen umfassen soll: Die Regierungen sollten über einen Aspekt der Rechtsstaatlichkeit ihrer Wahl sprechen, ein Beispiel für gelungenes Handeln und eines für ein sie forderndes Problem geben. Das Ergebnis war eine Reihe von Monologen anstelle eines Dialogs. Die Mitgliedstaaten gingen nicht durch gegenseitige Unterstützung, Hilfe oder Kritik aufeinander ein, es wurden keine Empfehlungen ausgesprochen oder entgegengenommen und keinerlei Verpflichtungen zur Ergreifung von Folgemaßnahmen eingegangen, um Verbesserungen hinsichtlich der ermittelten Probleme zu erzielen. Ende 2016 wird der Rat unter slowakischem Vorsitz eine Bewertung dieser Erfahrung vornehmen.

3.4.2.

In den Schlussfolgerungen des Rates wurde der Rahmen der Kommission zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips weder berücksichtigt, noch wurde er ausdrücklich erwähnt. Aus den Schlussfolgerungen geht nicht eindeutig hervor, welche genaue Rolle die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der EWSA in diesem Dialog spielen sollen.

3.5.

Die Kommission unter Juncker hat die Rechtsstaatlichkeit zu einer ihrer Prioritäten erklärt und Vizepräsident Timmermans die Zuständigkeit für Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte übertragen. Offen ist jedoch, ob die Kommission Kriterien und Indikatoren für die Umsetzung des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips entwickeln wird.

3.6.

Die Kommission hat diesen Rahmen erstmals durch Einleitung eines Verfahrens gegen Polen wegen Verstoßes gegen EU-Vorschriften aktiviert und dabei eine kritische Bewertung der Lage durch die Venedig-Kommission, ein Organ des Europarates, berücksichtigt (10).

3.7.

Der LIBE-Ausschuss des Europäischen Parlaments erörtert derzeit einen Entwurf eines Initiativberichts (11) zu „Empfehlungen an die Kommission zur Einrichtung eines EU-Mechanismus für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte“ (2015/2254 (INL) — Berichterstatterin: Sophia in ’t Veld), in dem u. a. die Kommission aufgefordert wird, „bis Ende 2016 auf der Grundlage von Artikel 295 AEUV einen Vorschlag für den Abschluss eines EU-Paktes für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte in Form einer interinstitutionellen Vereinbarung vorzulegen, die auf der Grundlage der ausführlichen Empfehlungen im Anhang zu diesem Dokument Regelungen zur Erleichterung der Zusammenarbeit zwischen den Organen der Union und ihren Mitgliedstaaten im Rahmen von Artikel 7 EUV sowie zur Integration, Angleichung und Ergänzung der bestehenden Mechanismen enthält“.

3.7.1.

Der Anhang enthält den ENTWURF EINER INTERINSTITUTIONELLEN VEREINBARUNG über den PAKT DER EUROPÄISCHEN UNION FÜR DEMOKRATIE, RECHTSSTAATLICHKEIT UND GRUNDRECHTE zwischen dem Parlament, dem Rat und der Kommission.

3.7.2.

Dieser Pakt umfasst u. a. einen Anzeiger, eine jährliche interparlamentarische Debatte und die Vorkehrungen für die Behebung möglicher Risiken und Verstöße sowie für die Aktivierung der präventiven oder korrektiven Komponenten unter Artikel 7.

3.7.3.

Das Parlament schlägt vor, ein Semester für interinstitutionelle Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte (DRF) zu starten, um den Rahmen der Kommission, den jährlichen Dialog des Rates und die interparlamentarische Debatte aufzunehmen. Das Europäische Semester sollte durch ein Sekretariat und eine Expertengruppe unter Leitung des Vorsitzenden des wissenschaftlichen Ausschusses der FRA unterstützt werden, die Indikatoren aufstellen, die Lage in den Mitgliedstaaten beurteilen und Empfehlungen aussprechen.

3.7.4.

Der DRF-Politikzyklus wird die Jahresberichte von Kommission, Rat und Parlament umfassen, und es wird eine interinstitutionelle Arbeitsgruppe für Folgenabschätzungen eingesetzt.

Brüssel, den 19. Oktober 2016

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Artikel 6 EUV.

(2)  Artikel 51 „Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.“

(3)  In dem Entwurf der Konvention und den EWSA-Stellungnahmen waren die vom Europäischen Rat in Artikel 51 beschlossenen Beschränkungen nicht enthalten.

(4)  Wie es das Europäische Parlament in seiner Entschließung zur Lage der Grundrechte in der Europäischen Union (2012) am 27. Januar 2014 vorschlug, P7_TA(2014)1773, Berichterstatter: Louis Michel, Ziffer 9.

(5)  Carrera, S., E. Guild and N. Hernanz (2013), The Triangular Relationship between Fundamental Rights, Democracy and the Rule of Law in the EU: Towards an EU Copenhagen Mechanism, Taschenbuch, Brüssel: Centre for European Policy Studies.

(6)  Von den Mitgliedstaaten benannt, ALLEA, ENNHRI, Venedig-Kommission, CEPEJ, UN, OECD.

(7)  Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat von Kopenhagen, 21./22. Juni 1993.

(8)  Während im EU-Recht zum Schutz der Menschenrechte ein Mechanismus vorgesehen ist, mit dem Einzelpersonen ihre Rechte verteidigen können, ist in Artikel 7 ein allgemeiner rechtlicher und politischer Mechanismus festgelegt, der ausdrücklich von der Gerichtsbarkeit des EuGH ausgenommen ist.

(9)  Die Agentur für Grundrechte (FRA); das Netz der Präsidenten der obersten Gerichtshöfe der Europäischen Union; den Europarat (Venedig-Kommission); die Vereinigung der Staatsräte und der Obersten Verwaltungsgerichte sowie das Europäische Netz der Räte für das Justizwesen.

(10)  Stellungnahme zu den Änderungen am Gesetz vom 25. Juni 2015 über den polnischen Verfassungsgerichtshof, Venedig-Kommission, 11. März 2016.

(11)  http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-%2f%2fEP%2f%2fNONSGML%2bCOMPARL%2bPE-576.988%2b01%2bDOC%2bPDF%2bV0%2f%2fEN