10.2.2016 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 51/22 |
Stellungnahme des Europäischen Ausschusses der Regionen — Normen für das Arbeitsentgelt in der EU
(2016/C 051/04)
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POLITISCHE EMPFEHLUNGEN
DER EUROPÄISCHE AUSSCHUSS DER REGIONEN
Rechtmäßigkeit der Debatte
1. |
weist darauf hin, dass die Zuständigkeit für Beschäftigung und Sozialpolitik in erster Linie bei den nationalen bzw. regionalen Regierungen liegt, dass die EU in diesem Bereich koordinieren kann und dass jede EU-Initiative bezüglich europäischer Lohnstandards im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip stehen muss; |
2. |
weist darauf hin, dass gemäß einer Eurobarometer-Untersuchung zur Einstellung der Bürgerinnen und Bürger gegenüber Armut die weitaus meisten Befragten (73 %) der Ansicht sind, dass Armut in ihrem Land ein weit verbreitetes Problem ist, das dringend auf nationaler Ebene (89 %) und auf EU-Ebene (74 %) angegangen werden muss (1); |
3. |
unterstreicht, dass das Recht sämtlicher Arbeitnehmer auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, das ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard sichert, in der Europäischen Sozialcharta festgeschrieben ist, die von fast allen EU-Mitgliedstaaten gebilligt wurde; |
4. |
ist der Auffassung, dass die demokratische Legitimation der EU gestärkt wird, wenn die europäischen Bürgerinnen und Bürger erkennen, dass auch die Frage des sozialen Fortschritts angegangen wird, wenn neben der Förderung des Wachstums Beschäftigungs- und Sozialaspekte im jährlichen Zyklus der wirtschaftspolitischen Koordinierung (Europäisches Semester) voll und ganz berücksichtigt werden; |
5. |
erinnert daran, dass sich die EU verpflichtet hat, die UN-Millenniumsziele und die Resolution umzusetzen, mit der die zweite Dekade der Vereinten Nationen für die Beseitigung der Armut (2008-2017) verkündet wurde; |
6. |
stellt fest, dass das ILO-Übereinkommen C94 über die Arbeitsklauseln in den von Behörden abgeschlossenen Verträgen derzeit in neun Mitgliedstaaten verbindlich ist und in anderen auf freiwilliger Basis angewandt wird. Allerdings müssen eventuelle rechtliche Unvereinbarkeiten zwischen dem ILO-Übereinkommen C94 und dem EU-Vertrag geklärt werden; |
7. |
nimmt die Appelle des Europäischen Parlaments in der Frage des Mindestlohns (2) zur Kenntnis, einschließlich seiner jüngsten Aufforderung an die Europäische Kommission, „alle infrage kommenden Optionen zu prüfen, um die WWU zu stärken und sie widerstandsfähiger und dem Wirtschaftswachstum, der Beschäftigung und der Stabilität förderlicher zu machen, mit einer sozialen Dimension, die dafür sorgt, dass die soziale Marktwirtschaft in Europa bewahrt und das Recht auf Tarifverhandlungen geachtet wird, in deren Rahmen die Abstimmung der Sozialpolitik der Mitgliedstaaten gewährleistet würde, einschließlich eines von jedem Mitgliedstaat beschlossenen und für ihn angemessenen Mechanismus zur Festlegung eines Mindestlohns oder -einkommens“ (3); |
Mindestlohn und angemessener Lohn
8. |
betont, dass Armut und soziale Ausgrenzung ein menschenwürdiges Dasein verhindern und damit Grundrechte aushöhlen, und empfiehlt, dass alle Mitgliedstaaten ihren Bürgern eine angemessene Existenz garantieren sollten (z. B. durch die Bereitstellung von Dienstleistungen, die für ein menschenwürdiges Leben notwendig sind) und dass sie — insbesondere arbeitsmarkt- und sozialpolitische — Maßnahmen ergreifen sollten, die während des gesamten Erwerbslebens gerechte Löhne sicherstellen; |
9. |
hebt die Dringlichkeit dieses Themas hervor, da Armut und soziale Ungleichheiten seit der Wirtschaftskrise in der EU zugenommen haben und da die in einigen Mitgliedstaaten beschlossenen ausschließlich auf Sparen ausgerichteten Maßnahmen dieses Problem noch verschärft haben. Die Zahl der von Armut bedrohten Menschen ist gestiegen, wobei Frauen und Kinder besonders stark betroffen sind; |
10. |
unterstreicht, dass das Europa-2020-Ziel der Armutsreduzierung infrage gestellt erscheint und im Rahmen der nächsten Überprüfung des Europa-2020-Prozesses überarbeitet werden sollte angesichts der Tatsache, dass die Zahl der von Armut bedrohten Menschen von 114 Mio. im Jahr 2009 auf 124 Mio. im Jahr 2012 gestiegen ist (4); |
11. |
begrüßt die Tatsache, dass die meisten EU-Mitgliedstaaten Mindestlohnregelungen haben, die per Gesetz oder im Zuge von Tarifverhandlungen festgelegt werden. Die Zuständigkeit und Verantwortung für Fragen der Lohnbildung liegt bei den Mitgliedstaaten und/oder den nationalen Sozialpartnern. Die Autonomie der Sozialpartner und ihr Recht, Tarifverträge abzuschließen, müssen gewahrt werden; |
12. |
unterstreicht, dass sich die Mindestlohnregelungen erheblich voneinander unterscheiden, und stellt fest, dass in einigen Ländern das festgelegte Niveau unter 50 % des Medianlohns (5) liegt und dass Armut trotz Erwerbstätigkeit zudem ein wachsendes Problem darstellt; |
13. |
anerkennt die Schlüsselfunktion von Tarifverhandlungen bei der Festlegung von Mindestlöhnen, unterstreicht aber, dass es in vielen Branchen und KMU keine branchenspezifischen Vereinbarungen gibt und dass einige Arbeitnehmer deshalb ausgeschlossen werden; fordert die nationalen Sozialpartner auf, den sozialen Dialog auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene zu verbessern; |
14. |
vertritt die Auffassung, dass die Mitgliedstaaten dazu angehalten werden sollten, einen gerechten Richtlohn festzulegen, der sich an 60 % des Medianlohns als Bezugswert orientiert und auf Referenzbudgets (6) beruht, d. h. einem Paket von Waren und Dienstleistungen, die ein Mensch benötigt, um auf angemessenem Niveau zu leben, in Kombination mit einer Reihe entsprechender Beschäftigungsbestimmungen und -bedingungen. Einer aktuellen Eurofound-Studie (7) zufolge wäre ein auf 60 % des nationalen Medianlohns festgelegter Mindestlohn für durchschnittlich 16 % aller Arbeitnehmer in der EU von Vorteil (auf der Grundlage von Zahlen für 2010); |
15. |
unterstreicht die Arbeit, die das Europäische Referenzbudgetnetz geleistet hat, um eine gemeinsame Methodik für Referenzbudgets in Europa zu entwickeln, damit ihre Inhalte (z. B. der Warenkorb für Lebensmittel) zwischen den Mitgliedstaaten verglichen werden können; |
16. |
unterstreicht, dass die private Verschuldung im Euroraum, die 2014 126 % des BIP betrug (die öffentliche Verschuldung lag demgegenüber bei nur 92 %), zum weiteren Rückgang von Konsum und Investitionen führt; hält gerechte Lohnstrukturen für wichtige wirtschaftliche Stabilisatoren und Schlüsselinstrumente, die die nichtpreisliche Wettbewerbsfähigkeit stärken und somit als maßgebliche Motoren des Wirtschaftswachstums funktionieren und Stagnation entgegenwirken. Im Übrigen sollte zur Sicherung der Einkommen der Haushalte über die Einführung eines europäischen Verfahrens für Schuldenmanagement nachgedacht werden, in dem u. a. die Bedingungen für eine Enteignung von Grundeigentum der Haushalte festgelegt werden; |
17. |
ist der Ansicht, dass gerechter Lohn bedeutet, dass der öffentliche Sektor Vollzeitbeschäftigte möglicherweise nur in sehr geringem Maße oder gar nicht mit ergänzenden finanziellen Leistungen oder Steuerbefreiungen unterstützen muss, was den Mitgliedstaaten dabei helfen könnte, ihren fiskalischen Verpflichtungen nachzukommen; |
18. |
schlägt vor, Mindestlohnbestimmungen in Verbindung mit Beschäftigungsbestimmungen und -bedingungen zu betrachten, insbesondere im Zusammenhang mit spezifischen flexiblen Regelungen; |
19. |
vertritt die Auffassung, dass ein gerechter Lohn in Verbindung mit entsprechenden Beschäftigungsbestimmungen und -bedingungen sowie ein adäquates Sozialschutzsystem zu den Voraussetzungen für fairen Wettbewerb zwischen den EU-Mitgliedstaaten gehören, sodass diese sich nicht im Rahmen eines „Wettbewerbs um niedrigere Standards“ und von „Sozialdumping“ unterbieten; |
20. |
unterstreicht die besondere Bedeutung dieses Aspekts im Hinblick auf die Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern und die späteren Urteile des Europäischen Gerichtshofs, die zur Folge haben, dass sich Unternehmen nicht an die Branchenmindestlöhne halten müssen, die nicht für allgemeinverbindlich erklärt wurden (8); |
21. |
fordert die nationalen und regionalen Stellen nachdrücklich auf, die Durchführungsrichtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern umfassend umzusetzen; erwartet mit großem Interesse die von der Europäischen Kommission angekündigte Überarbeitung der derzeit für entsandte Arbeitnehmer geltenden Vorschriften mit dem Ziel, Sozialdumping zu bekämpfen und zu gewährleisten, dass dieselbe Arbeit am selben Ort in der ganzen EU auf die gleiche Weise entlohnt wird; |
22. |
ist der Ansicht, dass die Diskussion sich insbesondere auf die Artikel 9 und 156 des AEUV stützen könnte und im Rahmen eines weniger rigiden Verfahrens wie etwa der Methode der offenen Koordinierung und des Europäischen Semesters, bei dem bereits Lohnaspekte erörtert wurden, fortgeführt werden sollte, um die Einhaltung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zu gewährleisten; |
23. |
macht ferner geltend, dass gerechte Löhne als wirtschaftlicher Faktor auch in den länderspezifischen Empfehlungen berücksichtigt werden könnten, in denen bereits jetzt die Lohnbildung auf dem Arbeitsmarkt genannt und auch die Lohnzurückhaltung angesprochen werden; |
24. |
stellt fest, dass sich die Mindestlöhne in den Mitgliedstaaten, die sie anwenden, erheblich voneinander unterscheiden; unterstreicht, dass gerechte Löhne, die die einzelnen Mitgliedstaaten eigenständig per Gesetz oder in Tarifverhandlungen und in jedem Falle unter vollkommener Wahrung ihrer Traditionen und jeweils landesüblichen Verfahren festlegen, zur Erreichung des Europa-2020-Ziels beitragen könnten, dem zufolge 20 Mio. Menschen aus Armut und sozialer Ausgrenzung befreit werden sollen; |
25. |
ist der Auffassung, dass angemessene Löhne dabei helfen könnten, das nicht hinnehmbare Ausmaß der Ungleichheit in Europa zu beseitigen, das im Hinblick auf den sozialen Zusammenhalt besorgniserregend, ein politisches Problem und eine Gefahr für das künftige Wachstumspotenzial der EU ist; |
26. |
möchte darauf hinweisen, dass es gute Beispiele in Mitgliedstaaten gibt, in denen gering entlohnte Arbeitnehmer nur einen kleinen Anteil an der Zahl der Beschäftigten ausmachen. In drei dieser Mitgliedstaaten — Schweden, Dänemark und Italien — gibt es keine gesetzlichen Mindestlöhne oder Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen, aber die Lohnbildung funktioniert traditionell und in der Praxis gut (9); |
Regionale Dimension
27. |
ermutigt die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften der EU, in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber mit gutem Beispiel voranzugehen, indem sie sich dafür einsetzen, ihren Beschäftigten gerechte Löhne zu bieten, und fordert den Austausch bewährter Methoden auf EU-Ebene. |
28. |
begrüßt weiterhin, dass einige Behörden auf lokaler und regionaler Ebene die Vergabe öffentlicher Aufträge genutzt haben, um ihre Vertragspartner zur Zahlung eines gerechten Arbeitsentgelts für ihr Personal anzuhalten und dies zur Auflage zu machen. In diesem Sinne nimmt der Ausschuss erfreut zur Kenntnis, dass in der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe, die im April 2016 in Kraft tritt, ausdrücklich erwähnt wird, dass der Anwendung von für die Arbeitnehmer günstigeren Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen nicht entgegengewirkt werden sollte (Erwägungsgrund 37), und dass darin festgelegt ist, dass die öffentlichen Auftraggeber nicht den Preis oder die Kosten allein als Zuschlagskriterium verwenden dürfen (Artikel 67); begrüßt außerdem nachdrücklich das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-115/14 (vom 17. November 2015), dem zufolge das EU-Recht es nicht unmöglich macht, einen Bieter von einem Auftragsvergabeverfahren auszuschließen, der sich weigert, seinen betroffenen Beschäftigten den Mindestlohn zu zahlen (10). |
Brüssel, den 3. Dezember 2015.
Der Präsident des Europäischen Ausschusses der Regionen
Markku MARKKULA
(1) Bericht „Eurobarometer Spezial — Armut und soziale Ausgrenzung“ (2010).
(2) Entschließungen des Europäischen Parlaments: 1) zur Rolle eines Mindesteinkommens bei der Bekämpfung von Armut und Förderung einer inklusiven Gesellschaft in Europa vom 20. Oktober 2010 (2010/2039(INI)) und 2) zur Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung vom 15. November 2011 (2011/2052(INI)).
(3) Entschließung des Europäischen Parlaments zum Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission 2016 (2015/2729(RSP)), Ziffer 16.
(4) COM(2014) 130: Bestandsaufnahme der Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum.
(5) „Contours of a European Minimum Wage Policy“: Eine Untersuchung von Thorsten Schulten, Friedrich-Ebert-Stiftung, Oktober 2014, http://epsu.org/IMG/pdf/Contours_of_a_Minimum_Wage_Policy_Schulten.pdf
(6) COM(2013) 83: Sozialinvestitionspaket.
(7) „Pay in Europe in the 21st century“: Bericht von Christine Aumayr-Pintar u. a., Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound), April 2014.
(8) Rs. C-346/06 Dirk Rüffert v. Land Niedersachsen.
(9) Quelle: Eurostat, Structure of earnings survey 2010, ausgenommen sind Unternehmen mit weniger als 10 Arbeitnehmern, siehe insbesondere Schaubild 5.34.
(10) Als mit dem EU-Recht übereinstimmend gelten nach diesem Urteil jene Rechtsvorschriften einer regionalen Gebietskörperschaft eines Mitgliedstaats, die den Bietern und ihren Nachunternehmern vorschreiben, sich zur Zahlung eines Mindestentgelts an die Beschäftigten zu verpflichten, die die Leistungen ausführen.