18.5.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 177/28


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und die Europäische Zentralbank: Schritte zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion

[COM(2015) 600 final]

und dem

Beschluss (EU) 2015/1937 der Kommission vom 21. Oktober 2015 zur Einrichtung eines unabhängigen beratenden Europäischen Fiskalausschusses

[C(2015) 8000 final]

(2016/C 177/05)

Berichterstatter:

Carmelo CEDRONE

Die Europäische Kommission beschloss am 11. November 2015, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgenden Themen zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und die Europäische Zentralbank — Schritte zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion

[COM(2015) 600 final]

und

Beschluss (EU) 2015/1937 der Kommission vom 21. Oktober 2015 zur Einrichtung eines unabhängigen beratenden Europäischen Fiskalausschusses

[C(2015) 8000 final].

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 3. März 2016 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 515. Plenartagung am 16./17. März 2016 (Sitzung vom 17. März) mit 195 Stimmen bei 4 Gegenstimmen und 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Mitteilung der Kommission über die Schritte zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion eine gute Gelegenheit sein könnte, sowohl auf politischer als auch zivilgesellschaftlicher Ebene eine ehrliche Debatte anzustoßen, d. h., Klartext zu reden über alle Themen mit Bezug zum Euroraum, auch über das, was seit Maastricht geschehen ist, und über die Wirtschafts- und Finanzkrise, die insbesondere den Euroraum getroffen hat. Dadurch könnten über den derzeitigen Inhalt der Mitteilung hinaus Lösungsvorschläge erarbeitet werden. Die wichtigsten Punkte lauten wie folgt:

1.2.

Europäisches Semester: Es wäre zweckmäßiger, den Vorschlag für das Europäische Semester in eine umfassende Vereinbarung über die wirtschaftspolitische Steuerung einzubetten, die über die bisherigen Maßnahmen hinausgeht — ausgehend von der Änderung der makroökonomischen Konditionalität und der Stärkung der Rolle der Interparlamentarischen Konferenz, wie sie der EWSA bereits angeregt hat.

1.3.

Wirtschaftspolitische Steuerung: Eine umfassende wirtschaftspolitische (makro- und mikroökonomische sowie währungspolitische) Steuerung des Euroraums muss weit über das hinausgehen, was die Kommission vorgeschlagen hat. Die derzeitigen wirtschaftlichen Paradigmen müssen grundlegend geändert werden. Insbesondere sollten die nationalen Ausschüsse für Wettbewerbsfähigkeit auch die Maßnahmen für den Zusammenhalt sowie die sozialen und beschäftigungspolitischen Auswirkungen der durch die Krise noch größer gewordenen Ungleichgewichte und Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern berücksichtigen (1). Die Europäische Kommission und die Ausschüsse sollten auch die neuen Faktoren und Parameter berücksichtigen, die jetzt und auch in Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit und dem Wettbewerb zwischen den Wirtschaftsblöcken in der Welt zugrunde liegen. Der beratende Europäische Fiskalausschuss sollte transparenter und demokratischer vorgehen — sowohl bei der Ernennung seiner Mitglieder als auch hinsichtlich der Verwendung seiner Empfehlungen, die drohen, auch weiterhin jeder demokratischen Kontrolle entzogen zu sein.

1.4.

Außenvertretung des Euro-Währungsgebiets: Der Vorschlag ist gerechtfertigt und notwendig, doch stellt sich neben dem Problem der zu langen Fristen die Frage nach der demokratischen Kontrolle der Wahrnehmung dieser Aufgabe sowie den rechtlichen Änderungen, die für die Anerkennung der Rolle der WWU in Angelegenheiten des Euroraums erforderlich sind (2).

1.5.

Finanzunion: Der Vorschlag ist begrüßenswert, auch wenn er an politischem Schwung und Dynamik im Hinblick auf den Zeitplan verloren hat. Dies ist sicherlich die wichtigste Entscheidung, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie zügig umgesetzt wird und dass mithilfe der vorgesehenen Mechanismen zur einheitlichen Abwicklung und Einlagensicherung (3) sowie der Kapitalmarktunion (4) das gemeinsame europäische Regelwerk zeitnah uneingeschränkt verwirklicht wird. In diesem Zusammenhang wäre es sehr hilfreich, wenn die Kommission einen — vom EWSA bereits früher formulierten (5) — Vorschlag zur Frage der öffentlichen und privaten Verschuldung vorlegen würde, um die Risiken und die Spekulationen für das Finanzsystem des Euroraums zu verringern.

1.6.

Demokratische Legitimität: der größte Schwachpunkt der Mitteilung, zumindest in ihrer jetzigen Form, d. h. vor Stufe 2. Die demokratische Legitimität wird sehr oberflächlich und vage abgehandelt, obgleich sie doch insbesondere in den letzten Monaten im Mittelpunkt der Debatte und der Bedenken der europäischen Öffentlichkeit steht. Von ihr hängt letztlich die Zukunft des Euroraums und der Europäischen Union ab. Die Frage der demokratischen Kontrolle wird in keinem der von der Kommission vorgebrachten Handlungsvorschläge ernsthaft angesprochen.

1.6.1.

Einen Beitrag zu diesem Thema könnte der dreiseitige soziale Dialog leisten, sofern er in strukturierter Weise geführt wird und die Umsetzung der zwischen den Parteien erzielten Vereinbarungen verbindlich vorgeschrieben ist.

1.7.

Stufe 2 — Vollendung der WWU: Stufe 2 ist von vorrangiger und grundlegender Bedeutung, um die Glaubwürdigkeit der übrigen bereits vorliegenden Vorschläge zu gewährleisten. Leider beruht diese Stufe in erster Linie auf der Vorlage eines „Weißbuchs“ Ende 2017. Angesichts dieses überaus wichtigen, zentralen Themas der Mitteilung — Demokratie und Errichtung der politischen Säule des Euroraums — reicht es nach Ansicht des Ausschusses nicht, in Erwartung der Stufe 2 nur auf ein Weißbuch zu vertrauen und dabei auf Konsultationen und auf „Dialoge mit den Bürgern“ zu setzen (wobei unklar bleibt, wie diese aussehen sollen, und nicht einmal der EWSA einbezogen wird).

1.8.

Der EWSA ist darüber hinaus der Auffassung, dass auch der von der Kommission vorgelegte Fahrplan in keinem Verhältnis zu den behandelnden Fragestellungen und der Dringlichkeit steht, mit der sie gelöst werden sollten (ständiger Aufschub und Abwarten ohne klare Fristen). Daher wird der EWSA — auch unter Berücksichtigung seines eigenen, vor geraumer Zeit erarbeiteten Fahrplans — einen eigenen Plan zu Stufe 2 vorlegen, gegebenenfalls zusammen mit der Kommission, um diese Fragen im Euroraum und in der Folge in allen EU-Mitgliedstaaten zu erörtern.

1.9.

Die Vorschläge: Seit Beginn der Krise hat der EWSA in einer Reihe von Stellungnahmen Vorschläge zu den verschiedenen Aspekten der Finanzkrise vorgelegt und aufgezeigt, wo die von der EU ergriffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen an ihre Grenzen stoßen. Der EWSA hat durch eine Reihe von Initiativstellungnahmen spezifische Vorschläge erarbeitet, beispielsweise zur wirtschafts-, finanz- und währungspolitischen Steuerung der WWU und — lange vor Veröffentlichung der Kommissionsvorschläge — zur politischen Steuerung des Euroraums. Somit sei im Hinblick auf die Rahmenvorschläge zu den in der vorliegenden Kommissionsmitteilung behandelten Themen auf die bereits erarbeiteten (6) bzw. zurzeit in Arbeit befindlichen Stellungnahmen zu den spezifischen Kommissionsvorschlägen (7) verwiesen.

2.   Hintergrund

2.1.

Mit dieser Stellungnahme soll die Mitteilung der Europäischen Kommission zum Euro-Währungsgebiet allgemein begutachtet werden. Die spezifischen Aspekte werden in anderen Stellungnahmen des EWSA behandelt.

2.2.

Die Mitteilung der Kommission entspringt der Notwendigkeit, den zweiten „Bericht der fünf Präsidenten“ über die WWU umzusetzen, da die Kommission unter José Manuel Barroso den ersten Bericht völlig ignoriert hatte. Beide Berichte dienten dem Ziel, die Schwachstellen der WWU zu beheben, die bekanntlich durch die Wirtschafts- und Finanzkrise bloßgelegt und allen Europäern, und nicht nur diesen, zu Bewusstsein gekommen sind. Diese Schwachstellen, die die Spekulation mit dem Euro erleichtert und kanalisiert haben, waren und sind die Hauptursache der Krise und ihres Andauerns im Euro-Währungsgebiet.

2.3.

Dies hatte den EWSA auch dazu bewogen, noch vor der Kommission und den anderen Gemeinschaftsinstitutionen konkrete Vorschläge dazu zu formulieren, die jedoch erst seit kurzer Zeit Gehör, gebührende Beachtung und Anerkennung finden (8). In diesem Zusammenhang begrüßt und betont der Ausschuss die Anerkennung, die die Kommission in einem Folgebericht zu verschiedenen aktuellen Stellungnahmen des EWSA zum Ausdruck gebracht hat, sowie insbesondere die Tatsache, dass die Kommission dem EWSA ihren Dank für die tiefgreifende und umfassende Stellungnahme zur politischen Säule der Wirtschafts- und Währungsunion ausspricht, in der nicht nur die derzeitige Lage und die Schwächen der WWU analysiert werden, sondern die auch sehr interessante Vorschläge zu ihrer Vollendung enthält.

2.4.

Anlass zu Bedenken gibt die Tatsache, dass — möglicherweise bedingt durch eine Entspannung der Krise im Euroraum oder durch die Hemmungen der Mitgliedstaaten, Souveränität zu teilen — der zweite Bericht der fünf Präsidenten und infolgedessen auch die Mitteilung der Kommission, mit der er umgesetzt werden sollte, schwächer und nicht so ehrgeizig ausfällt wie der erste, der auch schon unzureichend war.

2.5.

Außerdem haben die Migranten- und Flüchtlingsproblematik sowie die Sicherheitsfrage nach den von Islamisten verübten Terroranschlägen die Menschen und die Politik in Europa in Angst und Schrecken versetzt und unter anderem dazu geführt, dass die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Staaten zunehmen, der Nationalismus wieder auf dem Vormarsch ist, Grenzen geschlossen werden usw. usf. Die Vollendung der WWU ist somit nur mehr von sekundärer Bedeutung bzw. in einer Schublade verschwunden. In der politischen Debatte und in den Medien ist sie kein Thema mehr — vielleicht zur Genugtuung zahlreicher Politiker, nicht nur der EU-Gegner, die damit „einer großen Gefahr entronnen“ zu sein glauben.

2.6.

All dies macht nach Auffassung des EWSA jedoch deutlich, dass gehandelt werden muss, dass dringlicher denn je Initiative ergriffen werden muss, um den im Vertrag festgeschriebenen Grundprinzipien und Werten (Frieden, Wohlstand, sozialer Zusammenhalt) zu neuer Geltung zu verhelfen und dadurch Europa ein Stück besser zu machen. All dies liegt im Interesse der Gemeinschaft und jedes Einzelnen, denn die europäischen Staaten und ihre Bürger müssen zu einem Gefühl der gemeinsamen Verantwortung zurückfinden und gegenseitiges Vertrauen wieder neu aufbauen. Sie können sich eine erneute Spaltung, wie sie Europa in der Vergangenheit schon so oft erlebt hat, nicht leisten. Dadurch würde der Kontinent in einen gefährlichen Strudel geraten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Die Mitteilung bewegt sich jedoch leider sprachlich wie auch in Bezug auf die Vorschläge auf ausgetretenen Pfaden. Sie könnte sich, wie in der Vergangenheit oftmals geschehen, lediglich als eine Erklärung guter Absichten entpuppen und so zu einem „Bumerang“ werden. Ein großer Teil des Inhalts ordnet sich in die Reihe der nach der Krise umgesetzten Maßnahmen ein und enthält die Forderung nach deren Konsolidierung, auch wenn man weiß, dass einige dieser Maßnahmen für die Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage in vielen Ländern der WWU verantwortlich sind. Vollkommen außer Acht gelassen wurden die Gründe für das Scheitern aller bisherigen Versuche zur Schaffung einer echten WWU (vom Werner-Bericht aus dem Jahr 1970 bis zum Bericht der vier Präsidenten 2012). Alle diese Versuche — und auch der hier vorliegende — basieren auf einem durch Bürokratie gekennzeichneten schrittweisen Vorgehen.

3.2.    Stärken

3.2.1.

Positiv ist jedoch, dass sich die Europäische Kommission trotz der Schwäche des Berichts der fünf Präsidenten, dem überdies ein echter Fahrplan fehlt, vorgewagt hat, um in einem Umfeld, in dem viele Mitgliedstaaten praktisch dagegen sind, mit der Umsetzung zu beginnen. Aufgrund dieser folgenschweren und risikoreichen Haltung der Kommission appelliert der EWSA nachdrücklich an die Mitglieder des Euro-Währungsgebiets und alle übrigen Mitgliedstaaten, ihre Einstellung zu ändern und die Initiative der Kommission zu unterstützen, wobei es gilt, die in der vorliegenden Stellungnahme aufgezeigten Schwachstellen durch die Umsetzung der in den anderen EWSA-Stellungnahmen enthaltenen Vorschläge zu beseitigen.

3.2.2.

Positiv ist außerdem die Aufmerksamkeit, die die Kommission in ihrem Papier der Finanzunion in ihren unterschiedlichen Ausprägungen schenkt. Dies ist neben der Vollendung der Bankenunion, die aus der Krise geboren wurde, sicherlich die wichtigste Entscheidung. Voraussetzung ist jedoch, dass sie zügig umgesetzt wird und dass mithilfe der vorgesehenen Mechanismen zur einheitlichen Abwicklung und Einlagensicherung sowie der Kapitalmarktunion das gemeinsame europäische Regelwerk uneingeschränkt verwirklicht wird, denn dadurch werden die Risiken verringert, dass Sparer/Kontoinhaber und Steuerzahler für die Schulden des Bankensektors aufkommen und Investoren und Unternehmen weiter auf den wenig transparenten und in puncto Finanzierungsquellen kaum diversifizierten Finanzmärkten agieren müssen. In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll gewesen, die vom EWSA befürwortete Trennung zwischen Geschäftsbanken und Investitionsbanken vorzunehmen (mit einer „Bad Bank“ für Altlasten als Zwischenlösung).

3.2.3.

Der Vorschlag zur Schaffung einer „einheitlichen Außenvertretung“ des Euro-Währungsgebiets ist wichtig, aber insofern nicht weitgehend genug, als die Umsetzung bis 2025 (9) aufgeschoben und auf kurze Sicht lediglich eine Stärkung der bereits seit 2007 eingeführten Modalitäten zur Koordinierung zwischen den Vertretern des Euroraums und dem Internationalen Währungsfonds angestrebt wird.

3.3.    Schwächen

3.3.1.

Der während der gesamten Krise verfolgte Ansatz wird weitergeführt, sodass man sich beim Lesen des Textes des Eindrucks nicht erwehren kann, diesen bereits viele Male gelesen zu haben. Zu denselben Inhalten hat sich der EWSA bereits bei zahlreichen Gelegenheiten geäußert und Alternativvorschläge zu den Vorschlägen der Kommission und der Mitgliedstaaten unterbreitet. Trotzdem wird weiter behauptet und suggeriert, dass beispielsweise: a) das Problem des Verbleibs in der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) nur eine Frage des Einhaltens der „buchhalterischen“ Vorschriften sei, b) es bei der wirtschaftspolitischen Steuerung nur um eine „Koordinierung“ gehe, c) die makroökonomische und finanzielle Nachhaltigkeit der Eurozone nur ein Problem der Transparenz sei und d) die schwerwiegenden Probleme der Arbeitslosigkeit mit rein „formalen“ Vorschlägen gelöst werden können, wie sie bereits seit Jahren kursieren. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission mit Blick auf diese und andere Fragenkomplexe uneingeschränkt und mit mehr Nachdruck von ihrem Initiativrecht Gebrauch machen sollte.

3.3.2.

Gleiches gilt im Hinblick auf die gravierenden sozialen Folgen der Arbeitslosigkeit in vielen Ländern des Euroraums — ein Thema, das wie die Wettbewerbsfähigkeit und die wirtschaftliche und politische Steuerung zu den Prioritäten der WWU gehören sollte. Es werden hierzu keine konkreten Vorschläge gemacht und kein Instrument der Solidarität vorgeschlagen, und so bleibt unklar, was mit der „europäischen Säule sozialer Rechte“ gemeint ist (Rechte, die in einzelnen Ländern vielleicht bereits bestehen?).

3.3.3.

Bezüglich des Europäischen Semesters hält die Kommission an dem fest, was bislang beschlossen wurde, ohne nennenswerte Änderungen (auch nicht in der Methode) einzuführen, wie sie der EWSA in Form einer Änderung der makroökonomischen Konditionalität und der Stärkung der Interparlamentarischen Konferenz angeregt hatte. Daher besteht die Gefahr, dass die Haushalte der Mitgliedstaaten auch weiterhin jeder demokratischen Kontrolle entzogen sind.

3.3.4.

An den Stellen, wo es um die Stabilisierung der WWU geht, wird versucht, einen „Haushalt“ der WWU zu suggerieren; in Wirklichkeit handelt es sich jedoch um die Summe der nationalen Haushalte und/oder die Haushalte der einzelnen Staaten, die mit einem echten Haushalt des Euroraums nichts zu tun haben. Außerdem fehlt jeder Verweis auf die bestehenden Staatsschulden oder ggf. erforderliche gemeinsame Staatsschulden oder eine Europa-Steuer, um die Ausgaben für Einwanderung, Flüchtlinge, Sicherheit zu bewältigen. Das Fehlen von Vorschlägen zur demokratischen Legitimität ist jedenfalls der eigentliche Schwachpunkt der gesamten Mitteilung (Ziffer 6) (10).

3.3.5.

Weitgehend ungenannt bleiben die „Mittlerorganisationen“ der Gesellschaft — angefangen bei den im EWSA vertretenen — als Ansprechpartner in der Konsultationsphase, ganz zu schweigen von der „Politik“, die praktisch fehlt oder nur am Rande erwähnt wird.

3.3.6.

Der EWSA begrüßt die Einbindung der Sozialpartner in die anderen von der Kommission erwähnten Politikbereiche. Er ist jedoch der Ansicht, dass politisch und verfahrenstechnisch eine neue Qualität erreicht werden muss, um aus einer „formellen“ eine substanzielle Beteiligung am dreiseitigen sozialen Dialog zu machen, der dementsprechend so geregelt werden sollte, dass die erzielten Vereinbarungen auch umgesetzt werden. Dies würde im Übrigen dazu beitragen, das gegenseitige Vertrauen zu stärken und den Einzelnen stärker in die Verantwortung zu nehmen.

3.3.7.

Die Vorbereitung der Stufe 2 (Vollendung der WWU), die von vorrangiger und grundlegender Bedeutung ist, um die Glaubwürdigkeit der übrigen Vorschläge zu gewährleisten, besteht lediglich in der Vorlage eines „Weißbuchs“, vorangehenden Konsultationen und „Dialogen mit den Bürgern“, wobei unklar bleibt, wie diese aussehen sollen, zumal selbst die im EWSA vertretenen Organisationen nicht einbezogen werden. Das ist völlig unzureichend. Es sollten beispielsweise auch die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament einbezogen werden.

3.4.    Risiken

3.4.1.

Die Absichten der Kommission sind zweifellos begrüßenswert, aber der Ansatz ist wenig glaubhaft, wenngleich die Vorschläge für Stufe 2 noch ausstehen. Die Mitteilung stellt vor dem Hintergrund der geltenden Verträge keinen Wendepunkt dar, um zumindest teilweise das „Defizit“ von Maastricht zu kompensieren. Was fehlt, ist ein Gesamtprojekt, das einen Wechsel einläutet und eine Zukunftsvision für den Euroraum und die Bürger der EU bietet.

3.4.2.

Die Weiterführung der bislang verfolgten Wirtschafts- und Sozialpolitik würde negative Folgen haben. Der Arbeitsmarkt und die Einkommen dürfen nicht als einzige Systemvariablen gelten, während die Binnennachfrage, die makro- und mikroökonomischen Ungleichgewichte, die Unausgewogenheit im sozialen Bereich und die Leistungsbilanzen völlig ausgeklammert oder nicht gebührend berücksichtigt werden.

3.4.3.

Das Aufschieben des politischen Handelns auf die lange Bank, obgleich eigentlich jetzt damit begonnen oder zumindest parallel gehandelt werden müsste, zeugt davon, dass sich die Mitgliedstaaten angesichts der bestehenden alten und neuen Krisensituationen zu sehr von Ängsten und politischem Opportunismus leiten lassen, was Europa zum Verhängnis werden könnte, anstatt Verbesserungen herbeizuführen und Hoffnungen für die Zukunft zu wecken.

3.4.4.

Symptomatisch ist die Oberflächlichkeit, mit der von einer demokratischen Legitimität des Semesters und anderer Politikbereiche der WWU oder von den vorgeschlagenen Instrumenten gesprochen wird. Da sind angesichts des Standpunkts der einzelnen Länder nur halbherzige Worte, nichts anderes als ein Demokratieersatz. Wahrscheinlich ist dies der schwächste Punkt des gesamten Vorschlags, zumindest solange er in seiner jetzigen Form belassen wird: in Erwartung der Stufe 2, an deren Gestaltung die Zivilgesellschaft und die politischen Akteure aktiv und begleitend mitwirken müssen.

3.4.5.

Es ist zumindest leichtfertig und illusorisch zu denken, das Problem mit der Demokratie im Euro-Währungsgebiet könne durch einen „Dialog mit den Bürgern“ gelöst werden, ohne näher auf die Umsetzungsmodalitäten, die Verfahren zur Einbeziehung der Bürger und die Instrumente einzugehen, die auf europäischer und nationaler Ebene eingesetzt werden sollen. Stattdessen muss ein konkreterer Weg gefunden werden, um das Interesse der Bevölkerung in Europa für die Vollendung der WWU zu wecken und sie zur Mitarbeit anzuregen, beispielsweise durch große öffentliche Versammlungen in allen Städten oder durch die Abstimmung über Vorschläge und auch über Alternativen in den nationalen Parlamenten.

3.5.    Chancen

3.5.1.

Die Mitteilung könnte eine Chancen sein, um mit den Bürgern in Europa Klartext zu reden und aufzuzeigen, in welchen Punkten der geltende Vertrag noch nicht umgesetzt wurde, worin sein Potenzial besteht und was seit der Einführung des Euro geschehen ist. Es könnte erörtert werden, was während der Krise passiert ist, welche Fehler auf europäischer Ebene und seitens der Mitgliedstaaten gemacht wurden, dass sich die Staaten in stärkerem Maße um eine Politik bemühen sollten, in deren Mittelpunkt der Wert des Menschen steht, welche Chancen verpasst wurden und welche Risiken sich für die Bürger — nicht für ein abstraktes „Europa“ — ergeben, wenn seitens einiger Mitgliedstaaten so weitergemacht wird wie bisher.

3.5.2.

Diese offene und ehrliche Debatte ist dringend erforderlich und wird möglicherweise dadurch erleichtert, dass auch auf zwei andere, sich zuspitzende und die Sicherheit aller Menschen in Europa immer stärker bedrohende Phänomene angemessen reagiert werden muss, nämlich die Migrations- bzw. Flüchtlingskrise und die Bedrohung der Sicherheit durch den islamistischen Terrorismus.

3.5.3.

Darüber hinaus sollten informelle und ernsthafte Überlegungen über unsere gemeinsamen (bürgerlichen, ethischen, religiösen) Werte eingeleitet werden, die die Grundlage unserer Identität bilden und die zum Ausdruck zu bringen und zu verteidigen wir Angst haben: Sie sind das eigentliche Fundament für die Wiedergeburt des Euroraums und/oder der Länder, die ihn wünschen. Dies ist eine einzigartige Integration, die nicht nur den 19 Euroländern, sondern auch allen übrigen — auch den neuen — EU-Mitgliedstaaten, die zum politischen Kern gehören wollen, offensteht und die auf Wachstum ausgelegt ist, wie seinerzeit schon die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (1957) der sechs Gründungsmitglieder, die mit großer Kühnheit handelten und ohne die heute von Europa nicht die Rede wäre, und schon gar nicht von 28 Mitgliedstaaten.

3.5.4.

Sehr nützlich könnte zu diesem Zweck die Einbeziehung der gesellschaftlichen Mittler sein, und hier vor allem der sozialen und zivilgesellschaftlichen Akteure, um auf diese Weise den sozialen und zivilen Dialog auf europäischer und nationaler Ebene neu zu starten. Diese könnten unter Mitwirkung des EWSA und der Kommission eine informative Auseinandersetzung und eine Diskussion einleiten über die Risiken und Gefahren der gegenwärtigen Ereignisse, über die Chancen einer echten Reform einiger Politikbereiche der EU und über die Notwendigkeit, zusammenzubleiben und so das Fundament unseres gemeinsamen Hauses zu verstärken und das noch fehlende Dach zu errichten, ohne dabei das bislang gemeinsam Geschaffene zu zerstören.

4.   Beratender Europäischer Fiskalausschuss (Beschluss der Kommission)

4.1.

Der Beschluss der Kommission enthält keine sachdienlichen Hinweise auf die Gründe für die Einrichtung eines derartigen Ausschusses (11), der die Umsetzung der finanzpolitischen Rahmenvorschriften der EU insbesondere mit Blick auf die horizontale Kohärenz der Beschlüsse zur Haushaltsüberwachung bewerten soll. Vielmehr führt die Einsetzung dieses Europäischen Ausschusses zu Überschneidungen mit Funktionen und Aufgaben, die bereits von der Kommission selbst durch ihre neuen Zuständigkeiten im Rahmen der europäischen Governance wahrgenommen werden.

4.2.

Es ist in der Tat unklar, worin der Mehrwert dieses aus fünf externen Sachverständigen bestehenden Gremiums läge, das den Auftrag hätte, die Haushaltspolitik auf einzelstaatlicher und europäischer Ebene genauer zu überprüfen. Es scheint sich um einen weiteren europäischen Kontrollausschuss zu handeln, der zur Haushaltspolitik sowohl der EU als auch der Euro-Länder berät, der jedoch in Fällen von Verstößen oder unangemessener Haushaltspolitik auf nationaler Ebene oder auf Ebene des Euro-Währungsgebiets nicht über wirksame Interventionsbefugnisse verfügt.

4.3.

Den EWSA überrascht das Ernennungsverfahren für die Mitglieder des beratenden Ausschusses. Es sei nur daran erinnert, dass der designierte Präsident insgesamt drei der fünf Mitglieder ohne jedwede Einbeziehung des Europäischen Parlaments benennt, wie das EP zu Recht in seiner Entschließung (12) hervorhebt. Somit scheint es sich weniger um einen Ausschuss zu handeln, der die Kommission bei ihren Entscheidungen berät, sondern eher um einen „Sonderbeauftragten“ des Rates für eine Funktion, die heute die Kommission selbst wahrnimmt. Dies könnte zu einer Verschlechterung der Situation führen, die bereits heute auf einem fragilen Gleichgewicht beruht.

4.4.

In der Mitteilung der Kommission wird auch auf den möglichen Zusammenhang zwischen dem beratenden Europäischen Fiskalausschuss und den nationalen Räten für Finanzpolitik Bezug genommen, ohne allerdings die avisierten Ziele zu nennen, die jeweiligen Tätigkeitsbereiche festzulegen oder die Verantwortlichkeiten und Bereiche der Zusammenarbeit zwischen den beiden Einrichtungen zu umreißen.

Brüssel, den 17. März 2016.

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Georges DASSIS


(1)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Nationale Ausschüsse für Wettbewerbsfähigkeit (siehe Seite 35 dieses Amtsblatts).

(2)  Stellungnahme des EWSA zur Außenvertretung des Euro-Währungsgebiets (siehe Seite 16 dieses Amtsblatts).

(3)  Stellungnahme des EWSA zum Europäischen Einlagensicherungssystem (siehe Seite 21 dieses Amtsblatts).

(4)  Stellungnahmen des EWSA zum Grünbuch: Schaffung einer Kapitalmarktunion (ABl. C 383 vom 17.11.2015, S. 64) und zum Aktionsplan zur zur Schaffung einer Kapitalmarktunion (ABl. C 133 vom 14.4.2016, S. 17).

(5)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Wachstum und Staatsverschuldung in der EU: zwei innovative Vorschläge (ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 10).

(6)  Stellungnahmen des EWSA u. a. zur Vollendung der WWU — die nächste europäische Legislaturperiode (ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 10), zur Vollendung der WWU: Die politische Säule (ABl. C 332 vom 8.10.2015, S. 8) und zum Thema Eine demokratische und soziale WWU durch die Gemeinschaftsmethode (ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 33).

(7)  Stellungnahmen des EWSA zur Außenvertretung des Euro-Währungsgebiets, zum Europäischen Einlagensicherungssystem, zu den Nationalen Ausschüssen für Wettbewerbsfähigkeit und zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets (2016) (siehe Seite 16 dieses Amtsblatts).

(8)  Stellungnahmen des EWSA zu folgenden Themen: Zehn Jahre Euro — und jetzt? (ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 8), Vollendung der WWU — die nächste europäische Legislaturperiode (ABl. C 451 vom 16.12.2014, S. 10) und Vollendung der WWU: Die politische Säule (ABl. C 332 vom 8.10.2015, S. 8).

(9)  COM(2015) 603 final — 2015/0250 (NLE).

(10)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Eine demokratische und soziale WWU durch die Gemeinschaftsmethode (ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 33).

(11)  C(2015) 8000 final.

(12)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Dezember 2015 zu dem Thema „Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“ (2015/2936(RSP)).