9.11.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 378/136


P7_TA(2014)0231

Bewertung der Justiz in Bezug auf die Strafjustiz und die Rechtsstaatlichkeit

Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. März 2014 zur Bewertung der Justiz in Bezug auf die Strafjustiz und die Rechtsstaatlichkeit (2014/2006(INI))

(2017/C 378/15)

Das Europäische Parlament,

gestützt auf den Vertrag über die Europäische Union, insbesondere auf die Artikel 2, 6 und 7,

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf die Artikel 70, 85, 258, 259 und 260,

unter Hinweis auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union,

unter Hinweis auf Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention,

unter Hinweis auf die Mitteilung der Kommission vom 27. März 2013 mit dem Titel „Das EU-Justizbarometer — Ein Instrument für eine leistungsfähige, wachstumsfördernde Justiz“ (COM(2013)0160),

unter Hinweis auf das Schreiben vom 6. März 2013, das die Außenminister Deutschlands, Dänemarks, Finnlands und der Niederlande an Kommissionspräsident José Barroso gerichtet haben und in dem sie ein Verfahren zur Förderung der Achtung der Grundwerte in den Mitgliedstaaten fordern,

unter Hinweis auf den Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten,

unter Hinweis auf den Vorschlag der Kommission über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (COM(2013)0534), mit dem der Notwendigkeit der Schaffung eines europäischen Raums der Strafgerichtsbarkeit Rechnung getragen wird,

unter Hinweis auf die Tätigkeit, die Jahresberichte und Studien der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte,

unter Hinweis auf die Tätigkeit und Berichte der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission), insbesondere ihren Bericht über Rechtsstaatlichkeit („Report on the Rule of Law“, CDL-AD(2011)003rev), ihren Bericht über die Unabhängigkeit der Justiz — Teil I: die Unabhängigkeit der Richter („Report on the Independence of the Judicial System — Part I: The Independence of Judges“, CDL-AD (2010) 004) und ihren Bericht über europäische Normen im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Justiz — Teil II: die Staatsanwaltschaft („Report on European Standards as regards the Independence of the Judicial System — Part II: The Prosecution Service“, CDL-AD (2010)040),

unter Hinweis auf die Vereinbarung zwischen dem Europarat und der Europäischen Union,

unter Hinweis auf die überarbeitete Satzung der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht,

unter Hinweis auf die Mitteilung der Kommission vom 13. November 2013 mit dem Titel „Jahreswachstumsbericht 2014“ (COM(2013)0800),

unter Hinweis auf die Tätigkeit und Berichte der Europäischen Kommission für die Wirksamkeit der Justiz (CEPEJ), insbesondere ihren jüngsten Bewertungsbericht über die europäischen Justizsysteme (2012),

unter Hinweis auf seine Entschließungen zu der Lage, den Standards und Praktiken der Grundrechte in der Europäischen Union sowie auf alle einschlägigen Entschließungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und Justiz, einschließlich derjenigen zu Korruption und zum Europäischen Haftbefehl (1),

gestützt auf Artikel 48 seiner Geschäftsordnung,

in Kenntnis des Berichts des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres sowie der Stellungnahme des Rechtsausschusses (A7-0122/2014),

A.

in der Erwägung, dass eine Bewertung im Bereich der Strafjustiz das gegenseitige Vertrauen stärkt und dass dieses gegenseitige Vertrauen entscheidend für die wirksame Umsetzung der Instrumente für die gegenseitige Anerkennung ist; in der Erwägung, dass die Bewertung im Rahmen des Stockholm-Programms als eines der zentralen Instrumente für die Integration im Bereich Freiheit, Sicherheit und Justiz genannt wird;

B.

in der Erwägung, dass die Verträge die erforderliche Grundlage für die Bewertung der politischen Maßnahmen im Bereich Freiheit, Sicherheit und Justiz sowie der Achtung der Grundwerte der Union, einschließlich der Rechtsstaatlichkeit, bilden; in der Erwägung, dass die Qualität, Unabhängigkeit und Wirksamkeit der Justizsysteme auch im Rahmen des Europäischen Semesters, des neuen Jahreszyklus für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der EU, als Prioritäten genannt werden;

C.

in der Erwägung, dass das Justizbarometer derzeit Thema im Europäischen Semester ist, sodass der wirtschaftliche Wert der Justiz zu sehr in den Vordergrund gestellt wird; in der Erwägung, dass die Justiz an sich einen Wert darstellt und daher unabhängig von wirtschaftlichen Interessen für alle zugänglich sein sollte;

D.

in der Erwägung, dass die nationalen Behörden zusammenarbeiten sollten und ein einheitliches Verständnis des Strafrechts der EU geschaffen werden muss;

E.

in der Erwägung, dass sich das Justizbarometer 2013 ausschließlich auf die Zivil-, Handels- und Verwaltungsjustiz bezieht, die Strafjustiz jedoch auch mit einschließen sollte, da die Funktionsfähigkeit und die Integrität der Strafjustiz ebenfalls erhebliche Auswirkungen auf die Grundrechte haben und darüber hinaus eng mit der Rechtsstaatlichkeit zusammenhängen;

F.

in der Erwägung, dass in dem Kapitel über den Zugang zu einer effizienten und unabhängigen Justiz des Jahresberichts 2012 der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit und insbesondere der Unabhängigkeit der Justiz in bestimmten Mitgliedstaaten und in diesem Zusammenhang auch bezüglich des Grundrechts auf Zugang zur Justiz geäußert wurden, das durch die Finanzkrise ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen wurde;

G.

in der Erwägung, dass die übermäßig lange Dauer von Gerichtsverfahren nach wie vor der häufigste Grund für Verurteilungen von EU-Mitgliedstaaten durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist;

H.

in der Erwägung, dass die Europäische Kommission für die Wirksamkeit der Justiz (CEPEJ) seit ihrer Gründung 2002 Fachwissen aus erster Hand bei der Analyse der verschiedenen nationalen Justizsysteme aufgebaut hat und eine beispiellose Wissensbasis mit echtem Mehrwert bereitstellt, die die Mitgliedstaaten dabei unterstützt, die Bewertung und Arbeitsweise ihrer Justizsysteme zu verbessern; in der Erwägung, dass sich das Bewertungsschema dieser Kommission, das nunmehr zum fünften Mal eingesetzt wird, auf sämtliche Bereiche der Justiz erstreckt und verschiedene Kategorien für die Analyse umfasst, darunter demografische und wirtschaftliche Daten, die Gerechtigkeit von Verfahren, der Zugang zur Justiz oder die beruflichen Laufbahnen von Richtern, Staatsanwälten und Anwälten;

I.

in der Erwägung, dass die Venedig-Kommission in ihrem jüngsten Bericht über die Rechtsstaatlichkeit sechs Elemente anführt, über die Konsens bestand und die die Grundpfeiler der Rechtsstaatlichkeit bilden: Rechtmäßigkeit, einschließlich eines transparenten, demokratischen und auf der Rechenschaftspflicht beruhenden Gesetzgebungsprozesses, Rechtssicherheit, Willkürverbot, Zugang zur Justiz vor unabhängigen und unparteiischen Gerichten, einschließlich der gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsakten, Achtung der Menschenrechte sowie Diskriminierungsverbot und Gleichheit vor dem Gesetz;

J.

in der Erwägung, dass die Arbeit der EU-Organe auf einer engen Zusammenarbeit und Interaktion beruhen und sich auf bewährte Verfahren und das Fachwissen anderer internationaler Organisationen, etwa der Fachgremien des Europarates, stützen sollte, damit sich überschneidende Tätigkeiten und Doppelarbeit vermieden und Ressourcen wirtschaftlich genutzt werden;

K.

in der Erwägung, dass der Europarat und die Europäische Union ihre Bereitschaft bekräftigt haben, ihre Zusammenarbeit in Bereichen von gemeinsamem Interesse zu stärken, wozu insbesondere die Förderung und der Schutz der pluralistischen Demokratie sowie die Achtung der Menschenrechte, der Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit zählt, Fachgremien wie die Venedig-Kommission umfassend zu nutzen und auf neue Herausforderungen mit neuen, geeigneten Formen der Zusammenarbeit zu reagieren;

L.

in der Erwägung, dass das Parlament wiederholt gefordert hat, die bestehenden Mechanismen zu stärken, damit die in Artikel 2 EUV aufgeführten Werte der Union geachtet, geschützt und gefördert werden, und dass auf Krisensituationen in der Union und in den Mitgliedstaaten schnell und wirksam reagiert werden muss; in der Erwägung, dass innerhalb des Parlaments, des Rates und der Kommission eine Debatte über die Schaffung eines „neuen Mechanismus“ geführt wird;

M.

in der Erwägung, dass die Unabhängigkeit der Justiz sowie der Richter und Staatsanwälte in den Mitgliedstaaten vor jeglicher politischen Einflussnahme geschützt werden muss;

N.

in der Erwägung, dass die einschlägigen Entscheidungen so bald wie möglich gewährleisten müssen, dass Artikel 2 EUV ordnungsgemäß angewendet wird und alle Entscheidungen auf objektiven Kriterien und einer objektiven Bewertung beruhen, damit den Vorwürfen der Doppelmoral, Ungleichbehandlung und politischen Voreingenommenheit der Boden entzogen wird;

O.

in der Erwägung, dass die Anwendung der Instrumente der Union im Bereich der Strafjustiz, in diesem Zusammenhang einschließlich der Achtung der Grundrechte, sowie die Entwicklung eines Bereichs der Strafjustiz von der wirksamen Arbeitsweise der nationalen Strafrechtssysteme abhängig sind;

P.

in der Erwägung, dass es einer kohärenten und umfassenden Justizverwaltung bedarf, damit Straftäter nicht die Unterschiede in den Strafrechtssystemen der Mitgliedstaaten auszunutzen, indem sie sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben;

Entwicklung eines Justizbarometers für Strafsachen

1.

begrüßt das von der Kommission ausgearbeitete EU-Justizbarometer; bedauert allerdings, dass es sich ausschließlich auf die Zivil-, Handels- und Verwaltungsjustiz bezieht;

2.

betont, dass das Justizbarometer für Strafsachen bei Richtern und Staatsanwälten grundlegend zu einem einheitlichen Verständnis der EU-Gesetzgebung im Bereich des Strafrechts beitragen und damit zu einem größeren gegenseitigen Vertrauen führen wird;

3.

fordert die Kommission deshalb auf, die Reichweite des Barometers schrittweise auszudehnen, so dass daraus ein eigenständiges, umfassendes Justizbarometer wird, mit dem anhand von objektiven Indikatoren alle Bereiche der Justiz einschließlich der Strafjustiz und alle justizbezogenen horizontalen Aspekte, beispielsweise die Unabhängigkeit, Effizienz und Integrität der Justiz, die berufliche Laufbahn von Richtern und die Achtung von Verfahrensrechten bewertet werden; fordert die Kommission auf, alle relevanten Akteure einzubeziehen und sich deren Erfahrungen und deren Wissen zunutze zu machen, ebenso wie die von den Gremien des Europarats im Bereich der Bewertung von Rechtsstaatlichkeit und von Rechtssystemen und von der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte bereits geleistete Arbeit;

Funktion der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments

4.

fordert die Kommission und den Rat auf sicherzustellen, dass das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente gemäß den Verträgen in den Prozess eingebunden werden und dass ihnen die Bewertungsergebnisse regelmäßig vorgelegt werden;

Beteiligung der Mitgliedstaaten

5.

bedauert, dass keine ausreichenden Daten über die einzelstaatlichen Rechtssysteme verfügbar sind, und fordert die Mitgliedstaaten daher auf, umfassend mit den Organen der Europäischen Union und den Gremien des Europarats zusammenzuarbeiten und regelmäßig und unparteiisch verlässliche, objektive und vergleichbare Daten zu ihren Rechtssystemen zu erheben und bereitzustellen;

Rechtsstaatlichkeit und Grundfreiheiten

6.

fordert die Kommission auf, auf die wiederholten Ersuchen des Parlaments zu reagieren und folgende Vorschläge vorzulegen:

ein wirksames Verfahren für eine regelmäßige Bewertung der Achtung der Grundwerte der EU gemäß Artikel 2 EUV durch die Mitgliedstaaten, deren Ergebnisse als Grundlage für ein Frühwarnsystem dienen, und

ein Verfahren für das Vorgehen in Krisensituationen mit geeigneten Interventionsformen, wirksameren Verletzungsverfahren und Sanktionsmöglichkeiten für den Fall, dass systematische Verstöße gegen die Grundsätze der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit stattfinden und das System der gegenseitigen Kontrolle der verfassungsmäßigen Organe eines Mitgliedstaats versagt;

7.

weist darauf hin, dass solche Verfahren für alle Mitgliedstaaten auf transparenter, einheitlicher und gleichberechtigter Grundlage zur Anwendung kommen und die Arbeit anderer internationaler Einrichtungen, beispielsweise des Europarates und insbesondere seiner Venedig-Kommission, ergänzen sollten; fordert, dass die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte eigene Zuständigkeiten bei den Bewertungsverfahren erhält;

8.

fordert eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und der Venedig-Kommission; fordert das Parlament und den Europarat auf, ein geeignetes Verfahren für die Einreichung von Ersuchen um Stellungnahme zu Themen, die von besonderem Interesse für die Venedig-Kommission sind, zu entwickeln und die Teilnahme des Parlaments als Beobachter an der Arbeit der Venedig-Kommission sicherzustellen;

9.

erachtet es als notwendig, die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Ausschüssen des Parlaments und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) nach Artikel 199 GO, vor allem in Form von regelmäßigen und Ad-hoc-Sitzungen, weiter zu verstärken und auf beiden Seiten Schwerpunkte zu bestimmen; spricht an die Vertreter des Europarats (zuständige PACE-Ausschüsse, Venedig-Kommission, CEPEJ, Kommissar für Menschenrechte) eine ständige Einladung zu den entsprechenden Sitzungen der Ausschüsse des Parlaments aus;

10.

fordert eine Aktualisierung der Vereinbarung über die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und dem Europäischen Parlament von 2007, um den Entwicklungen seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon weitestmöglich Rechnung zu tragen; fordert die Konferenz der Präsidenten auf der Grundlage von Artikel 199 der Geschäftsordnung des Parlaments auf, offene Gespräche mit der PACE darüber zu führen, welche praktischen Maßnahmen zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen den entsprechenden Stellen in diesen allgemeinen Rahmen eingebettet werden können;

11.

stellt fest, dass die Vereinbarung zwischen dem Europarat und der Europäischen Union ebenfalls regelmäßig geprüft werden muss;

12.

fordert den Rat und die Mitgliedstaaten auf, ihrer Verantwortung im Hinblick auf die Grundrechte, die in der Charta und den einschlägigen Artikeln der Verträge, insbesondere in den Artikeln 2, 6 und 7 EUV, verankert sind, in vollem Umfang nachzukommen; ist der Ansicht, dass dies eine Voraussetzung ist, wenn die EU wirksam in Situationen handeln soll, in denen die Grundsätze der Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit oder die Grundrechte in Mitgliedstaaten verletzt werden;

13.

betont, dass die Kommission befugt ist, beim Gerichtshof der Europäischen Union Klage gegen Mitgliedstaaten einzureichen, die einer Verpflichtung nach Maßgabe der Verträge nicht nachkommen;

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o o

14.

beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat und der Kommission zu übermitteln.


(1)  Angenommene Texte, P7_TA(2012)0500, P7_TA(2013)0315, P7_TA(2011)0388,P7_TA(2013)0444; P7_TA(2014)0173 und P7_TA(2014)0174.