16.7.2014 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 226/21 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Auswirkungen von Sozialinvestitionen auf die Beschäftigung und die öffentlichen Haushalte“ (Initiativstellungnahme)
2014/C 226/04
Berichterstatter: Wolfgang GREIF
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 19. September 2013 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:
Auswirkungen von Sozialinvestitionen auf die Beschäftigung und die öffentlichen Haushalte
(Initiativstellungnahme).
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 12. März 2014 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 497. Plenartagung am 25./26. März 2014 (Sitzung vom 26. März) mit 205 gegen 6 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Zusammenfassung
1.1 |
Der EWSA begrüßt das Sozialinvestitionspaket der Kommission, vor allem den deklarierten Paradigmenwechsel, soziale Investitionen nicht einseitig als Kostenfaktor, sondern als Investitionen in die Zukunft zu sehen. |
1.2 |
Darauf aufbauend beleuchtet der EWSA die mehrfachen positiven Effekte sozialer Investitionen, insbesondere für den Arbeitsmarkt und die öffentlichen Haushalte in folgenden Bereichen:
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1.3 |
Dabei werden positive Wirkungsketten dargelegt und aufgezeigt,
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1.4 |
Der soziale, ökonomische, fiskalische und gesellschaftliche Nutzen, d. h. die Mehrfachdividende sozialer Investitionen wird umso höher ausfallen, je besser sie in einen glaubwürdigen makroökonomischen und institutionellen Kontext eingebettet sind. |
1.5 |
Mit einer konsequenten und erfolgreichen Implementierung eines breit angelegten Sozialinvestitionspaketes sind aus Sicht des EWSA folgende zentralen Forderungen verbunden:
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2. Einleitung
2.1 |
Der EWSA vertritt die Position, dass es gerade in der Krise einen enormen, sozialen Investitionsbedarf gibt, um der zunehmenden Armutsgefährdung entgegenzuwirken, das auch ein hohes europaweites Beschäftigungspotenzial in sich birgt, das durch private und öffentliche Investitionen mobilisiert werden muss (1). |
2.2 |
Der EWSA hat daher das Sozialinvestitionspaket der Kommission (2) begrüßt, mit dem die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, eine stärkere Fokussierung auf soziale Investitionen zu legen, vor allem den deklarierten Paradigmenwechsel, soziale Investitionen nicht einseitig als Kostenfaktor, sondern als Investitionen in die Zukunft zu sehen (3). |
2.3 |
Hier wurde auch festgehalten, dass wirkungs- bzw. ergebnisorientierte und in der Praxis konsistent umgesetzte Sozialinvestitionen die Beschäftigungschancen der Menschen nachhaltig erhöhen und einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der beschäftigungspolitischen Europa-2020-Ziele leisten. |
2.4 |
Daher forderte der EWSA die Kommission auch auf, einen konkreten Umsetzungsplan zum Sozialinvestitionspaket vorzulegen. |
2.5 |
Als Schwachstelle der Kommissionsinitiative wurden offene Fragen zur Finanzierung festgehalten und angemerkt, dass ohne eine Änderung der vorherrschenden Politik der einseitigen Ausgabenkürzungen eine erfolgreiche Umsetzung der Vorschläge zu vermehrten Sozialinvestitionen nicht realistisch ist. |
2.6 |
Hierauf baut diese Stellungnahme auf, wenn sie die mehrfachen positiven Effekte sozialer Investitionen, vor allem für den Arbeitsmarkt und die öffentlichen Haushalte, in den Blick nimmt und konkrete Forderungen und Empfehlungen zur Umsetzung des Sozialinvestitionspaketes aufzeigt. |
3. Allgemeine Bemerkungen zur „Mehrfachdividende“ sozialer Investitionen — sozialer, ökonomischer, fiskalischer und gesellschaftlicher Nutzen
3.1 |
Die Kommission schreibt der Sozialpolitik drei zentrale Funktionen (4) zu: Unterstützung für Menschen in verschiedenen Risikolagen, Stabilisierung der Wirtschaft und Sozialinvestitionen. Diese Unterscheidung ist nicht als gegenseitige Abgrenzung zu sehen, sie zeigt vielmehr die Möglichkeiten einer aktiven Politikgestaltung auf. Dabei ist auf die Komplementarität sowohl der Politikfelder als auch auf die (institutionellen) Rahmenbedingungen zu achten, womit letztendlich auch die soziale Kohäsion ermöglicht wird. |
3.2 |
Nicht nur im EWSA, zunehmend auch in der Forschung (5) und der EU-Politik hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Investitionen in den Wohlfahrtsstaat nicht nur sozialen Fortschritt bringen, sondern sich auch ökonomisch und fiskalisch rechnen (6). Gleichzeitig fehlen vergleichbare Standards, die helfen, sämtliche positiven externen Effekte von Sozialinvestitionen zu erfassen und zu bewerten. |
3.3 |
Unbestritten ist aber, dass gut geplante, effektive und effiziente soziale Investitionen — in Abhängigkeit vom länderspezifischen Design und Umfang der gesetzten Maßnahmen — mehrfache positive Effekte bringen: bestehender sozialer Bedarf wird gedeckt und Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen, Chancengleichheit — auch zwischen den Geschlechtern — gefördert, zugleich kompensieren steigende Beschäftigung und sinkende Arbeitslosigkeit die anfallenden Kosten in erheblichem Ausmaß. Der investive Charakter von Sozialinvestitionen drückt sich darin aus, dass dabei zumeist nicht von unmittelbaren „Erträgen“ ausgegangen werden muss, aber im Zeitverlauf positive Wirkungen entfaltet werden (z. B. Bildungsinvestitionen, Kinderbetreuung, Gesundheitsförderung, lebensphasenorientierte Arbeitsbedingungen). |
3.4 |
Die „Mehrfachdividende“ sozialer Investitionen wird umso höher ausfallen, je besser diese in einen komplementären, institutionellen und ganzheitlichen politischen Kontext eingebettet sind. Notwendig sind eine strategische Planung und ein strukturiertes Monitoring im Sinne der Europa-2020-Ziele. |
3.5 |
Mit Blick auf die derzeit dramatische und in naher Zukunft kaum sinkende Arbeitslosigkeit kann eine Offensive bei sozialen Investitionen einen wichtigen Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung leisten. Die Ausschöpfung vorhandener Beschäftigungspotenziale erfordert die konsequente Verfolgung einer Politik, die Teilhabechancen in Wirtschaft und Gesellschaft eröffnet. Wirkungs- bzw. ergebnisorientierten sozialen Zukunftsinvestitionen, besonders dem Ausbau sozialer Dienstleistungen, dem allgemein weit höhere Beschäftigungseffekte zugeschrieben werden als jeder anderen Form des öffentlichen Mitteleinsatzes, kommt hier zentrale Bedeutung zu. |
3.6 |
Neben den positiven Effekten am Arbeitsmarkt können Sozialinvestitionen die öffentlichen Haushalte entlasten, womit sie nicht in Konkurrenz zur Haushaltskonsolidierung stehen. Der EWSA hat bereits festgehalten, dass der Versuch, im Konjunkturabschwung die Haushaltkonsolidierung einseitig durch Kürzungen der Ausgaben zu erreichen, allgemein als gescheitert erachtet wird (7). Ein mittel- und langfristiger Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben gelingt eher dadurch, dass strukturelle Probleme mit Investitionen adressiert werden und so langfristig der Handlungsspielraum der öffentlichen Hand wieder größer wird. Aktuelle Analysen zeigen, dass die Förderung eines inklusiven Wachstums und eine Erhöhung der Beschäftigungsquoten entsprechend der Europa-2020-Ziele einen zusätzlichen Spielraum der Staatshaushalte EU-weit von bis zu 1 000 Milliarden EUR bringen würden (8). |
3.7 |
Ferner ist zu beachten, dass „Nicht-Handeln“ besonders im Sozialbereich ebenfalls seinen „Preis“ hat und die Folgekosten unterlassener sozialer Investitionen oft vielfach höher sind. Dieser Gedanke, wonach Reparieren teurer ist als Prävention, findet sich auch in mehreren Kommissionsmitteilungen (9). Mit Sozialinvestitionen sind zwar kurzfristig Kosten, mittel- bis längerfristig aber Wohlfahrtsgewinne für die Gesellschaft und höhere Einnahmen für die Staatshaushalte verbunden, die zudem in der Zukunft liegende Kosten deutlich verringern (10). |
3.8 |
Nicht alle Sozialausgaben sind per se auch Sozialinvestitionen. Manche Sozialleistungen haben grundsätzlich konsumtive Wirkung (z. B. Pensionen, Arbeitslosenunterstützung). Der EWSA hat jedoch stets die konsum- und konjunkturstützende Bedeutung von Investitionen in robuste soziale Sicherungssysteme (vor allem in Krisenzeiten) hervorgehoben, indem sie als automatische Stabilisatoren die Einkommen und die Nachfrage stützten und somit die Bewältigung der Krisen in Europa begünstigen (11). |
4. Beispiele zur Wirkung sozialer Investitionen
4.1 |
Investitionen in soziale Dienste: Verstärkte Investitionen in die Bereitstellung und Förderung sozialer Infrastruktur (u. a. Pflege, Altenbetreuung, Gesundheit, Leistungen für Menschen mit Behinderungen, betreutes Wohnen, Beratungsstellen etc.) schaffen Arbeitsplätze, liefern zugleich einen wichtigen Beitrag zu höherer Erwerbsbeteiligung (12) und tragen mittel- bis langfristig zur Entlastung öffentlicher Haushalte (13) sowie zur Belebung der Regionalwirtschaft bei. Laut Kommissionsberechnungen ist bei einer jährlichen Wachstumsrate der Beschäftigung im Gesundheitsbereich von 0,5 % ein sektorales Beschäftigungswachstum von mindestens 1 Million Arbeitsplätze bis 2020 zu erwarten (14). Der EWSA hat mehrfach darauf hingewiesen, dass es sich dabei im öffentlichen wie privaten Sektor um Arbeitsplätze mit hochwertigen Beschäftigungsverhältnissen und fairer Bezahlung handeln muss (15). |
4.2 |
Investitionen in Kinderbetreuung: Zahlreiche Studien zeigen am Beispiel der Kinderbetreuung, dass durch zielgerichtete Investitionen sozialer Fortschritt mit einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit verbunden werden kann (16). Neue Berechnungen weisen aus, dass öffentliche Investitionen zur Erreichung der Barcelona-Ziele im Bereich der Kinderbetreuung neben beträchtlichen Beschäftigungseffekten auch deutliche Mehreinnahmen für die öffentliche Hand bringen. Beispielsweise zeigt eine Studie (17) für Österreich, dass die Investitionskosten selbst unter Berücksichtigung schwacher Konjunkturaussichten nach vier Jahren niedriger ausfallen als die erzielten Erträge. Die öffentlichen Haushalte profitieren dabei von komplementären Effekten: konjunktureller und regionalpolitischer Impulse, steigender direkter Beschäftigung, sinkender Kosten für Arbeitslosenunterstützung u. a.m. Der EWSA würde verstärkte Forschungsaktivitäten und einen intensivieren Best-Practice-Austausch auch auf diesem Gebiet begrüßen. |
4.3 |
Investitionen in Kinder: Die Kommission fordert vorbeugende Maßnahmen durch frühzeitige Investitionen, um die Entwicklungsmöglichkeiten und Teilhabechancen von Kindern (nicht nur mit benachteiligtem sozio-ökonomischen Hintergrund) zu verbessern (18). In ihrer Empfehlung „Investitionen in Kinder“ zeigt die Kommission, dass vorbeugende Investitionen gegen Kinderarmut durch eine Palette von Maßnahmen zu erreichen sind. Dabei werden die positiven Effekte des Ausbaus qualitativ hochwertiger Betreuungseinrichtungen verdeutlicht: Förderung der Begabungen, reduziertes Risiko eines frühen Schulabbruchs, bessere Erwerbschancen besonders für Frauen sowie Wachstumsimpulse auf regionaler Ebene (19). |
4.4 |
Investitionen in Bildung und Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit: Ein zukunftsfähiges Europa kann nur mit einem höheren Bildungsniveau und dem Abbau von Defiziten im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung gelingen. Bildungsinvestitionen, die den Bedürfnissen der Menschen und der Wirtschaft gerecht werden, führen zu höherer Produktivität und höheren Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen. OECD-Berechnungen zur Verzinsung öffentlicher Bildungsausgaben weisen einen Ertragswert im Schnitt von 7,8 % aus (20). Die Förderung der Jugendbeschäftigung muss ein zentraler Bestandteil nationaler Strategien für soziale Investitionen sein. Zu Recht werden die Mitgliedstaaten angehalten, schlagkräftige Maßnahmen für junge Menschen zu entwickeln, vor allem für jene, die sich nicht in Beschäftigung oder Ausbildung befinden (NEETs). Die wirtschaftlichen Verluste aufgrund der Trennung junger Menschen vom Arbeitsmarkt bzw. vom Bildungssystem werden von Eurofound auf jährlich über 150 Milliarden EUR oder 1,2 % des europäischen BIP geschätzt (21). |
4.5 |
Investitionen in die Förderung von Beschäftigung: Hohe Arbeitslosigkeit — vor allem Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit — stellen nicht nur für die Betroffenen und deren Angehörige eine hohe Belastung dar. Auch für die öffentlichen Haushalte ist eine Verfestigung der Arbeitslosigkeit eine große Herausforderung, der durch Qualifizierungsmaßnahmen und Beschäftigungsförderung begegnet werden muss (22). Je länger Arbeitslosigkeit dauert, umso schwerer wird es, eine geeignete Abstimmung zwischen Arbeitsangebot- und -nachfrage zu erreichen. Gerade in einer wissens- und technologiebasierten Wirtschaft sind Qualifikationsdefizite und fehlende Arbeitspraxis ein entscheidendes Hemmnis, um dauerhaft am Arbeitsmarkt zu reüssieren. |
4.6 |
Investitionen in die Bewältigung des demografischen Wandels und die Verbesserung der Erwerbschancen Älterer: Der EWSA hat mehrfach festgehalten, dass der Arbeitsmarkt der zentrale Schlüssel zur Bewältigung des demografischen Wandels ist. Wird das vorhandene Beschäftigungspotenzial besser genutzt, kann das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern trotz des Anstiegs der Zahl der Älteren weitgehend stabil gehalten werden (23). Trotz absehbarer Verschiebung der Altersstruktur wurde bisher jedoch in vielen EU-Ländern unzureichend in die Bedingungen für eine alternsgerechte Arbeitswelt (Schaffung lebensphasenorientierter Arbeitsbedingungen) und die Verbesserung der Erwerbsbeteiligung investiert. |
4.7 |
Investitionen in gesundheitliche Prävention und Rehabilitation: Positive Effekte lassen sich auch für die betriebliche und überbetriebliche Gesundheitsförderung beschreiben, da die Beschäftigungsfähigkeit und das Risiko, arbeitslos zu werden, eng mit der physischen und psychischen Gesundheit verbunden sind. Wird versäumt, rechtzeitig Gefährdungslagen zu erkennen und zu intervenieren, entstehen nicht nur individuelles Leid, sondern auch hohe gesellschaftliche Kosten. Zur Sicherstellung der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte muss verstärkt in Prävention investiert werden. |
4.8 |
Investitionen in den sozialen Wohnungsbau: Wie das Europäische Parlament und der Ausschuss der Regionen sieht auch der EWSA im sozialen Wohnungsbau einen Schlüssel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und fordert hier einen europäischen Rahmen (24). Dabei muss das Prinzip der Subsidiarität dahin gehend gewährt bleiben, dass die Mitgliedstaaten weiterhin selbst die Kriterien für den sozialen Wohnungsbau definieren können. Mit solchen Investitionen wird einem drängenden sozialen Bedarf (vor allem im Bereich Armutsbekämpfung und soziale Eingliederung) entsprochen, zugleich werden Arbeitsplätze in den Regionen geschaffen, wodurch die Wirtschaft stabilisiert und z. B. über Investitionen in die thermische Sanierung ein Beitrag zur Bewältigung des Klimawandels und der Energiearmut geleistet wird (25). |
4.9 |
Investitionen in eine barrierefreie Gesellschaft: Der EWSA hat bereits mehrfach die Notwendigkeit der Förderung einer barrierefreien Gesellschaft hervorgehoben (26). Ein Schwerpunkt sozialer Investitionen sollte in diesem Sinn u. a. auf Investitionen in die Schaffung alterns- und behindertengerechter öffentlicher Räume und Wohnungen, entsprechender Infrastrukturen zur Förderung der Mobilität sowie der Schaffung leicht zugänglicher, bezahlbarer und qualitativ hochwertiger sozialer Dienste für benachteiligte gesellschaftliche Gruppen gelegt werden. |
4.10 |
Investitionen in soziales Unternehmertum: Der EWSA begrüßt, dass die Kommission die wichtige Rolle der Sozialwirtschaft bei der Umsetzung des Sozialinvestitionspakets anerkennt. Oft ist sie direkt an der Umsetzung beteiligt. Um diese Aufgaben zu unterstützen, müssen öffentliche Mittel und privates Kapital einfacher — und auch auf für sozialwirtschaftliche Geschäftsmodelle geeignete Art und Weise — zugänglich gemacht werden. Innovative Finanzierungsmöglichkeiten, etwa durch die Beteiligung des privaten Sektors, sollen von den Mitgliedstaaten stärker genutzt werden, was auch zu Haushaltseinsparungen führen könnte (27). Der EWSA betont aber erneut, dass dies keinesfalls zu einer Kommerzialisierung der Sozialpolitik — oder einem fragmentierten sozialpolitischen Ansatz — führen darf. Der Staat darf sich nicht aus seiner sozialpolitischen Verantwortung stehlen (28). |
5. Politikempfehlungen
5.1 Kurswechsel zu präventiven sozialen Investitionen bedarf Abkehr von einseitiger, strikter Sparpolitik.
5.1.1 |
Aus Sicht des EWSA trägt die Ausweitung sozialer Dienste mehr zur Beschäftigung bei als jede andere Form öffentlicher Ausgaben. Er drängt daher darauf, den Wohlfahrtsstaat in Europa fortschrittlich und nachhaltig weiterzuentwickeln, um sein Potenzial als zusätzliche Produktivkraft der europäischen Wirtschaft entfalten zu können. |
5.1.2 |
Eine erfolgreiche Implementierung und Umsetzung eines breit angelegten Sozialinvestitionspaketes bedarf einer glaubwürdigen makroökonomischen und institutionellen Einbettung. Ohne eine Änderung der Politik einseitiger Ausgabenkürzungen ist vor allem eine erfolgreiche Arbeitsmarktintegration sowie eine faire gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe möglichst breiter Teile der Gesellschaft nicht erreichbar. |
5.1.3 |
Im Licht des Sozialinvestitionspakets und der damit verbundenen Herausforderungen unterstreicht der EWSA daher die Forderung zur Verwirklichung eines europäischen Konjunktur- und Investitionsprogramms in Höhe von 2 % des BIP (29). |
5.2 Ohne finanzielle Sicherstellung sind die sozialen und wirtschaftlichen Potenziale sozialer Investitionen nicht auszuschöpfen.
5.2.1 |
Ein glaubwürdiger Paradigmenwechsel in Richtung investiver und präventiver Strategien in zentralen Handlungsfeldern (u. a. Bildungs-, Sozial-, Arbeitsmarkt-, Gesundheitspolitik) ist erst dann gegeben, wenn die Finanzierung sichergestellt ist — sowohl im EU-Haushalt als auch in den Haushalten der Mitgliedstaaten. |
5.2.2 |
Der EWSA wiederholt seine Überzeugung, dass im Rahmen anstehender Haushaltskonsolidierungen daher nicht nur auf die Ausgabenseite geachtet werden darf, sondern im Verbund mit einer Steigerung der Effizienz und Effektivität öffentlicher Ausgaben auch die Erschließung neuer Einnahmequellen unumgänglich ist (30). Der EWSA ist in diesem Zusammenhang der Ansicht, dass es einer Stärkung der Steueraufkommensbasis der Mitgliedstaaten bedarf, u. a. durch Erhebung von Finanztransaktionssteuern, mittels Schließung von Steueroasen, der Beendigung des Steuersenkungswettlaufs sowie durch Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung. Darüber hinaus ist wohl ein generelles Überdenken der Steuersysteme angebracht, wobei Fragen hinsichtlich der Beiträge unterschiedlicher Arten von Einkommen und Vermögen zu berücksichtigen sein werden (31). |
5.2.3 |
Zwar unterstützt der EWSA die Ansichten der Kommission, dass der Europäische Sozialfonds (ESF) als Hauptinstrument zur Förderung sozialer Investitionen dienen soll und 20 % des ESF in jedem Mitgliedstaat für soziale Eingliederung und Bekämpfung von Armut vorgemerkt werden müssen. Der Ausschuss sieht aber auch andere EU-Fonds gefordert. So sollen sowohl aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds (ELER) als auch aus dem Europäischen Regionalfonds (EFRE) substanzielle Mittel für soziale Dienste wie Kinderbetreuung, Pflege oder Mobilität im ländlichen Raum eingesetzt und in den nationalen Vereinbarungen verankert werden. |
5.2.4 |
Äußerst kritisch sieht der EWSA Konditionalitäten im Rahmen der Economic Governance, die Kürzungen der Kohäsionsmittel als Strafzahlung bei Nichteinhaltung von EU-Vorgaben im makroökonomischen Bereich vorsehen. Das wirkt sich nicht nur prozyklisch und restriktiv auf die wirtschaftliche Entwicklung aus, sondern erschwert gerade in den Programmländern zusätzlich notwendige Investitionen. Demgegenüber müssen Wachstumsimpulse gesetzt und Unterstützung geliefert werden, den europäischen Ko-Finanzierungsanteil vor allem in Ländern, die besonders von der Wirtschaftskrise betroffen sind, weiter zu erhöhen. |
5.3 Sozialinvestitionen müssen Fixpunkte in der Europa-2020-Strategie und im Europäischen Semester werden.
5.3.1 |
Der EWSA fordert eine stärkere Fokussierung auf soziale Investitionen im Koordinierungsprozess des Europäischen Semesters. Diese neue Schwerpunktsetzung muss in den Jahreswachstumsberichten und den länderspezifischen Empfehlungen explizit berücksichtigt werden. Dabei ist klarzustellen, dass verstärkte Sozialinvestitionen mit einer wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung in Einklang stehen. |
5.3.2 |
Zur Erreichung dieses Ziels unterstützt der EWSA die angelaufene Diskussion innerhalb der EU-Kommission zur Anwendung der sogenannten goldenen Finanzierungsregel („golden rule“), im Kontext des fiskalischen Regelwerks der WWU Zukunftsinvestitionen der öffentlichen Hand aus der Berechnung der staatlichen Nettodefizite auszunehmen. Damit wird vermieden, dass Investitionen mit langfristigen Nettogewinnen unterbleiben. Der EWSA regt an, eine Diskussion darüber zu führen, ob die goldene Finanzierungsregel auch auf mit EU-Strukturfondsmitteln geförderte Sozialinvestitionen Anwendung finden könnte. |
5.3.3 |
Die Förderung von Sozialinvestitionen muss auch ein zentrales Element bei der Überarbeitung der Integrierten Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung im Zuge der Halbzeitüberprüfung der Europa-2020-Strategie im Jahr 2014 sein. |
5.3.4 |
Für den EWSA ist es unumgänglich, alle Akteure, in deren Kompetenz die Umsetzung sozialer Investitionen fällt, auf allen Ebenen stärker zu konsultieren, zu informieren sowie an der Beschlussfassung und am Monitoring zu beteiligen. |
5.4 Bessere Methodik und effizientere Instrumente zur Erfolgsmessung der Strategie vermehrter Sozialinvestitionen.
5.4.1 |
Die Entscheidungsgrundlagen für die künftige Politikausrichtung müssen qualitativ besser und ganzheitlicher werden. Generell ist ein zeitlich dynamischer, lebenszyklusorientierter und präventiver Zugang im Kontext der Sozialinvestitionen anzustreben, der ein höheres Maß an Kostenwahrheit bietet als bloße statische Kosten-Nutzen-Analysen (32). |
5.4.2 |
Angesichts komplexer Zusammenhänge zwischen verschiedenen Politikfeldern werden eine bessere Methodik zur Erfolgsmessung und eine höhere Transparenz, z. B. in Form von Kosten-Nutzen-Relationen mit einem gesamtgesellschaftlichen Nutzen-Begriff oder Szenarienbeschreibungen verschiedener Politik-Maßnahmen im Zeitverlauf unter Berücksichtigung mittel- und langfristiger Perspektiven, benötigt. |
5.4.3 |
Ein möglicher erster Schritt wäre eine methodische Weiterentwicklung bestehender standardisierter Langfristprojektionen in einzelnen, auch demografiebezogenen Ausgabenbereichen (z. B. Bildung, Pflege, Gesundheit, Pensionen). Der Ageing-Report 2015 wäre ein geeigneter Anlass, die „Erträge“ der nach nationalen Gegebenheiten erforderlichen und budgetierten Sozialinvestitionen abzubilden. Dies wurde bisher vernachlässigt und hat stets zu verzerrten und überhöhten Kostendarstellungen geführt. |
5.4.4 |
Offen ist auch, welche Bedeutung den Sozialindikatoren im bestehenden institutionellen Rahmen der WWU zukommen soll. Soll ihnen in der politischen Ausrichtung eine reale Bedeutung zukommen, ist jedenfalls eine Verfeinerung der Indikatoren anzustreben. |
5.4.5 |
Von Interesse findet der EWSA auch die Forderung des Europäischen Parlaments (33) an die Kommission, einen Anzeiger gängiger Indikatoren für soziale Investitionen zu entwickeln, der einen Alarmmechanismus zur Überwachung des Fortschritts in den Mitgliedstaaten umfasst, sowie seine Aufforderung an diese, die Unterzeichnung eines „Pakts für soziale Investitionen“ zu prüfen, mit dem Investitionsziele festgelegt werden und ein Kontrollmechanismus geschaffen wird. |
5.5 Überarbeitung und Konkretisierung der Policy-Roadmap zur Umsetzung des Sozialinvestitionspaketes
5.5.1 |
Der EWSA befindet die von der Kommission vorgelegte Policy-Roadmap zur Umsetzung des Sozialinvestitionspaketes für zu defensiv und fordert sie deshalb auf, einen konkreteren und längerfristig angelegten Fahrplan (zumindest bis 2020) vorzulegen. |
Brüssel, den 26. März 2014
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Henri MALOSSE
(1) ABl. C 11, vom 15.1.2013, S. 8.
(2) COM(2013) 83 final.
(3) ABl. C 271, vom 19.9.2013.
(4) COM(2013) 83 final, S. 3.
(5) Social and employment policies for a fair and competitive Europe — Background paper, Foundation Forum 2013, Eurofound, Dublin, S. 16.
(6) s. Fußnote 4.
(7) s. Fußnote 3.
(8) EPC Issue Paper No. 72, Nov. 2012.
(9) MEMO/03/58 v. 19.3.2003 bzw. COM(2013) — IP/13/125.
(10) u. a. COM(2013) 83 final, S. 2.
(11) ABl. C 133, vom 9.5.2013, S. 44, Ziffer 4.4.2.
(12) Drivers of Female Labour Force Participation in the OECD, OECD Social, Employment and Migration Working Papers 145, OECD Publishing, Thévenon Olivier (2013).
(13) „Ergebnis der Studie: jeder 2010 in die Mobilen Dienste investierte Euro schafft einen Gegenwert von 3,70 EUR“, S.9, Studie zum gesellschaftlichen und ökonomischen Nutzen der mobilen Pflege- und Betreuungsdienste in Wien mittels einer SROI-Analyse, Schober, C. et al, Wien (2012).
(14) SWD (2012) 95 final.
(15) ABl. C 11, vom 15.1.2013, Ziffer 4.7.5.
(16) Zur ökonomischen Notwendigkeit eines investiven Sozialstaates, WIFO, Famira-Mühlberger, U (2014), Wien.
(17) Investiver Sozialstaat Wachstum, Beschäftigung und finanzielle Nachhaltigkeit Volkswirtschaftliche und fiskalische Effekte des Ausbaus der Kinderbetreuung in Österreich, AK Europa (2013), Brüssel bzw. Eurofound (Ref.: EF1344)).
(18) Vgl. The rate of return to the HighScope Perry Preschool Program, Journal of Public Economics , Heckman, J.J., et al. (2010), Vol. 94 (1-2), S. 114-128.
(19) COM(2013) 778 final.
(20) s. Fußnote 18.
(21) Junge Menschen und NEETs in Europa: Erste Ergebnisse, Eurofound (EF1172EN).
(22) Why invest in employment? A study on the cost of unemployment, Brüssel, Idea Consult (2012).
(23) ABl. C 376, vom 22.12.2011, S. 74.
(24) EP-Entschließung vom 11.6.2013 (2012/2293(INI)), ABl. C 9 vom 11.1.2012, S. 4.
(25) EP-Entschließung zur Kommissionsmitteilung zu den Sozialinvestitionen (PE508.296v01-00).
(26) s. u. a. TEN/515 „Accessibility as a human right“ (noch nicht publiziert) und ABl. C 44 vom 15.02.2013, S. 28.
(27) s. Fußnote 3.
(28) ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 91.
(29) Vgl. ABl. C 133 vom 9.5.2013, S.77, Ziffer 3.2.4.
(30) Vgl. ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 94, Ziffer 4.3.
(31) Vgl. ABl. C 143 vom 22.5.2012, S. 23, Ziffer 6.1.3.1.
(32) Vgl. Europäische Kommission, Social Agenda, Mai 2013, S. 15.
(33) s. Fußnote 27.