15.11.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 351/21


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Beseitigung der häuslichen Gewalt gegen Frauen“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 351/05

Berichterstatter: Mário SOARES

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 24. Mai 2012, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Beseitigung der häuslichen Gewalt gegen Frauen“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 3. September 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 483. Plenartagung am 18./19. September 2012 (Sitzung vom 18. September) mit 138 Stimmen gegen 3 Stimmen bei 7 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Bereits 2006 machte der EWSA in seiner Stellungnahme zum Thema häusliche Gewalt gegen Frauen (1) deutlich, dass die Zivilgesellschaft dieses Problem mit Sorge betrachtet. Die seinerzeit ausgesprochenen Empfehlungen haben nach wie vor Gültigkeit und sollen daher in dieser Stellungnahme nicht wiederholt werden.

1.2

Der EWSA ist sich als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft dessen bewusst, dass die geschlechtsspezifische Gewalt und damit auch die häusliche Gewalt uns alle angeht, und bekräftigt seine Entschlossenheit, diese Geißel der Gesellschaft mit allen Mitteln zu bekämpfen; er erwägt u.a., im zweijährigen Abstand eine Debatte über diese Problematik durchzuführen.

1.3

Der EWSA empfiehlt den Institutionen und den Mitgliedstaaten der EU:

1.3.1

Menschenrechte: geschlechtsspezifische Gewalt im häuslichen Umfeld als Frage der Menschenrechte zu behandeln, um einen ganzheitlichen und bereichsübergreifenden Ansatz für diese Problematik zu ermöglichen;

1.3.2

Sicherheits- und Risikoparadigma: einen Paradigmenwechsel in den Fragen der Sicherheit und Gefährdung anzustreben, um stärker ins Bewusstsein zu rücken, dass die häusliche Gewalt gegen Frauen kein individuelles, isoliertes Problem ist, das in die Privatsphäre fällt, sondern eine Frage der öffentlichen Sicherheit und Ordnung;

1.3.3

Prävention: durch die Schaffung interdisziplinärer Hilfseinrichtungen, die mit entsprechenden Mitteln und Fachkräften ausgestattet werden, und durch ministerienübergreifende Aktionspläne zur Einbindung von Männern und Jugendlichen in die Strategien zur Beseitigung der häuslichen Gewalt eine Politik zur Prävention von häuslicher Gewalt zu betreiben;

1.3.4

Schutzmaßnahmen: für Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, prioritären Zugang zu Wohnraum, wirtschaftlicher Unterstützung, Ausbildung sowie einer menschenwürdigen Arbeit zu gewährleisten, für die der Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" gilt;

1.3.5

Vereinheitlichung der statistischen Kriterien: die Vereinheitlichung der Kriterien für die Erfassung von geschlechtsspezifischer Gewalt fortzusetzen, damit die erhobenen Daten miteinander vergleichbar sind;

1.3.6

Bildung: sicherzustellen, dass die Bildung zu einem Umdenken beiträgt, indem u.a. echte Koedukationsprogramme durchgeführt werden, der sexistische Sprachgebrauch in den Lehrbüchern aufgegeben wird und die Problematik der geschlechtsspezifischen Gewalt, u.a. auch im häuslichen Bereich, in die Aus- und Weiterbildung der Lehrer aufgenommen wird;

1.3.7

Kommunikationsmittel: die wirksame Einhaltung der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (2) zu gewährleisten, um das negative Frauenbild auszuräumen, das in den Medien und insbesondere in der Werbung vermittelt wird;

1.3.8

Gesundheit: das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass häusliche Gewalt gegen Frauen ein Risikofaktor für die Gesundheit ist;

1.3.9

Mitverantwortung: Maßnahmen zur Förderung der gemeinsamen Verantwortung von Männern und Frauen bei der Betreuung von Kindern, älteren Angehörigen oder Angehörigen mit besonderen Bedürfnissen zu verstärken und zu unterstützen;

1.3.10

Zivilgesellschaftliche Organisationen: Hilfsorganisationen für Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, zu unterstützen und Sensibilisierungs-/Bildungsmaßnahmen zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt zu fördern;

1.3.11

Europäisches Jahr zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt: der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt ein Europäisches Jahr zu widmen;

1.3.12

Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt: Der EWSA ruft die Europäische Union und alle Mitgliedstaaten auf, dieses vom Europarat 2011 angenommene Übereinkommen zu unterzeichnen, zu ratifizieren und umzusetzen.

2.   Einleitung

2.1

Jede Form der Gewalt gegen einen Menschen ist ein Angriff auf seine Würde und seine körperliche und seelische Unversehrtheit sowie ein Verstoß gegen die Menschenrechte und die Grundsätze einer demokratischen Gesellschaft.

2.2

Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die Rechte ihrer Bürger zu wahren, zu schützen und zu fördern, und müssen daher erhebliche öffentliche Mittel in entsprechende Dienstleistungen und fachlich geschultes Personal investieren, um dieser Verpflichtung nachzukommen.

2.3

Gewalt in der Öffentlichkeit ist gesellschaftlich geächtet, und staatliche Maßnahmen zur Abschreckung und Bestrafung derjenigen, die sie ausüben, werden von der Gesellschaft unterstützt.

2.4

Es gibt jedoch noch eine andere, häufig totgeschwiegene Form der Gewalt, die hinter verschlossenen Türen stattfindet und die Opfer vielleicht noch grausamer verletzt: die häusliche Gewalt. Alle Mitglieder einer Familie können vorübergehend oder fortgesetzt Opfer unterschiedlicher Formen von Gewalt werden, die zum Tode führen kann.

2.5

Sie alle verdienen Beachtung, Sorge und Hilfe seitens der Behörden, aber in Wahrheit sind die Frauen die am häufigsten betroffene Gruppe – Gewalt im häuslichen Umfeld ist eine der Haupttodesursachen bei Frauen. Diese Stellungnahme konzentriert sich daher auf die häusliche Gewalt gegen Frauen.

2.6

Die Europäische Union definiert Gewalt gegen Frauen als "jeden Akt der Gewalt gegen Frauen, der physische, sexuelle oder psychologische Schäden oder Leiden bei Frauen verursacht oder verursachen kann, einschließlich der Androhung solcher Gewaltakte, von Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsberaubung, ob im öffentlichen oder im Privatleben" (3).

2.7

Trotz der jahrzehntelangen Bemühungen von Behörden und verschiedenen – organisierten und auch nichtorganisierten – Kreisen der Gesellschaft wird diese Form der Gewalt nach wie vor als ein privates Problem betrachtet, obwohl es sich in Wirklichkeit um ein öffentliches Problem handelt.

2.8

Häusliche Gewalt ist ein Verbrechen und muss gesetzlich unter Strafe gestellt werden. Der EWSA erkennt die Bemühungen einiger EU-Mitgliedstaaten an, die Täter härter zu bestrafen. Es müssen aber auch die tieferen Ursachen dieses Phänomens erforscht und Strategien zu seiner Überwindung, u.a. auch durch ein besseres Verständnis dieses Phänomens aufseiten der Männer, aufgezeigt werden.

2.9

Gleichzeitig wird die Sozialpolitik in vielen EU-Mitgliedstaaten durch die Wirtschaftskrise erheblich beeinträchtigt. Grundlegende öffentliche Dienstleistungen wie Gesundheitsfürsorge, Bildung und soziale Dienste werden zu einem Zeitpunkt zurückgefahren, zu dem die Familien und insbesondere die Frauen am dringendsten auf sie angewiesen sind. Hilfsdienste speziell für Frauen werden eingestellt, Frauenhäuser geschlossen, die Haushaltsmittel für nationale Gleichstellungsstellen gekürzt, Präventionsvorhaben und Informationskampagnen gestrichen usw.

2.10

Das Fortbestehen von Geschlechterstereotypen und einer patriarchalischen Gesellschaft in Verbindung mit der wirtschaftlichen Benachteiligung und der Diskriminierung von Frauen in Bereichen wie Beschäftigung, Entlohnung oder Zugang zu anderen wirtschaftlichen Ressourcen wie auch die fehlende wirtschaftliche Unabhängigkeit schränken die Handlungsfähigkeit von Frauen ein und erhöhen ihre Gefährdung durch häusliche Gewalt.

2.11

Die gegenwärtige Wirtschaftskrise und die vermeintlich zu ihrer Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen wie auch die Liberalisierung der Wirtschaft und die Privatisierung des öffentlichen Sektors verstärken nicht nur die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, sondern führen auch zu einer Zunahme der Ungleichheiten und damit zur Verschärfung der Bedingungen, unter denen Gewalt entsteht.

2.12

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) (4) hat festgestellt, dass sich die Globalisierung negativ auf die sozialen Strukturen auswirkt. Eine ungeregelte Globalisierung kann zu verschärften Formen der Gewalt gegen Frauen führen, u.a. auch in Form von Menschenhandel.

2.13

Frauen, die Minderheiten angehören, einen Migrationshintergrund haben, von Armut betroffen sind und in ländlichen oder abgelegenen Gemeinschaften leben, inhaftiert sind, sich in Einrichtungen aufhalten oder körperlich oder geistig behindert sind, haben ebenso wie ältere Frauen ein erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden.

2.14

In dieser Stellungnahme soll versucht werden, eine Bilanz der häuslichen Gewalt gegen Frauen in Europa zu ziehen, einen Gesamtüberblick über die ergriffenen Maßnahmen zu geben und das gesellschaftliche Bewusstsein für dieses Problem zu schärfen.

2.15

Der EWSA als Stimme der organisierten Zivilgesellschaft erklärt sich bereit, gemeinsam mit in diesem Bereich aktiven Organisationen ein Diskussionsforum zu schaffen, um Vorschläge zur Beseitigung der häuslichen Gewalt zu erörtern und bewährte Verfahren für wirksame Präventivmaßnahmen auszutauschen.

3.   Das Europaratsübereinkommen muss ratifiziert und eingehalten werden

3.1

Der Europarat nahm 2011 ein Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt an (5). Es handelt sich dabei um das erste international verbindliche Rechtsinstrument, mit dem ein umfassender rechtlicher Rahmen mit dem Ziel geschaffen wird, Gewalt zu verhüten, die Opfer zu schützen und die Täter zu verurteilen. Darin wird mehr Gleichheit zwischen Frauen und Männern angemahnt, da Gewalt gegen Frauen tief in der geschlechtsbedingten Ungleichbehandlung verwurzelt ist und aufgrund einer patriarchalisch geprägten Kultur, in der diese Realität schlicht ignoriert wird, fortbestehen kann.

3.2

In diesem Übereinkommen werden alle Formen der Gewalt (körperliche und psychische Gewalt, sexuelle Belästigung, Zwangsheirat, Genitalverstümmelung bei Frauen und Mädchen, Belästigung, Zwangssterilisierung und Zwangsabtreibung) berücksichtigt, ungeachtet des Alters, der ethnischen oder nationalen Herkunft, der Religionszugehörigkeit, der sozialen Herkunft, des Migrantenstatus oder der sexuellen Ausrichtung des Opfers.

3.3

Bislang wurde dieses Übereinkommen lediglich von einem Land ratifiziert (6) und von 20 Ländern unterzeichnet (7), von einigen unter Vorbehalt (Deutschland, Serbien und Malta). Der EWSA appelliert an die Europäische Union und alle Mitgliedstaaten, das Übereinkommen von Istanbul so schnell wie möglich zu unterzeichnen, zu ratifizieren und umzusetzen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1

45 % der Frauen in der EU geben an, schon einmal Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt geworden zu sein. Zwischen 40 und 45 % waren nach eigenen Angaben sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ausgesetzt. Pro Tag sterben in Europa schätzungsweise sieben Frauen an den Folgen geschlechtsspezifischer Gewalt (8).

4.2

Von großer Bedeutung sind auch die wirtschaftlichen Auswirkungen: Schätzungen zufolge verursacht die Gewalt gegen Frauen in den 47 Mitgliedstaaten des Europarats jährliche Kosten in Höhe von mindestens 32 Mrd. EUR.

4.3

Laut einer Eurobarometer-Umfrage aus 2010 handelt es sich hierbei um ein weithin bekanntes (98 % der Befragten) und häufig auftretendes Phänomen (25 % der Befragten geben an, eine Frau zu kennen, die Opfer häuslicher Gewalt wurde, und 20 % kennen einen Täter).

4.4

Bereits 1980 wurde auf der Zweiten UN-Weltfrauenkonferenz festgestellt, dass Gewalt gegen Frauen weltweit dasjenige Verbrechen ist, das am häufigsten totgeschwiegen wird. Dreizehn Jahre später wurden auf der UN-Weltkonferenz über Menschenrechte in Wien die Rechte von Frauen als Menschenrechte anerkannt. Die EU-Mitgliedstaaten verpflichteten sich zur Einhaltung der grundlegenden Ziele der Aktionsplattform von Peking von 1995.

4.5

Laut der Schlusserklärung des zweiten Europäischen Gipfeltreffens "Women in Power" (Frauen in Führungspositionen) (Cadiz, März 2010) (9), an dem 25 Ministerinnen und zahlreiche weitere Spitzenpolitikerinnen aus der ganzen EU teilnahmen, ist die Geschlechtergleichstellung immer noch nicht Realität und Gewalt gegen Frauen ein nach wie vor ungelöstes Problem, das eine schwere Menschenrechtsverletzung darstellt. In der Erklärung wird bekräftigt, dass sexistische Stereotype weiterhin zu Diskriminierung führen, und vor einer Wiederholung sexistischer Verhaltensweisen bei den jüngeren Generationen gewarnt.

4.6

Die EU-Organe haben verschiedene Analyse- und Aktionspapiere vorgelegt, u.a.:

4.6.1

Europäischer Rat:

Schlussfolgerungen zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen in der Europäischen Union (8. März 2010), in denen der Rat die Kommission und die Mitgliedstaaten aufruft, die Bemühungen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen fortzusetzen und für deren Finanzierung zu sorgen.

4.6.2

Europäisches Parlament:

Entschließung zu den Prioritäten und Grundzügen einer neuen EU-Politik zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (2011).

Im September 2011 befürwortete das Europäische Parlament die Einführung der Europäischen Schutzanordnung für die Opfer von geschlechterbezogener Gewalt, Belästigung, Entführung, Stalking oder Mordversuchen. Dies war ein wichtiger Schritt hin zu einem europaweiten Opferschutz ohne Grenzen.

4.6.3

Europäische Kommission:

Charta für Frauen (2009), Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms (2010), Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2010-2015.

Diverse Studien über Gewalt gegen Frauen zur Verbesserung des diesbezüglichen Kenntnisstands.

Am 18. Mai 2011 Annahme eines Pakets von Vorschlägen zur Stärkung der Opferrechte (horizontale Richtlinie mit Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten; Verordnung über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen).

Finanzierung von speziellen Programmen wie Daphne III sowie von europäischen Organisationen zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen (Europäisches Frauenforum).

4.7

Die Mitgliedstaaten haben ihrerseits – wenn auch nicht alle – entsprechende Rechtsvorschriften geschaffen, um häusliche Gewalt unter Strafe zu stellen, drastischere Maßnahmen gegen die Täter zu ergreifen, häusliche Gewalt als von Amts wegen verfolgte Straftat einzustufen usw.

4.8

Obgleich auf nationaler und europäischer Ebene verlässliche und vergleichbare Statistiken über häusliche Gewalt fehlen, sind die vorliegenden Zahlen doch so alarmierend, dass hinsichtlich des Ausmaßes des Problems kein Zweifel besteht (10).

4.9

Trotz der vorliegenden Zahlen und der Schaffung strengerer Rechtsvorschriften herrscht in der Bevölkerung weiterhin die allgemeine Wahrnehmung vor, dass wir in einer egalitären Gesellschaft leben, wodurch die Debatte nicht nur über häusliche Gewalt, sondern auch über andere Formen der Gewalt und der Ungleichheit zwischen Frauen und Männern in puncto Entlohnung, beruflicher Aufstieg usw. verfälscht werden kann.

4.10

Eine dabei vergessene, weil in der Außenwelt nicht wahrgenommene Erscheinungsform von Gewalt ist die psychische Gewalt. Es ist an der Zeit, das Schweigen zu brechen und anzuerkennen, dass psychische Gewalt eine Menschenrechtsverletzung ist und in die Rechtsvorschriften über die geschlechtsspezifische Gewalt aufgenommen werden muss.

4.11

Frauen, die psychische Gewalt überlebt haben, sind häufig für den Rest ihres Lebens schwer traumatisiert und benötigen eine ganzheitliche multidisziplinäre Hilfe in einem sicheren Rehabilitationsumfeld. Da sie gezwungen waren, in völliger sozialer Isolation zu leben, und keine greifbaren Beweise für die Gewalt vorweisen können, befürchten sie, dass ihnen niemand glauben wird. Die Rehabilitation erfordert daher vor allem, dass diejenigen, die ihnen helfen sollen, ihnen glauben.

4.12

Häusliche Gewalt hat nicht nur Auswirkungen unmittelbar auf das Opfer selbst, sondern auch auf alle, die dabei Zeuge werden oder darüber Bescheid wissen. Besonders stark trifft sie die Kinder, die aufgrund ihrer emotionalen Verletzlichkeit besonders empfänglich für solche Eindrücke sind, die ein Leben lang nachwirken können.

4.13

Zwar beschränken sich die Straftaten im häuslichen Umfeld keineswegs auf Übergriffe gegen Frauen, aber es stellt sich die Frage, weshalb andere im häuslichen Bereich begangene Straftaten – wie z.B. Pädophilie, wo in 90 % der Fälle Familienangehörige die Täter sind – als abstoßend eingestuft werden, während bei häuslicher Gewalt noch Ursachenforschung bezüglich der Auslöser der Aggression betrieben wird.

5.   Besondere Bemerkungen und Vorschläge für Maßnahmen

5.1

Es stellt sich die grundlegende Frage, weshalb solche Vergehen häufig in der Gesellschaft entschuldigt werden oder der Grund für die Gewalt bei der misshandelten Frau gesucht wird. Die häufig ins Feld geführten sozialen und kulturellen Gründe sind nicht nur falsch, sondern führen auch zur Beibehaltung des Status quo.

5.2

Die Vorstellung, dass häusliche Gewalt ihre Ursachen in einer veralteten Kultur und Tradition hat, stützt sich auf die irrige Annahme, dass es sich bei Kultur um eine unveränderliche Gesamtheit von Überzeugungen und Praktiken handelt. Kultur unterliegt jedoch einem ständigen Prozess des Entstehens und der Veränderung. Gerade weil Kultur ein heterogenes Gebilde ist und konkurrierende Werte in sich vereint, kann sie sich weiterentwickeln.

5.3

Kultur hängt eng mit der Ausübung von Macht zusammen: Es gelten die Gesetze und Werte derjenigen, die Macht und Einfluss haben.

5.4

Auch die Frauen sind Träger von Kultur und beeinflussen die Kultur, in der sie leben. Ihre gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe ist von entscheidender Bedeutung, um eine Änderung derjenigen Denkweisen, Sitten und Gebräuche zu bewirken, die dem Bild und der Lage der Frau abträglich sind.

5.5

Es muss daher über die Unterrepräsentation der Frauen auf den verschiedenen Ebenen der Macht nachgedacht werden. Solange dieses Problem nicht zur Genüge gelöst ist und die Frauen wirtschaftlich, sozial und politisch nicht so vertreten sind, wie es ihnen aufgrund ihrer Zahl und ihrer Fähigkeiten zusteht, wird auch das Problem der Gewalt gegen Frauen nur schwer oder nicht schnell genug zu lösen sein. Politische Maßnahmen gegen die geschlechterspezifische Gewalt sind zwar wichtig, aber nur durch den paritätischen Zugang der Frauen zur Macht lässt sich das traditionelle Rollenbild der Frau in der Gesellschaft ändern.

5.6

Die geschlechtsspezifischen Identifikationsmodelle, nach denen über die Jahrhunderte hinweg Passivität, Hingabe und Unterwerfung als weibliche Tugenden und Aggressivität, Stärke und Tatkraft als männliche Tugenden galten, hatten ein Konzept der Liebesbeziehung zur Folge, das der Frau jahrhundertelang eine Position der Unterlegenheit und Abhängigkeit zuwies.

5.7

Beziehungen auf der Basis von Identifikationsmodellen, die voraussetzen, dass sich ein Individuum einem anderen unterwirft, sind nicht mehr hinnehmbar; Männer und Frauen müssen sich daher fragen, wie sie zu diesen Modellen stehen. Diese Hinterfragung muss sich auf das Bekenntnis zu Werten wie Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung stützen.

5.8

Bei Femizid (11) haben die Opfer vielfach bereits zuvor Anzeige wegen Gewalttätigkeiten oder Drohungen erstattet. Dies zeigt, wie wichtig Prävention ist. In allzu vielen Fällen werden keine Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz des Opfers vor dem Täter ergriffen.

5.9

Die Prävention kann und muss Folgendes einschließen:

eine Therapie des Täters oder des potenziellen Täters. Es geht nicht darum, nach einer Rechtfertigung bzw. mildernden Umständen für die Gewalttätigkeit zu suchen oder das Opfer unkontrollierten Situationen auszusetzen, sondern darum, an den Ursachen zu arbeiten und beim Täter eine Verhaltensänderung zu bewirken, was für alle Beteiligten von Nutzen ist;

die Auflegung ministerienübergreifender Aktionspläne für die Früherkennung und Prävention über ein Verweis- und Informationssystem im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen;

die Einbeziehung von Männern und Jungen in Strategien zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen;

die Einbindung junger Menschen mittels einer Aufklärungskampagne für einen ganzheitlichen Ansatz für die Prävention und Frühintervention sowie eine bessere Ausbildung der unmittelbar mit jungen Menschen arbeitenden Berufsgruppen;

die Überwachung im Falle der Trennung von Paaren aufgrund von häuslicher Gewalt, um die Frauen zu schützen, die von Belästigung oder Nachstellung bedroht sind, die häufig tödlich enden.

5.10

Einrichtungen, die auf den Schutz von Opfern häuslicher Gewalt spezialisiert sind, müssen mit speziell dafür ausgebildetem Personal und entsprechenden Mitteln ausgestattet werden, die die Einhaltung der beschlossenen Maßnahmen gewährleisten, da diese ansonsten nicht greifen.

5.11

Es müssen multidisziplinäre Hilfseinrichtungen geschaffen werden, in denen man den Frauen zuhört, sie versteht und ihnen glaubt. Bei dem Phänomen der häuslichen Gewalt spielen psychologische, kulturelle und religiöse Faktoren und seit Jahrhunden tief verwurzelte Gewohnheiten zusammen. Man kann das Problem nicht auf eine einzige Ursache zurückführen und nicht allein mit polizeilichen und strafrechtlichen Mitteln bekämpfen. Ein grundlegendes Element für ihre Bekämpfung ist eine koordinierte multidisziplinäre Hilfe, mit der verhindert wird, dass eine Frau wiederholt Gewalt ausgesetzt ist. Besondere Aufmerksamkeit muss Frauen mit Behinderung und Frauen mit Migrationshintergrund geschenkt werden, da diese stärker gefährdet sind. Derartige Hilfseinrichtungen müssen sich auch systematisch um die indirekt betroffenen Opfer von Gewalt kümmern, insbesondere Kinder.

5.12

Beim Sicherheitsparadigma ist ein Umdenken erforderlich – es wird zu sehr mit organisiertem Verbrechen, Terrorismus, Angriffen auf Personen und Sachen oder Drogenhandel in Verbindung gebracht, aber fast nie mit den Gefahren, denen viele Frauen zu Hause oder am Arbeitsplatz ausgesetzt sein können. Wenn bei der Sicherheit weitere Kriterien einbezogen worden wären, bei denen Menschenwürde und vor allem auch Prävention im Vordergrund stehen, hätten viele Menschenleben gerettet werden können. Die neuen Technologien ermöglichen einen verbesserten Schutz, z.B. durch elektronische Fußfesseln, die bei Bestehen eines Kontaktverbots dafür sorgen, dass sich ein auf freiem Fuß befindlicher Täter seinem Opfer nicht nähert.

5.13

Da das Phänomen der häuslichen Gewalt in den Statistiken nicht genau erfasst wird, ist es nicht möglich, das tatsächliche Ausmaß des Problems zu bestimmen. Die Kriterien für die Erfassung von häuslicher Gewalt müssen daher dringend vereinheitlicht werden, damit die Daten auf europäischer Ebene vergleichbar sind.

5.14

Die Regierungen müssen die Arbeit der in diesem Bereich tätigen zivilgesellschaftlichen Organisationen (Frauenverbände, Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften usw.) aufwerten und – auch finanziell – unterstützen, ohne diese kontrollieren oder ihre Unabhängigkeit beschneiden zu wollen.

5.15

Ein besonders wichtiger Bereich ist die Bildung. Sie entscheidet darüber, ob diskriminierende Modelle und Praktiken weiterbestehen können oder ob auf individueller und kollektiver Ebene ein Umdenken und eine Verhaltensänderung in Gang gesetzt wird. Die Schule muss eine nicht-sexistische, koedukative Bildung fördern, die auf Gleichberechtigung und Chancengleichheit basiert, die volle persönliche Entfaltung frei von Geschlechterstereotypen und Geschlechterrollen anstrebt und jeglicher Diskriminierung zu Lasten der Frauen eine Absage erteilt. Die Schule kann als Instrument dienen, um das stereotype Männer- und Frauenbild aufzubrechen, das in den Medien generell verbreitet wird. Die Schule eignet sich bestens als Beobachtungsstelle für geschlechterspezifische Gewalt.

5.16

Damit die Schule diese positive Rolle spielen kann, muss die Problematik der geschlechtsspezifischen Gewalt, u.a. auch der Gewalt im häuslichen Bereich, in die Aus- und Weiterbildung der Lehrer aufgenommen werden. Eine regelmäßige Überprüfung der Lehrpläne und Lehrbücher muss gängige Praxis werden, um jede Art sexistischen Sprachgebrauchs auszumerzen.

5.17

Von entscheidender Bedeutung ist auch das Gesundheitswesen. Durch gezielte gesundheitspolitische Strategien für Frauen und Heranwachsende kann das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass häusliche Gewalt gegen Frauen kein isoliertes Problem, sondern ein Risikofaktor ist.

5.18

Die Verfahren für die Erfassung und Weitermeldung müssen regelmäßig und systematisch überprüft werden, wobei Lösungen, die bürokratischen Aufwand verursachen und weder flexibel noch nachhaltig sind, zu vermeiden sind. Diese Verfahren müssen es ermöglichen, dieses Problem als einen Risikofaktor für die Gesundheit zu erfassen (z.B. bei Beratungsgesprächen für die Familienplanung oder Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen), und zugleich die Erfordernisse im städtischen und ländlichen Bereich klar differenzieren.

5.19

In allen Bereichen, die die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt betreffen, muss für eine wirksame und realitätsnahe Sensibilisierung und Ausbildung gesorgt werden. Hierfür müssen die notwendigen Mittel bereitgestellt und regelmäßige Kartierungen (mapping) durchgeführt werden, um zu gewährleisten, dass die vermittelten Informationen der Realität entsprechen.

5.20

Was den Bereich Sensibilisierung und Ausbildung angeht, muss differenziert werden zwischen Sensibilisierung (die sich an das gesamte Personal der betreffenden Einrichtung richtet), Schulung (für alle, die Kontakt zu Opfern haben und zur Aufdeckung von Problemfällen beitragen können) und Spezialausbildung (die alle erhalten müssen, die Opfer betreuen). Der Ausbildung von Polizisten und Richtern muss aufgrund der Rolle, die sie bei der Aufnahme der Strafanzeigen und der Verurteilung der Täter spielen, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Durch die Art, wie sie vorgehen, können sie dazu beitragen, dass aus einer traumatisierenden Erfahrung neue Hoffnung erwächst. Außerdem müssen die Strafvollzugsanstalten interne Programme für die weiblichen Überlebenden und die männlichen Täter geschlechtsspezifischer Gewalt entwickeln, und in der gesamten EU muss das Bewusstsein des Strafvollzugspersonals für diese Problematik geschärft werden.

5.21

Durch die Einstufung von häuslicher Gewalt gegen Frauen als Frage der Menschenrechte schließlich können die Mitgliedstaaten stärker in die Pflicht genommen werden, was die Prävention, Beseitigung und Verfolgung dieser Form von Gewalt angeht, und besser zur Rechenschaft über die Erfüllung ihrer diesbezüglichen Verpflichtungen gezogen werden.

5.22

Indem der Bezug zwischen geschlechtsspezifischer Gewalt und den Menschenrechten hergestellt wird, greift ein wichtiges Instrumentarium, um mithilfe der Menschenrechtsvertragsorgane, der internationalen Gerichtshöfe sowie des europäischen Systems zur Wahrung der Menschenrechte (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte als Instrument des Europarats) die Mitgliedstaaten auf internationaler und europäischer Ebene in die Pflicht zu nehmen.

5.23

Die Behandlung der Gewalt gegen Frauen als eine Frage der Menschenrechte gewährleistet einen ganzheitlichen, bereichsübergreifenden Ansatz, durch den die in sämtlichen Bereichen geleistete Arbeit eine Menschenrechtsdimension erhält. Dies zwingt uns, Initiativen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in allen Bereichen zu verstärken und voranzutreiben, u.a. in der Justiz und im Gesundheitswesen, in der lokalen und regionalen Entwicklungspolitik und bei der humanitären Hilfe.

Brüssel, den 18. September 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  ABl. C 110 vom 9.5.2006, S. 89.

(2)  Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010.

(3)  http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/16173.de08.pdf.

(4)  "WHO Multi-Country Study on Women’s Health and Domestic Violence Against Women: Initial Results on Prevalence, Health Outcomes and Women’s Responses" (WHO, Genf, 2005).

(5)  Übereinkommen des Europarats, am 11. Mai 2011 in Istanbul (Türkei) angenommen (http://www.coe.int/t/dghl/standardsetting/convention-violence/texts/Convention%20210%20German%20version%20&%20explanatory%20report.pdf).

(6)  Türkei.

(7)  Albanien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Island, Luxemburg, Malta, ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Montenegro, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Serbien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Ukraine und Vereinigtes Königreich.

(8)  Barometer 2011, "National Action Plan on Violence against Women in the EU", European Women’s Lobby (Europäisches Frauenforum), August 2011 (www.womenlobby.org).

(9)  http://www.igualdad.us.es/pdf/Docuemta_Otros_Cumbre.pdf.

(10)  Siehe Bericht "Bekämpfung von Ehrenverbrechen in Europa", vorgelegt am 8. März 2012 anlässlich des Weltfrauentags von Fondation SURGIR (gemeinnützige Stiftung mit Sitz in der Schweiz).

(11)  Nach der Definition der Vereinten Nationen bezeichnet "Femizid" die Tötung einer Frau einzig und allein aufgrund der Tatsache, dass sie eine Frau ist. Femizid wurde festgelegt als fortgesetzte Gewalt gegen eine Frau innerhalb oder außerhalb der Familie, die zu ihrem Tod führt. Untersuchungen zum Femizid in den verschiedenen Ländern belegen, dass diese Verbrechen am häufigsten im privaten Bereich bei intimen Beziehungen auftreten.