6.3.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 68/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Postsekundäre berufliche Aus- und Weiterbildung als attraktive Alternative zur Hochschulbildung“ (Initiativstellungnahme)

2012/C 68/01

Berichterstatterin: Vladimíra DRBALOVÁ

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 20. Januar 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Postsekundäre berufliche Aus- und Weiterbildung als attraktive Alternative zur Hochschulbildung“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 16. Dezember 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 477. Plenartagung am 18./19. Januar 2012 (Sitzung vom 19. Januar) mit 208 gegen 7 Stimmen bei 10 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Vorschläge

Empfehlungen an die Europäische Kommission

1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ersucht die Europäische Kommission, die Mitgliedstaaten dazu aufzurufen, die im Kommuniqué von Brügge festgelegten kurz- und langfristigen Ziele umzusetzen und die Qualität und Wirksamkeit der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu verbessern und sie dadurch attraktiver und bedeutsamer zu machen. Die Sozialpartner sämtlicher Ebenen müssen weiterhin aktiv im Kopenhagen-Prozess mitwirken und zur Umsetzung der kurzfristigen Ziele beitragen.

1.2   Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, den Bologna-Prozess und den Kopenhagen-Prozess in einem integrierten Ansatz zusammenzuführen. Diese Synergie wird dazu beitragen, Menschen mit den Fähigkeiten auszustatten, die sie brauchen, um ihr Entwicklungspotenzial zu entfalten und ihre Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern.

1.3   Nach Meinung des EWSA muss die Europäische Kommission ein Podium für fundierte statistische Aussagen über die Lage in den einzelnen Mitgliedstaaten sein, und sie sollte eine Plattform für den Austausch bewährter Verfahren schaffen.

1.4   Der Ausschuss begrüßt die Anstrengungen der Kommission zur Einführung neuer Instrumente und zum Anstoß neuer Initiativen. Zuvor jedoch ist eine Bewertung des Bestands dringend erforderlich, um die Doppelung von Instrumenten zu vermeiden und sicherzustellen, dass die bestehenden Programme und Strategien richtig und in vollem Umfang umgesetzt werden.

Empfehlungen an die Mitgliedstaaten

1.5   Den Prozentsatz junger Leute, die ein Hochschulstudium aufnehmen, als einzigen Indikator festzulegen, ist ein bildungspolitischer Irrweg, da dies für die auf dem Arbeitsmarkt nachfragten Kompetenzen nur bedingt von Bedeutung ist. Zwischen den Systemen der allgemeinen und beruflichen Bildung muss ein ausgewogenes Verhältnis hergestellt werden.

1.6   Die Mitgliedstaaten sollten das Kommuniqué von Brügge und den Kopenhagen-Prozess wirksam umsetzen und ihren Beitrag zur Erreichung des Kernziels der EU leisten, eine Absolventenquote in Hochschulen oder vergleichbaren Einrichtungen von 40 % zu erzielen. Hierzu gehört auch ein höheres Maß an Berufsbildung.

1.7   Die Mitgliedstaaten müssen sowohl für Unternehmen (insbesondere KMU) als auch für Kleinst- und Handwerksunternehmen entsprechende finanzielle und sonstige Anreize schaffen, um die berufliche Erstausbildung und die berufliche Aus- und Weiterbildung attraktiver zu gestalten, die Privatwirtschaft zu mobilisieren und die Bildungseinrichtungen zur Zusammenarbeit mit den Unternehmen anzuregen.

1.8   Erforderlich sind umfangreiche Werbemaßnahmen zur systematischen Steigerung der gesellschaftlichen Anerkennung der postsekundären Berufsbildung.

1.9   Es müssen Beratungsdienste angeboten werden, die wirksamer und den Erfordernissen des Arbeitsmarktes und den Bedürfnissen der Jugendlichen besser angepasst sind, u.a. individuelle Beratungen für Menschen mit Behinderungen. Dringend nötig ist ein Weiterdenken unter Jugendlichen, deren Familien und den Beratern, die dazu neigen, im Besuch einer Hochschule den Schlüssel zur Beschäftigung zu sehen.

Empfehlungen an die Wirtschaftsverbände

1.10   Wirtschaftsverbände sollten gemeinsam mit anderen Sozialpartnern aktiv in die Informations- und Beratungssysteme einbezogen werden, da sie für die Bereitstellung von Informationen zu Berufsbildungsmöglichkeiten und Arbeitsmarktchancen von Relevanz sind. Sie sollten den Bildungsanbietern bei der Entwicklung von Verfahren für ein arbeitsintegriertes Lernen sowie neuer Verfahren zur Seite stehen.

1.11   Die Wirtschaftszweige und ihre Unternehmen müssen mehr Plätze für Lehrlingsausbildungen und innerbetriebliche Ausbildungen schaffen. Zudem sollten Beschäftigte dazu angeregt werden, ihr Wissen und ihre Erfahrung an Lehrlinge und intern Auszubildende weiterzugeben oder zeitweilig als Berufsschullehrer tätig zu werden.

Empfehlungen an die Bildungseinrichtungen

1.12   Die Bildungseinrichtungen müssen Vertrauen in die Zusammenarbeit mit Unternehmen entwickeln und erkennen, wie wichtig eine konstruktive Zusammenarbeit und extern gewonnene Erfahrungen sind.

1.13   Sie sollten enger mit den Industriezweigen zusammenarbeiten und eine breitere Palette an Methoden für ein arbeitsintegriertes Lernen entwickeln. Hier ist eine flexiblere Haltung zur Berufsbildung nötig.

1.14   Es muss gewährleistet werden, dass Lehrer und Ausbildende gut ausgebildet sind. Sie sollten mit den sich ändernden Bedürfnissen des Arbeitsumfeldes vertraut sein. Die Absolvierung von Praktika für Lehrer und Ausbildende in Unternehmen sollte unterstützt werden.

Empfehlungen an die Sozialpartner

1.15   Der EWSA fordert die Organisationen der Sozialpartner auf, sich ihrer Verantwortung zu stellen und bei diesem Prozess engagiert alle Möglichkeiten und Instrumente zu nutzen, um die postsekundäre Berufsbildung attraktiver zu machen, etwa durch branchenspezifische Beschäftigungs- und Kompetenzräte.

1.16   Sozialpartner auf allen Ebenen sollten auf eine ordnungsgemäße Umsetzung der in ihren gemeinsamen Arbeitsprogrammen eingegangenen Verpflichtungen achten und die Anwendung und Durchführung aller EU-Instrumente auf nationaler Ebene aus dem Bereich der Berufsbildung unterstützen.

Empfehlungen an die Bürgerinnen und Bürger und die Organisationen der Zivilgesellschaft

1.17   Den Bürgerinnen und Bürgern sollte bewusst gemacht werden, dass Hochschulbildung nicht zwangsläufig ein Garant für Beschäftigung ist und wirksame Alternativen in Betracht gezogen werden sollten. Sie müssen sich klarmachen, dass es in ihrer eigenen Verantwortung liegt, sich vor ihrer Studien- und Ausbildungswahl angemessen zu informieren. Schließlich sollten sie genügend Selbstvertrauen haben, sich für eine postsekundäre Berufsausbildung zu entscheiden.

1.18   Die Vorstellungen und Wünsche von Schülern und Studenten und die Erwartungen ihrer Familien sollten der Nachfrage seitens der Arbeitgeber gegenübergestellt werden. In Zukunft werden die Bürgerinnen und Bürger auf das neue EU-Kompetenzpanorama mit Vorhersagen zum Qualifikationsangebot und dem Arbeitskräftebedarf zurückgreifen können.

2.   Politische Rahmenbedingungen in Europa

2.1   Im Juni 2010 hat der Europäische Rat auf seinem Frühjahrsgipfel eine Europa 2020 genannte neue Strategie für Wachstum und Beschäftigung verabschiedet. Zu dieser Strategie gehören sieben Leitinitiativen und die Binnenmarktakte, ein Strategiepapier zur weiteren Stärkung des EU-Binnenmarktes.

2.2   Die wichtigste Leitinitiative, nämlich die „Agenda für neue Kompetenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten“ mit dem Ziel, die richtigen Kompetenzen für den Arbeitsmarkt bereitzustellen und die vorhandenen Kompetenzen auf die Erfordernisse des Arbeitsmarktes abzustimmen, schafft eine starke Synergie mit anderen Initiativen (z.B. Industriepolitik, Digitale Agenda, Innovationsunion, Jugend in Bewegung, Europäische Plattform gegen Armut usw.).

2.3   Die Europa-2020-Ziele werden auch durch den vorgeschlagenen mehrjährigen Finanzrahmen (MFR)  (1) unterstützt. Im Haushalt für Europa 2020 sind Investitionen in Europas Bildung vorgesehen, da die Beträge für allgemeine und berufliche Bildung, Forschung und Innovation erhöht wurden.

3.   Berufliche Aus- und Weiterbildung: aktuelle Fortschritte und Herausforderungen

3.1   Derzeit werden die Entwicklungen auf den europäischen Arbeitsmärkten von der Finanz- und Wirtschaftskrise, der Globalisierung, dem demografischen Druck, den neuen Technologien und vielen anderen Faktoren bestimmt.

3.2   Zu den fünf bereichsübergreifenden Zielen der Europa-2020-Strategie zählen auch die folgenden:

Es soll eine Erwerbsquote von 75 % in der Altersgruppe der 20- bis 64-Jährigen erreicht werden.

Im Bereich des Bildungsstandes soll das Problem der Schulabbrecher angegangen und die Schulabbrecherquote von derzeit 15 % auf 10 % reduziert werden.

Der Anteil der 30- bis 34-Jährigen mit abgeschlossenem Hochschulstudium oder einem gleichwertigen Abschluss soll von derzeit 31 % auf mindestens 40 % bis 2020 gesteigert werden.

3.3   Mit der Erklärung von Kopenhagen vom 29./30. November 2002 wurde der Grundstein für die europäische Strategie für eine verstärkte Zusammenarbeit in der beruflichen Aus- und Weiterbildung gelegt. Diese wird gemeinhin als „Kopenhagen-Prozess“ bezeichnet.

3.4   Am 12. Mai 2009 nahm der Rat einen strategischen Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung (VET 2020) an.

3.5   In der Mitteilung der Europäischen Kommission zum Thema „Ein neuer Impuls für die europäische Zusammenarbeit in der beruflichen Aus- und Weiterbildung zur Unterstützung der Strategie Europa 2020“ (2) werden die Kernelemente formuliert, die auf den Weg gebracht werden müssen, um den Kopenhagen-Prozess wieder anzukurbeln und die Schlüsselrolle der beruflichen Bildung im Bereich lebenslanges Lernen und Mobilität hervorzuheben.

3.6   Ein klares Bekenntnis hierzu haben die Bildungsminister der EU zusammen mit europäischen Sozialpartnern in dem im Dezember 2010 angenommenen Kommuniqué von Brügge abgelegt. Darin werden folgende Prioritäten für die Zusammenarbeit in der EU im Bereich der beruflichen Bildung bis 2020 überprüft und geordnet:

Ausbau der postsekundären beruflichen Bildung und der beruflichen Bildung auf höheren EQR-Niveaus;

Durchlässigkeit und flexible Übergänge zwischen beruflicher Bildung und Hochschulbildung;

Grundlagenpapier zur Rolle der beruflichen Exzellenz für intelligentes und nachhaltiges Wachstum.

3.7   Aufbauend auf dem Bekenntnis im Kommuniqué von Brügge erarbeitet die Europäische Kommission derzeit ein Exzellenz-Programm für berufliche Bildung, das sowohl auf die berufliche Erstausbildung als auch auf die Weiterbildung ausgerichtet ist. Das Verfahren soll mit den Schlussfolgerungen des Rates (Ende 2012) abgeschlossen werden.

4.   Faktische Grundlage einer verstärkten Zusammenarbeit in der Berufsbildung

4.1   Aus der Prognose des Europäischen Zentrums für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP) hinsichtlich der künftigen Qualifikationsanforderungen ist ersichtlich, dass die Nachfrage nach mittleren und hohen Qualifikationen bis 2020 steigt, während die Nachfrage nach Geringqualifizierten zurückgeht. Die Erwerbsbevölkerung in der EU umfasst derzeit jedoch noch immer 78 Mio. geringqualifizierte Arbeitnehmer.

4.2   Der vierte Bericht des CEDEFOP zur Berufsbildung und Bildungsforschung in Europa mit dem Titel „Modernisierung der beruflichen Bildung“ ist die faktische Grundlage für eine verstärkte Zusammenarbeit in der Berufsbildung. In ihm werden überdies Prioritäten für die Reform der beruflichen Bildung gesetzt, die einen Beitrag zur EU-Strategie für Wachstum und Beschäftigung leisten sollen.

4.3   Mit Blick auf die wachsende internationale Konkurrenz, das steigende Durchschnittsalter der Bevölkerung, den Druck auf den Arbeitsmarkt und die Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Europa ist eine Modernisierung der Berufsbildung dringend geboten.

4.4   CEDEFOP geht auch auf die Frage ein, wie das Ansehen der beruflichen Bildung verbessert und ihre Attraktivität gesteigert werden kann. Insgesamt ergibt sich aus der Analyse der mit der Attraktivität der beruflichen Bildung in der EU verknüpften Indikatoren ein negativer Eindruck. Die Forschung hat folgende Hauptfaktoren für die Attraktivität von Bildungswegen postuliert:

a)

Inhalt und Hintergrund der allgemeinen Bildung: Selektivität der Bildungswege, Ansehen der Bildungseinrichtungen, Laufbahnen oder Programme

b)

Bildungs- und Arbeitsmarktaussichten der Schüler/Studenten: Zugang zu weiterführender Bildung (insbesondere auf tertiärem Niveau), Beschäftigungsaussichten

c)

Wirtschaftliche Faktoren: finanzielle Unterstützung/Steueranreize oder Studiengebühren.

4.5   In seiner Veröffentlichung Eine Brücke in die Zukunft legt CEDEFOP sein Augenmerk auch auf die Fortschritte, die bei der Entwicklung und Umsetzung gemeinsamer europäischer Grundsätze (Beratung, Identifizierung und Validierung nichtformalen und informellen Lernens) und Instrumente (3) (EQR, ECVET, EQAVET, Europass) erzielt wurden. Mit diesen Grundsätzen und Instrumenten soll die Mobilität von Arbeitnehmern, Lernenden und Lehrenden innerhalb der verschiedenen Aus- und Weiterbildungsinstitutionen und zwischen den Ländern erhöht werden. Ihre Entwicklung und Umsetzung begünstigen die Entwicklung von Lernergebnissen in allen Arten und auf allen Ebenen der Aus- und Weiterbildung in Richtung des lebenslangen Lernens.

4.6   Der neue Forschungsbericht des CEDEFOP (4) zur beruflichen Aus- und Weiterbildung auf den höheren Qualifikationsniveaus in 13 Ländern und sechs Wirtschaftszweigen zeigt, dass die Ansichten und Konzepte der Berufsbildung und des EQR auf den Niveaus 6 bis 8 von den nationalen Gegebenheiten beeinflusst werden.

4.7   Die Europäische Stiftung für Berufsausbildung (ETF) hebt hervor, dass dringend Informationen zu den unterschiedlichen Berufszweigen bereitgestellt und evidenzbasierte Maßnahmen zur Verknüpfung des Bildungssektors mit den Berufszweigen ergriffen werden müssen. Um die Attraktivität der postsekundären Berufsbildung zu steigern, empfiehlt die Stiftung:

die Anerkennung der Abschlüsse durch eine enge Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft;

die Eingliederung der postsekundären Berufsbildung (oder höheren Berufsbildung) in den tertiären Bildungsbereich;

die Schaffung von Bildungsoptionen und Aufstiegsmöglichkeiten in Richtung des lebenslangen Lernens;

die Einrichtung internationaler Partnerschaften für höhere Berufsbildung;

eine Zusammensetzung der Bildung aus 20 % Vorlesungen, 40 % Tutorien und 40 % Übungen;

Lehrpersonal, das sich sowohl aus Dozenten und akademischen Mitarbeitern als auch aus Fachleuten aus der Wirtschaft zusammensetzt.

4.8   In einer von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen Studie zur Bestimmung und Untersuchung des künftigen Qualifikationsbedarfs aus Sicht der Kleinst- und Handwerksunternehmen (5) wird eine stärkere Aufnahme der künftigen Tendenzen und Entwicklungen des Qualifikationsbedarfs in die Ausbildungsprogramme empfohlen, als dies bisher der Fall ist. Außerdem müssten verstärkt berufsbezogene Lernprogramme und Möglichkeiten zur Anerkennung von informell angeeignetem praktischem Wissen geschaffen werden, auch auf europäischer Ebene.

4.9   Beim informellen OECD-Ministertreffen zum Thema Berufsbildung, das im Januar 2007 in Kopenhagen stattfand, wurde ein starker Anstieg des Stellenwertes der Berufsbildung festgestellt und daraufhin eine analytische Untersuchung begonnen, die 2010 mit dem Abschlussbericht „Lernen für die Arbeitswelt“ (6) abgeschlossen wurde. Ein Bericht zu den Folgemaßnahmen mit dem Schwerpunkt auf der postsekundären Berufsausbildung mit dem Titel „Skills beyond School“ (Fähigkeiten über die Schule hinaus) wurde Ende 2010 begonnen.

5.   Berufsbildung aus Sicht des Arbeitsmarktes

5.1   Aufgrund des demografischen Wandels und des prognostizierten steigenden Fachkräftebedarfs sieht sich die EU in manchen Branchen trotz der Wirtschaftskrise einer Abnahme der Erwerbsbevölkerung und einem Arbeitskräftemangel gegenüber.

5.2   Der strukturelle Fachkräftemangel in der EU ist eine Tatsache. Für Unternehmen in der EU sind die unmittelbaren Folgen dieses Mangels, dass sie Chancen auf Wachstum und Produktivitätssteigerungen verpassen. Der Fachkräftemangel wird in den kommenden Jahren eines der Haupthindernisse für das Wirtschaftswachstum sein.

5.3   Die Gestaltung umweltgerechterer Arbeitsplätze und die Entfaltung der Seniorenwirtschaft („silbernen Wirtschaft“), insbesondere der Sozial- und Gesundheitsfürsorgedienste, schafft Möglichkeiten für neue, gute Arbeitsplätze für alle erwerbstätigen Altersgruppen und steigert die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstumspotenzial der gesamten europäischen Wirtschaft. Es führt ebenfalls zu einer stärkeren Nachfrage nach neuen Berufen und zu verbesserten, auf dem neuesten Stand befindlichen Kenntnissen.

5.4   Die berufliche Aus- und Weiterbildung kann zur Umsetzung des oben genannten Kernziels der Europa-2020-Strategie auf verschiedene Weise beitragen: 1) durch Aufstiegsmöglichkeiten von der Berufsbildung in die Fachaus- und Hochschulbildung, 2) durch die Entwicklung der beruflichen Aus- und Weiterbildung auf den höheren Niveaus des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) auf der Grundlage einer soliden Aus- und Weiterbildung auf Sekundärniveau, 3) durch ihren Anteil an der Schaffung geeigneter Vorkehrungen zur Validierung und Bestätigung nichtformaler Lernergebnisse auf allen Niveaus und 4) durch die Entwicklung der alternierenden Ausbildung, bei der Erwachsene zur erfolgreichen Ausbildung der jungen Auszubildenden beitragen.

5.5   Unabdingbar für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen sind mobile Arbeitskräfte mit einer Reihe fachlicher Befähigungen und Kompetenzen, die der aktuellen Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt entsprechen. Unternehmen benötigen transparente und vergleichbare Qualifikationen, ganz gleich, auf welche Weise die Kompetenzen erworben wurden.

5.6   Auf dem tatsächlichen Lernergebnis gründende Leistungspunkt- und Qualifikationssysteme erleichtern die Bewertung der Kompetenzen des Einzelnen. Dies wird die Übereinstimmung von Angebot und Nachfrage auf den Arbeitsmärkten in der EU verbessern. Nicht durch Qualifikationen erlangt man die Anerkennung des Arbeitgebers, sondern durch Leistung. Entsprechend sollte auch im Bildungssystem dazu übergegangen werden, das tatsächliche Lernergebnis zu honorieren, statt beispielsweise die Anzahl der Wochen, die ein Kurs dauert.

5.7   Aufstiegschancen von der beruflichen Aus- und Weiterbildung in die Hochschulbildung sind wichtig und könnten durch eine erhöhte Transparenz bei den Ergebnissen verbessert werden. Der EQR könnte sich als nützliches Instrument bei der Verbesserung der Durchlässigkeit zwischen den Leistungspunktesystemen in der Berufsbildung und der Hochschulbildung erweisen, da er Lernergebnisse in Einheiten der entsprechenden Qualifikationsniveaus umwandelt.

5.8   Die postsekundäre Berufsbildung darf nicht in eine Grauzone zwischen der Sekundarstufe II und der Hochschulbildung eingeordnet werden. Die postsekundäre Berufsbildung ist innerhalb der Europa-2020-Strategie strategisch wichtig, um eine Berufsausbildung für Jugendliche attraktiver zu machen, die Verbesserung der Kompetenzen zu unterstützen und höhere Ausbildungsabschlussquoten zu erreichen. Aus Sicht der Klein- und Mittelbetriebe konnten gewisse Fortschritte erzielt und die Berufsbildung und die höhere Berufsbildung relevanter und attraktiver gemacht werden. Doch muss auf allen Ebenen – sei es auf europäischer, nationaler, regionaler, lokaler oder sektoraler Ebene – noch mehr getan werden, um das Angebot in den höheren Stufen der beruflichen Ausbildung zu diversifizieren, die Durchlässigkeit zu verbessern, die Systeme der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu reformieren und finanzielle Anreize zu schaffen, um sowohl die Unternehmen als auch die Jugendlichen und jungen Erwachsenen für die Einrichtung bzw. Absolvierung einer höheren Berufsbildung anzuregen.

5.9   Entscheidend für eine attraktivere Berufsbildung ist deren Qualität und Leistungsfähigkeit. Doch eine hochwertige Berufsbildung ist nicht billig. Hier kommen besondere Herausforderungen auf die KMU zu, da sie 1) der größte Anbieter beruflicher Erstausbildung sind und 2) die Kompetenzen aller ihrer Beschäftigten ausweiten müssen, nicht nur die der Höchstqualifizierten. Für die letztgenannte Gruppe ist die innerbetriebliche Ausbildung zur Verbesserung der Kompetenzen in KMU ausschlaggebend.

5.10   Die grenzüberschreitende Lernmobilität ist ein Kernbereich, der lange Zeit von der Wirtschaft unterstützt wurde, insbesondere für Jugendliche in beruflicher Erst- und Lehrlingsausbildung. In Europa ist der Mobilitätsgrad von Arbeitnehmern, Lernenden und Lehrenden im Bereich der Berufsbildung immer noch unzureichend. Die Mobilität dieser Gruppen kann nur durch gute Kenntnisse in mindestens einer Fremdsprache gesteigert werden.

6.   Gründe für die mangelnde Attraktivität der beruflichen Aus- und Weiterbildung und insbesondere der postsekundären Berufsbildung

6.1   Der Begriff Hochschulbildung wird oft als Synonym für akademisch orientierte, d.h. Universitätsstudien verwendet. Hochschulbildung und Berufsbildung werden oft als Gegensätze verstanden, wobei letztere als weniger wertvoll empfunden wird.

6.2   Bei den Maßnahmen zur Entwicklung und Erweiterung der Hochschulbildung wurde die Berufsbildung nicht ausreichend berücksichtigt. Dabei ist die beruflich orientierte (oder fachlich- bzw. arbeitsmarktorientierte) Aus- und Weiterbildung bereits ein wichtiger, wenn auch „unsichtbarer“ Bestandteil der höheren Bildung.

6.3   Die berufliche Aus- und Weiterbildung ist in der EU äußerst heterogen. Diese Vielzahl an institutionellen Lösungen sorgt für Verwirrung. In einigen Ländern kann kaum noch die Rede von einem System sein.

6.4   Die nationalen Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung sind ihrerseits recht undurchsichtig und es gibt nur eine geringe Durchlässigkeit zwischen den unterschiedlichen Bildungswegen. Für die postsekundäre allgemeine und berufliche Bildung gibt es sehr viele verschiedene Anbieter: Universitäten, Einrichtungen der tertiären Berufsbildung, weiterführende Schulen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung, Sozialpartner und Privatunternehmen.

6.5   Die erworbenen Berufsbildungsabschlüsse sind bisweilen schwer verständlich und werden in anderen Mitgliedstaaten nicht ohne Weiteres anerkannt. Die Programme der Berufsbildung entsprechen nicht dem Drei-Zyklen-Modell des Bologna-Prozesses (Bachelor, Master, Promotion). Es gibt immer noch keine klare Vorstellung darüber, wie und in welchen Niveaus die Einstufung beruflicher Qualifikationen in den NQR und den EQR erfolgen soll.

6.6   Es gibt keine Verbindungen zwischen den aus Studien erworbenen Qualifikationen und Kompetenzen und den nationalen Berufsklassifikationssystemen.

6.7   Das Ansehen der Industrie ist wegen des Bildes, das die Medien oft von ihr vermitteln, und wegen der aktuellen Krise angekratzt. Dies führt dazu, dass Unternehmen in der EU zunehmend misstraut wird.

6.8   Die Stigmatisierung und das geringe gesellschaftliche Ansehen derer, die eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, hält viele Jugendliche davon ab, selbst diesen Bildungsweg einzuschlagen.

6.9   Geringe rechnerische Fähigkeiten in der Grundschule bewirken bei den Jugendlichen, dass sie keine Laufbahn in den MINT-Fächern (Mathematik, Ingenieur-, Natur- und Technikwissenschaften) einschlagen oder praxisorientierte Studien aufnehmen.

6.10   Die Fähigkeit, sich auf die sich stetig wandelnden, von den raschen Veränderungen im IKT-Bereich bedingten Qualifikationsanforderungen und die allmähliche Hinwendung zu einer Wirtschaft mit geringen CO2-Emissionen einzustellen, ist gering.

6.11   In diesen Bereichen haben viele den Eindruck, dass es zu wenige Bildungs- und Arbeitsmarktaussichten gibt, z.B. in Bezug auf den Zugang zu einer weiterführenden Bildung, insbesondere im Tertiärbereich, die Beschäftigungsaussichten, die Verdienstmöglichkeiten, die Zufriedenheit am Arbeitsplatz und die Wahrscheinlichkeit, einen guten, der Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz zu finden.

6.12   Es gibt zu wenig Information und Beratung für die Jugendlichen und ihre Familien bei ihrer ersten beruflichen Orientierung. Die Erfahrungen der Eltern und deren beruflicher Werdegang sind oft die Hauptfaktoren für die endgültige Entscheidung über die Wahl der Schule und des späteren Berufs. Die Berufsberatung ist allzu oft fragmentiert, nicht reaktionsschnell genug und nicht praxisnah.

6.13   In einigen Mitgliedstaaten mangelt es von staatlicher Seite an finanziellen und sonstigen Anreizen für Arbeitgeber, damit diese in die Berufsbildung investieren und sich ihr verpflichten.

6.14   Bei der Gestaltung von Programmen mit einem ausgewogenen Verhältnis zwischen theoretischem Lernen und beruflichen Fähigkeiten reicht der Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen Vertretern der Wirtschaft und Bildungseinrichtungen nicht aus. Das Vertrauen in Schulen und Universitäten zur Herstellung von Verbindungen mit der Wirtschaft ist immer noch gering. In den Bildungseinrichtungen werden extern gewonnene Erfahrungen kaum wertgeschätzt.

6.15   Die aktuelle Erwerbsbevölkerung wird zunehmend älter. In vielen Ländern gibt es in den berufsbildenden Einrichtungen einen Mangel an Lehrkräften und Ausbildungspersonal. Manchen Lehrkräften und Ausbildenden fehlt es zudem an neueren Erfahrungen aus der Arbeitswelt.

6.16   Die Rolle, die die berufliche Aus- und Weiterbildung bei der Überwindung sozialer Ungerechtigkeiten spielen kann, wird unterschätzt. Die Benachteiligten verlassen die Schule tendenziell eher früh.

6.17   In der Berufsbildung, insbesondere der postsekundären Berufsbildung, herrschen weiter Geschlechterstereotypen, die Auswirkungen auf die berufliche Laufbahn haben.

6.18   Die grenzüberschreitende Lernmobilität stellt ein großes Problem im Bereich der Berufsbildung und der Lehrlingsausbildung dar. In Europa ist der Mobilitätsgrad von Lernenden und Lehrenden im Bereich der Berufsbildung immer noch unzureichend.

6.19   Bessere Fremdsprachenkenntnisse sind nötig, damit Mobilität möglich und lohnenswert wird.

6.20   Die Bildung im Tertiärbereich, insbesondere die postsekundäre Berufsbildung, wird nicht ausreichend als globale Herausforderung angesehen. Ihre Aufnahme in den weltweiten Wissensverkehr sollte unterstützt werden.

7.   Postsekundäre Berufsbildung attraktiver gestalten

7.1   Als Maß für Modernität und Fortschrittlichkeit darf nicht einzig und allein der Prozentsatz der Studierenden an Universitäten gelten. Die Universitäten können nicht allein für wirtschaftliches Wachstum und sozialen Fortschritt sorgen. Daher müssen alle alternativen Bildungswege identifiziert und gefördert werden.

7.2   Der Kopenhagen-Prozess zur Gewährleistung von Transparenz und Qualität bei beruflichen Qualifikationen muss stärker mit der Reform des Hochschulwesens verknüpft werden. Entscheidend für eine erfolgreiche und nachhaltige Integration von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Arbeitsmarkt ist, die beiden Prozesse (Bologna- und Kopenhagen-Prozess) in einem integrierten Ansatz zusammenzuführen.

7.3   Der Ruf der Industrie in Europa muss verbessert werden. Wegen ihrer großen Bedeutung für das Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie für innovative Entwicklungen ist ein neuer Ansatz in der Industriepolitik erforderlich. Ein solcher Ansatz, der als Schwerpunktbereiche Nachhaltigkeit, Innovation und die für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Industrie auf den Weltmärkten notwendigen Qualifikationen hätte, wäre der Industrie förderlich.

7.4   Für die Wirtschaft Europas sind Dienstleistungen von grundlegender Bedeutung. Sie machen 70 % des BIP der EU aus, was rund zwei Dritteln aller Arbeitsplätze entspricht. Neun von zehn Arbeitsplätzen werden im Dienstleistungssektor geschaffen. Aus Sicht der postsekundären Berufsbildung stellen sie neue Chancen dar.

7.5   Europa, das derzeit mit einem Arbeitskräftemangel in vielen Berufen zu kämpfen hat, muss sich darauf konzentrieren, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Systemen der allgemeinen und der beruflichen Bildung und die richtige Mischung aus allgemeiner, beruflicher und akademischer Bildung herzustellen. Die postsekundäre Berufsbildung zeigt, wie schwierig das ist. Ihr Ziel besteht darin, den Arbeitsplatz als wertvolles Lernumfeld voll auszuschöpfen.

7.6   Qualifikationsrahmen können sehr nützlich für Berufsbildungssysteme sein. Sie haben das Potenzial, das Berufsbildungssystem zu vereinheitlichen und die Transparenz zu steigern, sodass die unterschiedlichen Qualifikationen einfacher von Schülern und Lernenden, Arbeitgebern und anderen Interessenträgern bewertet werden können. Außerdem vereinfachen sie das lebenslange Lernen und erleichtern den Zugang zur höheren Bildung für alle. Die bisherigen Ergebnisse zu den Qualifikationsrahmen führten zu einer neuen Debatte über Profil und Status der beruflichen Aus- und Weiterbildung und darüber, wie die Berufsbildung definiert und verstanden werden soll.

7.7   Es muss sich ein wahrer Geist der Zusammenarbeit zwischen Bildungseinrichtungen, Vertretern der Wirtschaft und KMU entwickeln, der auf gegenseitigem Vertrauen und Verständnis fußt. Der EWSA glaubt an die jüngst vorgeschlagene „Wissensallianz“ (7), d.h. an Projekte, die die Geschäftswelt und Bildungs-/Weiterbildungseinrichtungen zusammenführen, um neue Lehrpläne zur Beseitigung von Lücken bei den Innovationsfähigkeiten zu erstellen und eine Abstimmung hinsichtlich der Arbeitsmarkterfordernisse vorzunehmen. In dieser Hinsicht ist der Vorschlag der Kommission, 2012 erstmals ein Wirtschafts- und Berufsbildungsforum zu veranstalten, eine vielversprechende neue Initiative.

7.8   Die einzelnen Wirtschaftszweige und ihre Unternehmen müssen ihrerseits in die innerbetriebliche Ausbildung investieren, der Lehrlingsausbildung und der internen Ausbildung mehr Möglichkeiten bieten und interessierten und geeigneten Beschäftigten die Möglichkeit bieten, Lehrlinge und intern Auszubildende vor Ort zu betreuen. Außerdem sollen Industrie und Unternehmen interessierten und geeigneten Beschäftigten die Möglichkeit geben, zeitweilig als Lehrkräfte in der Berufsbildung zu arbeiten und Schulungen zur Berufsbildung während der Arbeitszeiten zu absolvieren, und sie sollten mit Bildungsanbietern zusammenarbeiten, um den besonderen Kompetenzanforderungen des Arbeitsmarktes angepasste Schulungen auszuarbeiten.

7.9   Bildungsanbieter sollten darüber hinaus auch Methoden für ein arbeitsintegriertes Lernen entwickeln (z.B. sollte das Lernen nicht nur in der Lehrlingsausbildung, sondern auch in anderen Bereichen mehrheitlich am Arbeitsplatz stattfinden), es sollte eine flexiblere Haltung zur Berufsbildung eingenommen werden (flexiblere Lernmethoden), in allen Bereichen der Berufsbildung sollten Informations- und Kommunikationstechnologien eingesetzt werden, und es sollte eine enge Zusammenarbeit mit den Industriezweigen stattfinden, um neuen Lernbedarf zu ermitteln.

7.10   Durch die Diversifizierung der Berufe wird eine gute berufliche Orientierung schwieriger, gleichzeitig aber auch wichtiger und anspruchsvoller. Die Bürger und insbesondere die Jugendlichen brauchen ein klares Bild vor Augen, wie ihre Studien und ihre Zukunft aussehen werden. Die Vorstellung, dass die Erstausbildung Schüler und Studierende auf eine einzige Beschäftigung vorbereitet, der sie ihr Leben lang nachgehen werden, ist überholt. Die Berufsberatung muss kohärent, finanziell gut ausgestattet, vorausblickend, sachlich und fundiert sein. Besonderes Augenmerk sollte auf die Beratung von Menschen mit Behinderungen gelegt werden, die in hohem Maße auf den Einzelnen zugeschnitten sein muss und bei der unterschiedliche Formen von Behinderungen, sich möglicherweise daraus ergebende Mobilitätseinschränkungen sowie der Behinderung geschuldete Probleme beim Erwerb bestimmter Qualifikationen zu berücksichtigen sind.

7.11   Die Rolle der Familie darf hierbei nicht unterschätzt werden. Die Familie sollte in die berufliche Information, Beratung und Orientierung miteinbezogen werden, da Eltern und Familienmitglieder bei der Studien- und Berufswahl eines Jugendlichen oft eine wichtige Rolle spielen. Mehr Information, Sensibilisierung und faktengestützte Maßnahmen sind erforderlich, um die Arbeitsmarktchancen im Zusammenhang mit einer höheren Berufsbildung hervorzuheben.

7.12   Nichtsdestotrotz muss über das Berufsbildungsangebot angestrebt werden, die Vorstellungen und Wünsche der Schüler und Studierenden und die Nachfrage seitens der Arbeitgeber auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Vorstellungen und Wünsche der Jugendlichen sind wichtig, doch reichen sie allein meist nicht aus. Die Nachfrage seitens der Arbeitgeber ist ebenfalls wichtig, doch ist es nicht immer leicht, diese Nachfrage genau zu ermitteln. Ob und wie ein gemeinsamer Nenner gefunden wird, hängt oft auch von den Mitteln ab, die der Staat, die Schüler/Studierenden und die Arbeitgeber bereitstellen.

7.13   Es muss gewährleistet werden, dass alle Schüler und Studierenden in allen Bildungswegen gleich behandelt werden und den gleichen Zugang zu finanziellen Unterstützungen für Unterkunft, Transport, Gesundheitsversorgung und Sozialversicherung haben.

7.14   Gut ausgebildete Lehrer und Ausbildende sind wichtig: Sie müssen mit dem Arbeitsumfeld vertraut sein. Um diese Probleme in den Griff zu bekommen, müssen flexible Rekrutierungswege gefördert werden, um die Aufnahme von Lehrkräften mit Fachkenntnissen aus der Industrie in das Personal von Berufsbildungseinrichtungen zu vereinfachen. Es müssen Programme zur Steigerung der Mobilität von Lehrkräften entwickelt werden.

7.15   Die Sozialpartner spielen eine sehr wichtige Rolle dabei, der Berufsbildung mehr Bedeutung zu verleihen und sie flexibler zu gestalten. Um die Leistungsfähigkeit der Berufsbildung zu steigern, sollten die Sozialpartner stärker in die Gestaltung und Umsetzung der Berufsbildungspolitik, insbesondere in die Aufstellung der Lehrpläne, eingebunden werden, damit gewährleistet werden kann, dass die im Unterricht vermittelten Inhalte für den Arbeitsmarkt relevant sind. Es zeigt sich, dass die Länder, die als Bindeglied zwischen Schulen und dem Arbeitsmarkt agieren und Akteure des Arbeitsmarktes in Beobachtungs- und Aufsichtsaufgaben und in die Bewertung beruflicher Fähigkeiten und Qualifikationen einbinden, dies im Allgemeinen mit Erfolg tun. Der EWSA hob bereits mehrfach die Bedeutung der Branchenräte und branchenübergreifenden Räte für Beschäftigung und Qualifikationen (8) bei der Ausführung von quantitativen und qualitativen Arbeitsmarktanalysen hervor und begrüßte die gemeinsamen Bemühungen der europäischen Sozialpartner, die Aus- und Weiterbildung verstärkt in ihre gemeinsamen Arbeitsprogramme aufzunehmen (9).

7.16   Durch die Krise wurde deutlich, dass viele der klugen und wirksamen Vorschläge zur Erhaltung von Arbeitsplätzen und zur Schaffung neuer Bildungs- und Ausbildungsmuster auf Unternehmerebene ausgearbeitet wurden. In der Stellungnahme des EWSA zu den Krisenbewältigungsstrategien (10) wird eine ganze Reihe „bewährter Praktiken“ zu diesem Bereich aufgeführt.

7.17   Lernmobilität trägt durch den Erwerb von Schlüsselqualifikationen zu einer besseren Vermittelbarkeit, insbesondere junger Menschen, auf dem Arbeitsmarkt bei. Der EWSA begrüßt daher die von der Kommission vorgeschlagene ehrgeizige, aber politisch notwendige Zielmarke zur Lernmobilität. Angestrebt wird, dass mindestens 10 % der Berufsbildungsabsolventen in Erstausbildung in der EU einen Teil ihrer Berufsbildung im Ausland absolviert haben sollen. Dies soll die Mobilität im Bereich der beruflichen Bildung sowohl quantitativ als auch qualitativ verbessern und die berufliche Aus- und Weiterbildung mit der Hochschulbildung gleichstellen.

7.18   Das vor kurzem veröffentlichte Grünbuch zur gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen (11) löste eine öffentliche Diskussion darüber aus, wie die einschränkenden Regelungen bei Berufsqualifikationen abgebaut und vereinfacht werden können, um die Funktionsweise des Binnenmarkts zu verbessern und die grenzüberschreitende Mobilität und Wirtschaftstätigkeit zu fördern. Der Erfolg des kürzlich vorgeschlagenen europäischen Berufsausweises hängt maßgeblich vom gegenseitigen Vertrauen und der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten ab.

7.19   Der EWSA ist davon überzeugt, dass es für alle Lehrer und Ausbildende, insbesondere in der Berufsbildung, von großer Wichtigkeit ist, gute Sprachkenntnisse zu haben, um das integrierte Lernen von Inhalten und Sprache zu fördern (ET 2020). Der EWSA unterstützt die in diesem Bereich vom Wirtschaftsforum für Mehrsprachigkeit (12) und der Plattform der Zivilgesellschaft für Mehrsprachigkeit vorgesehenen Maßnahmen, die zum Ziel haben, allen Bürgern die Möglichkeit für ein lebenslanges Erlernen von Sprachen zu bieten (13).

7.20   Im 21. Jahrhundert müssen die Stereotype, die bereits in der Grundschule aufkommen, unbedingt beseitigt und die Chancengleichheit für Männer und Frauen auf allen Stufen der allgemeinen und beruflichen Bildung gefördert werden. Dabei sollen gemäß dem europäischen Pakt für die Gleichstellung der Geschlechter (14) kulturelle Projekte gefördert werden, die junge Frauen verstärkt auf wissenschaftliche und technische Studien hin orientieren.

7.21   In den vergangenen zehn Jahren haben die Mitgliedstaaten unterschiedliche Ansätze der Kostenteilung erarbeitet und umgesetzt. Dies hat die Balance der Beiträge von Staat, Arbeitgebern und Einzelnen verändert. Zu den Finanzierungsmaßnahmen gehören: Weiterbildungsfonds, Steueranreize, Bildungsgutscheine, individuelle Lernkonten, Darlehen und Sparpläne. Damit sollen die Privatinvestitionen und die Einbindung in das europäische Leistungspunktesystem für die Berufsbildung (ECVET) gefördert werden.

7.22   Der größte Anteil an finanzieller Unterstützung aus dem EU-Haushalt für Investitionen in das Humankapital kommt aus dem europäischen Sozialfonds (ESF). Um das Qualifikationsniveau anzuheben und die in vielen Mitgliedstaaten grassierende hohe Jugendarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen, werden die derzeit vom Leonardo-Programm unterstützten Maßnahmen im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen noch verstärkt (15).

8.   Richtige Umsetzung der Instrumente und Grundsätze der EU auf nationaler Ebene

8.1   Mit der Einführung von Instrumenten zur Intensivierung der europäischen Zusammenarbeit im Bereich der Berufsbildung wurde klar, dass mehr Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Einrichtungen notwendig sein wird, um die Wirksamkeit der Instrumente selbst zu verbessern.

8.2   Der Kopenhagen- und der Bologna-Prozess dürfen sich nicht weiterhin unabhängig voneinander entwickeln. Die Interoperabilität und Vergleichbarkeit zwischen den jeweiligen Instrumenten sollte erhöht werden. Es sollte anerkannt werden, dass sich der Kopenhagen-Prozess in einem weniger fortgeschrittenen Stadium befindet: Das ECVET (16) funktioniert reibungslos, der EQR hinkt jedoch um einige Jahre hinterher.

8.3   Der EQR, das ECVET und der EQAVET sollen zur Förderung des Lernens auf allen Niveaus und in allen Bereichen der allgemeinen und beruflichen Bildung beitragen. Der EQR sollte in den NQR in die Stufen 6 bis 8 eingeordnet, d.h. mit der Hochschulbildung gleichgestellt werden. Das Leistungspunktesystem für die Berufsbildung (ECVET) muss kohärent und konvergent zum ECTS (17) umgesetzt werden, da das ECVET noch nicht funktionsfähig ist.

8.4   Das EU-Instrumentarium kann durch nationale Instrumente (z.B. nationale Qualifikationsrahmen) ergänzt oder in Vorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten (z.B. zu Leistungspunktesystemen) übernommen werden, wenn dies bei nationalen Reformen notwendig erscheint. Hier bedarf es mehr Interaktion zwischen den unterschiedlichen Ebenen (europäische, nationale und regionale Ebene).

8.5   Bei der Umsetzung des „Erasmus-Programms für Auszubildende“ müssen Fortschritte erzielt werden. Dieses Programm wird es möglich machen, dass die berufliche Aus- und Weiterbildung als den Wegen der Hochschulbildung gleichwertig angesehen wird, und so zur Förderung der Berufsausbildung beitragen. Durch das Programm erhält die berufliche Aus- und Weiterbildung eine internationale Dimension, der Mangel an Mobilität in diesem Bereich wird dadurch behoben und die Wahrnehmbarkeit und Attraktivität der postsekundären Berufsbildung wird gesteigert.

8.6   Die Kommission sollte sich jedoch bei der Einführung neuer Instrumente zurückhalten, bevor nicht der mögliche Zusatznutzen der bereits bestehenden Instrumente ausgewertet wurde. Die Kommunikation und Zusammenarbeit innerhalb und zwischen den bereits bestehenden Instrumenten muss verbessert werden, damit diese auch zweckgemäß in die Tat umgesetzt werden können.

8.7   Der EWSA hat eine Reihe fundierter Stellungnahmen zu den entsprechenden Instrumenten erarbeitet: zum ECVET (18), zum EQAVET (19) und zu den Entsprechungen der beruflichen Befähigungsnachweise zwischen Mitgliedstaaten (20).

Brüssel, den 19. Januar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Ein Haushalt für „Europa 2020“, KOM(2011) 500 endgültig Teil I und Teil II vom 29.6.2011.

(2)  Mitteilung der Kommission KOM(2010) 296 endg.

(3)  EQR (Europäischer Qualifikationsrahmen), ECVET (Europäisches Leistungspunktesystem für die Berufsausbildung), EQAVET (Europäischer Bezugsrahmen für die Qualitätssicherung in der beruflichen Aus- und Weiterbildung), EUROPASS (eine Sammlung von Dokumenten zur Förderung der beruflichen und geografischen Mobilität).

(4)  Forschungsbericht Nr. 15 des CEDEFOP zur beruflichen Aus- und Weiterbildung auf höheren Qualifikationsniveaus.

(5)  Abschlussbericht „Ermittlung des in Kleinstunternehmen und Handwerksbetrieben (sowie ähnlichen Unternehmen) bis 2020 zu erwartenden Qualifikationsbedarfs“, FBH (Forschungsinstitut für Berufsbildung im Handwerk an der Universität zu Köln, Januar 2011).

(6)  OECD-Untersuchung zum Projekt Lernen für die Arbeitswelt („Learning for Jobs“) mit dem Schwerpunkt Berufsbildung, http://www.oecd.org/dataoecd/41/63/43897561.pdf (auf Englisch).

(7)  Leitinitiative „Agenda für neue Kompetenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten“.

(8)  Sondierungsstellungnahme des EWSA, ABl. C 347/01 vom 18.12.2010.

(9)  „Aktionsrahmen für den lebensbegleitenden Erwerb beruflicher Fähigkeiten und Qualifikationen“ (2002) und „Eigenständige Vereinbarung über integrative Arbeitsmärkte“ (2010).

(10)  Initiativstellungnahme des EWSA, ABl. C 318/43 vom 29.10.2011.

(11)  KOM (2011) 367 endgültig „Grünbuch zur Überarbeitung der Richtlinie über Berufsqualifikationen“, 22.6.2011.

(12)  http://ec.europa.eu/languages/pdf/business_en.pdf (auf Englisch).

(13)  http://ec.europa.eu/languages/pdf/doc5080_en.pdf (auf Englisch).

(14)  3073. Tagung des Rates „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ am 7. März 2011.

(15)  „Ein Haushalt für Europa 2020“, KOM(2011) 500 endgültig, 29.6.2011.

(16)  Europäisches Leistungspunktesystem für die Berufsbildung zur Vereinfachung der Bewertung, Anerkennung und Akkumulation von beruflichen Kompetenzen und beruflichem Wissen.

(17)  Europäisches System zur Anrechnung von Studienleistungen.

(18)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 100/140 vom 30.4.2009.

(19)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 100/136 vom 30.4.2009.

(20)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 162/90 vom 25.6.2008.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen (Art. 54 Abs. 3 der Geschäftsordnung):

Ziffer 1.10

Ändern:

Wirtschaftsverbände sollten aktiv in die Informations- und Beratungssysteme einbezogen werden, da sie Bereitstellung von Informationen zu den Berufsbildungsmöglichkeiten und den Arbeitsmarktchancen sind. Sie sollten den Bildungsanbietern bei der Entwicklung von Verfahren für ein arbeitsintegriertes Lernen sowie neuer Verfahren zur Seite stehen.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

81

Nein-Stimmen

:

100

Enthaltungen

:

20

Ziffer 1.18

Ändern:

Die Vorstellungen und Wünsche von Schülern und Studenten und die Erwartungen ihrer Familien sollten der Nachfrage seitens der Arbeitgeber werden. In Zukunft werden die Bürgerinnen und Bürger auf das neue EU-Kompetenzpanorama mit Vorhersagen zum Qualifikationsangebot und dem Arbeitskräftebedarf zurückgreifen können.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

75

Nein-Stimmen

:

127

Enthaltungen

:

18