4.10.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 299/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Stärkung der Verfahren der Mitsprache und der Einbeziehung lokaler Gebietskörperschaften, nichtstaatlicher Organisationen und Sozialpartner in die Umsetzung der Strategie Europa 2020“ (Sondierungsstellungnahme)

2012/C 299/01

Berichterstatterin: Heidi LOUGHEED

Mit Schreiben vom 18. April 2012 ersuchte Sotiroula CHARALAMBOUS, Ministerin für Arbeit und Sozialversicherung der Republik Zypern, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss im Namen des künftigen zyprischen EU-Ratsvorsitzes um Erarbeitung einer Stellungnahme zu folgendem Thema:

"Stärkung der Verfahren der Mitsprache und der Einbeziehung lokaler Gebietskörperschaften, nichtstaatlicher Organisationen und Sozialpartner in die Umsetzung der Strategie Europa 2020".

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 27. Juni 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 482. Plenartagung am 11./12. Juli 2012 (Sitzung vom 12. Juli) einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Empfehlungen

Der EWSA fordert die EU-Institutionen und die nationalen Regierungen auf, ihr politisches Engagement zu erneuern und im Rahmen der Europa-2020-Strategie den Schulterschluss mit allen relevanten Partnern zu suchen: dem Europäischen Parlament, dem Ausschuss der Regionen, dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den nationalen Parlamenten, den regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, den Sozialpartnern, der organisierten Zivilgesellschaft, den nationalen Wirtschafts- und Sozialräten und vergleichbaren Einrichtungen, den Städten und allen anderen Formen kommunaler Gebietskörperschaften.

Der EWSA verpflichtet sich, aufbauend auf der Arbeit mit den nationalen Wirtschafts- und Sozialräten (WSR) und vergleichbaren Einrichtungen sowie mit den nationalen Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft, zur europäischen Anlaufstelle zu werden und eine spezielle Plattform bereitzustellen, damit diese ihre Arbeit an der Europa-2020-Strategie voranbringen können.

Langfristig ist der EWSA der Ansicht, dass die Europäische Union eine Langzeitperspektive des Ziels, das sie mit der Einbeziehung der Akteure letztlich verfolgt, entwickeln und schrittweise ausbauen sollte.

Kurzfristig ist der EWSA der Meinung, dass einige kleinere Veränderungen große Fortschritte bewirken würden. Insbesondere sollten die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission dringend die Zeitplanung und die einzelnen Schritte der Verfahren überdenken, um eine echte Mitwirkung und Mitverantwortung aller Akteure zu ermöglichen.

2.   Einführung

2.1

Am 18. April 2012 ersuchte der künftige zyprische Ratsvorsitz den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, eine Stellungnahme zur Stärkung der Verfahren der Mitsprache und der Einbeziehung lokaler Gebietskörperschaften, nichtstaatlicher Organisationen und der Sozialpartner in die Umsetzung der Strategie Europa 2020 zu erarbeiten, da er beabsichtigte, die Frage zu einer Priorität des Ratsvorsitzes und der informellen Tagung des Rates Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz (EPSCO) im Juli 2012 zu machen.

Jetzt, da sich das Europäische Semester in seinem dritten Jahr befindet, ist es an der Zeit, die Mitspracheverfahren im Rahmen von Europa 2020 unter die Lupe zu nehmen und zu sehen, wie sie weiterentwickelt werden könnten.

2.2

Der EWSA und sein Europa-2020-Lenkungsausschuss setzen sich dafür ein, die Arbeit zu beaufsichtigen und nationale Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbare Einrichtungen in den Mitgliedstaaten für einen Erfahrungsaustausch über Möglichkeiten zur Verbesserung der Mitspracheverfahren im Rahmen von Europa 2020 zusammenzubringen.

2.3

Die Rolle des EWSA bei der Umsetzung der Europe-2020-Strategie (1) wird heute umfassend anerkannt. Der Ausschuss möchte daher seine Empfehlungen für eine Verbesserung der Mitspracheverfahren im Rahmen von Europa 2020 und des Europäischen Semesters unterbreiten.

3.   Europa 2020 – ein neues System

3.1

Die Europäische Union und ihre Bevölkerung stehen einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise gegenüber, die gravierende Auswirkungen auf die gesamte EU und ihre Bürgerinnen und Bürger hat. Viele Mitgliedstaaten haben äußerst angespannte Situationen erlebt, während hohe Arbeitslosenquoten weiterhin Anlass zur Sorge geben. Der EWSA vertritt daher den Standpunkt, wie er ihn in den letzten drei Jahren in zahlreichen Stellungnahmen zum Ausdruck gebracht hat, dass die Europa-2020-Strategie heute wichtiger denn je ist, bietet sie doch eine umfassende Agenda für die Reform, die auf die Sicherung nachhaltigen Wachstums und des Aufbaus einer widerstandsfähigeren EU abzielt.

3.2

Die Europa-2020-Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum ist die Wachstumsstrategie schlechthin, in der Ziele in wichtigen Politikbereichen auf EU- und nationaler Ebene festgelegt werden. Sie hat einen sehr weiten Anwendungsbereich und zielt insgesamt auf die Förderung von intelligentem, nachhaltigem und integrativem Wachstum ab. In ihr werden Entwicklungen in den Bereichen Innovation und FuE, Klimawandel, Energie, Arbeitslosigkeit, Industriepolitik und sozialer und territorialer Zusammenhalt abgedeckt und Armut, Kohäsionspolitik u.v.m. behandelt.

3.3

Die Steuerung von Europa 2020 zielt darauf ab, europäische, nationale und geteilte Befugnisse in einem Mehrebenensystem zusammenzubringen, und trägt auf diese Weise zur Vertiefung der europäischen Integration bei. Verglichen mit der Lissabon-Strategie enthält Europa 2020 miteinander verknüpfte Leitinitiativen, die eine Schwerpunktsetzung und Unterstützung in wichtigen Themenbereichen, Prioritäten und Kernzielen sowie ein verstärktes und rigoroses Überwachungssystem bieten – mit der Möglichkeit, Entwicklungen auf nationaler Ebene (bzw. deren Ausbleiben) kritisch zu bewerten.

3.4

Im Vergleich zur Lissabon-Strategie ist der Berichterstattungsmechanismus jetzt nicht nur engmaschiger, sondern wurde auch den Verfahren im Rahmen der neuen, verbesserten Systeme zur Wirtschaftssteuerung angepasst, so dass z.B. die Stabilitäts- und Konvergenzprogramme und die nationalen Reformprogramme der Europäischen Kommission gleichzeitig unterbreitet werden, was eine umfassendere Sicht darauf ermöglicht, wo die einzelnen Mitgliedstaaten stehen und wohin sie wollen.

3.5

Eine Veränderung innerhalb des Verfahrens wurde erstmals im Text der Europa-2020-Strategie selbst hervorgehoben, wo deutlich gemacht wurde, dass wir "mehr Eigenverantwortung [brauchen]" und dass "auch die Akteure auf nationaler und regionaler Ebene sowie die Sozialpartner … stärker einbezogen werden [müssen]." Konkret wurde zugesagt, dass sowohl der EWSA als auch der Ausschuss der Regionen enger eingebunden werden sollen. Diese Notwendigkeit von Verfahren der Mitsprache wurde bei mehreren Gelegenheiten wiederholt, vornehmlich in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom März 2010 und in dem Leitfaden der Europäischen Kommission Guidance for drafting, implementing and monitoring National Reform Programmes under the Europe 2020 Strategy. Darin wird bekräftigt, dass die nationalen Parlamente, die Sozialpartner, die Regionen und weitere Akteure in die Ausarbeitung der nationalen Reformprogramme einbezogen werden müssen, um die Identifikation mit der Strategie zu verbessern.

4.   Erfahrung mit dem Europäischen Semester

4.1

Drei Jahre nach Beginn der Europa-2020-Strategie ist deutlich, dass sich viele Mitgliedstaaten für die Beteiligung der Sozialpartner und der organisierten Zivilgesellschaft am Europäischen Semester engagieren und diese Partner in ihre nationalen Verfahren einbezogen haben. Diese Verpflichtung wird jedoch bruchstückhaft umgesetzt: Das Engagement ist unterschiedlich stark, und selbst dort, wo es vorhanden ist, variiert die tatsächliche Mitwirkung der Partner am Prozess. Während viele Mitgliedstaaten ihre Partner durchaus informieren und konsultieren, fehlt es dem Verfahren an Zielschärfe, und es kann bei seinen Beteiligten den Eindruck erwecken, unzusammenhängend zu sein oder eine Gesamtstrategie vermissen zu lassen. So wurden insbesondere vom EWSA und von anderen Beteiligten Bedenken über die sehr knappen Fristen geäußert, die häufig fast keine Zeit für eine richtige Diskussion mit den Sozialpartnern, den Organisationen der Zivilgesellschaft oder den regionalen und nationalen Parlamenten lassen. Doch wurden diese Bedenken nicht nur auf nationaler Ebene laut: Viele Organisationen auf europäischer Ebene haben die Frage gestellt, ob die Verfahren und die Steuerung des Europäischen Semesters sowie die Überwachung im Rahmen der Europa-2020-Strategie nicht verbessert werden könnten. Das Europäische Parlament hat politische Empfehlungen ausgesprochen, um seine Rolle und seinen möglichen Beitrag besser zu definieren (2), und der Ausschuss der Regionen arbeitet daran, in Kürze seine eigenen Leitlinien herauszugeben.

4.2

Die Einsetzung des Europa-2020-Lenkungsausschusses hat der Arbeit des EWSA ausschussintern wesentliche Zielschärfe verliehen, da der EWSA nun über einen einzelnen Arbeitsausschuss verfügt, der die Europa-2020-Strategie und die damit verbundenen Vorschläge in ihrer gesamten Tragweite und nicht nur ausschnittsweise überschauen kann. Vertreter der Kommission und weitere Akteure nehmen regelmäßig an Sitzungen des Lenkungsausschusses teil. Um die Verbindung zur nationalen Ebene zu stärken, lädt der Lenkungsausschuss bei wichtigen Etappen des Europäischen Semesters die nationalen Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbare Einrichtungen regelmäßig ein und organisiert Europa-2020-Veranstaltungen vor Ort in Zusammenarbeit mit nationalen Akteuren der Zivilgesellschaft. Diese Arbeit sollte intensiviert und ausgedehnt werden.

4.3

Die Rolle, die der EWSA dabei gespielt hat, die nationalen Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbare Einrichtungen zusammenzubringen, konzentrierte sich nicht nur auf das Europäische Semester und die Europa-2020-Strategie. Sie erwies sich auch als nützlich, um die Analyse und das Verständnis von Situationen EU-weit zu verbessern und die Vorschläge sowohl des EWSA als auch der WSR zu stärken.

5.   Wert und Nutzen von Mitspracheverfahren

5.1

Um die Wirkung des Europäischen Semesters zu optimieren, käme eine Verbesserung und Verstärkung der Mitspracheverfahren im Rahmen von Europa 2020 eindeutig nicht nur der Strategie als solcher, sondern letztendlich auch den Bürgerinnen und Bürgern zugute.

5.2

Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten beziehen sich oft auf den Nutzen von Verfahren der Mitsprache und der Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft. Den Sozialpartnern und der breiten Öffentlichkeit stehen in der Tat mehrere verschiedene Verfahren und Systeme zur Verfügung; es ist daher zweckdienlich, klar zu sagen, weshalb dies so wichtig ist und was von einem ordnungsgemäß funktionierenden System, das eine verstärkte Mitsprache ermöglicht, potenziell gewonnen werden kann. Der aktive Schulterschluss mit den Sozialpartnern und der organisierten Zivilgesellschaft wird Folgendes ermöglichen:

einen größerer Wirkungsradius für die Verbreitung von Informationen in der Europäischen Union und einen beträchtlichen Welleneffekt;

eine stärkere Identifikation mit den Strategien, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass alle Akteure an ihrem Entstehen beteiligt sind;

ein Frühwarnsystem – die Organisationen der Zivilgesellschaft und die Sozialpartner stehen der Basis häufig viel näher und können deshalb als "Frühwarner" für neu aufkommende Mikrotrends fungieren, lange bevor diese Entwicklungen auf nationaler oder europäischer Ebene zutage treten;

die Fähigkeit, Ideen zu testen und Lösungen zu entwickeln – wenig überraschend, können die Akteure mit der größten Basisnähe Testvorschläge häufig vor ihrer vollständigen Umsetzung erproben und stellen in vielen Fällen pragmatische und wirksame Lösungen bereit;

bessere Umsetzung – in vielen Fällen werden die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft selbst für die tatsächliche Umsetzung der Vorschläge vor Ort zuständig sein.

6.   Konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Mitspracheverfahren im Rahmen von Europa 2020

6.1

Bei der Betrachtung der Verfahren, die bisher sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene angewandt werden, gelangt der EWSA zu der Auffassung, dass noch viel getan werden muss. Diese Verfahren können zu einem System ausgebaut werden, das auch tatsächlich eine solide Partnerschaft zwischen den EU-Institutionen, nationalen Regierungen, Sozialpartnern, Organisationen der Zivilgesellschaft, nationalen und regionalen Parlamenten und anderen Beteiligten hervorbringen wird. Vieles davon wird gemeinsame zielgerichtete Bemühungen erfordern und nicht von heute auf morgen machbar sein. Nach Ansicht des EWSA sollten solche Systeme jedoch entwickelt werden durch den schrittweisen Aufbau einer strategischen, umfassenden, mehrschichtigen Partnerschaft bei gleichzeitiger rascher Umsetzung einfacher Maßnahmen, die kurzfristige Verbesserungen bringen könnten.

6.2

Vor allem aber fordert der EWSA alle EU-Institutionen und nationalen Regierungen auf, ihre politische Verpflichtung zu erneuern, die Sozialpartner, die Organisationen der Zivilgesellschaft, die nationalen Parlamente, die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften und alle sonstigen Akteure regelmäßiger und systematischer einzubeziehen und zu gewährleisten, dass dies im Rahmen starker, tragfähiger und nachhaltiger Mitspracheverfahren im Rahmen von Europa 2020 so umfassend wie möglich geschieht. Der Vertrag von Lissabon schreibt vor, dass die Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene im Zuge der Beschlussfassung anzuhören ist. Wollen die Mitgliedstaaten mehr Identifikation mit und Mitwirkung an Europa 2020 und dem Europäischen Semester, sollten sie dieselbe Disziplin an den Tag legen, indem sie die WSR und vergleichbare Einrichtungen so häufig wie möglich konsultieren.

7.   Der EWSA

7.1

In Bezug auf seine eigene Rolle hält es der EWSA für wesentlich, seinen Fokus und seine strategische Ausrichtung auf alle Teile der Europa-2020-Strategie beizubehalten, um auch weiterhin die von der Strategie und ihren Bestandteilen generierten potenziellen Synergien wahrnehmen zu können.

7.2

Der EWSA ist der Meinung, dass die von seinem Europa-2020-Lenkungsausschuss geleistete Arbeit fortgesetzt und weiterentwickelt werden sollte. Der Lenkungsausschuss sollte sein Hauptaugenmerk weiterhin auf die Strategie und ihre Auswirkungen auf die Öffentlichkeit richten und seine interne Kommunikation mit den nicht an der Arbeit des Lenkungsausschusses beteiligten Mitgliedern ausbauen, damit alle von der Gesamtschau und dem Einblick des Lenkungsausschusses profitieren.

7.3

Nach Auffassung des EWSA hat die Arbeit, die er mit der Koordinierung der Verbindungen zwischen den Wirtschafts- und Sozialräten (sofern vorhanden) und deren Arbeit schrittweise geleistet hat, zwar sehr positive Auswirkungen gezeitigt, könnte jedoch verbessert werden. Viele dieser Organisationen haben – ebenso wie viele ihrer Mitglieder – auch auf nationaler Ebene in der Europa-2020-Strategie eine Rolle zu spielen. Im Hinblick auf eine bessere Mitwirkung an der Europa-2020-Strategie ist dies seiner Ansicht nach ein Bereich, in dem rasche, einfache Maßnahmen erheblichen Nutzen bringen könnten. Der EWSA hält sich für besonders geeignet, zur europäischen Anlaufstelle für die nationalen Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbaren Einrichtungen zu werden und sie insbesondere bei ihrer eigenen Arbeit im Rahmen von Europa 2020 zu unterstützen. Der EWSA ist bereit, eine entsprechende Verpflichtung zum weiteren Ausbau der Kontakte und der Zusammenarbeit einzugehen und diesen Prozess damit einzuleiten, indem er die nationalen Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbare Einrichtungen bei der nächsten Gelegenheit in eine auf die Europa-2020-Strategie ausgerichtete Veranstaltung einbezieht.

8.   Rasch handeln, um kurzfristige Veränderungen zu bewirken

8.1

Der EWSA unterstützt nachdrücklich die Absicht des zyprischen Ratsvorsitzes, die Verfahren der Mitsprache im Rahmen von Europa 2020 zu stärken und die informelle EPSCO-Tagung im Juli 2012 teilweise diesem Thema zu widmen. Der EWSA befürwortet dies als deutlichen Startschuss für die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission, umfassend über die Verbesserung ihres jeweiligen Handelns nachzudenken.

8.2

Der EWSA ersucht alle Mitgliedstaaten, auf nationaler Ebene klarzustellen, welche staatlichen Stellen für welche Maßnahmen von Europa 2020 zuständig sind. Auch sollte das Verhältnis zwischen den für die Koordinierung oder Überwachung der nationalen Reformprogramme und den für die tatsächliche Umsetzung zuständigen Stellen geklärt werden. Schon eine einfache Klarstellung dieser Frage in den einzelnen Mitgliedstaaten würde es den Akteuren ermöglichen, mit den richtigen Stellen zusammenzuarbeiten, um so eine bessere Wirkung zu erzielen.

8.3

Nach Ansicht des EWSA werden die umfassende Transparenz hinsichtlich der in den einzelnen Mitgliedstaaten zum Einsatz kommenden Formen der Mitwirkung sowie die Beschreibung der Verfahren und Instrumente, die die Regierungen einzusetzen beabsichtigen, allen Klarheit darüber verschaffen, was warum wie geschieht.

8.4

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten die Zeitplanung der verschiedenen Maßnahmen im Rahmen des Europäischen Semesters dringend überprüfen sollten. Die dauerhafteste Herausforderung, auf die von fast allen Akteuren in den bestehenden Strukturen hingewiesen wird, ist der Zeitmangel bei jeder Art von reflektierter Reaktion oder wirklicher Debatte. Die Mitgliedstaaten sollten dringend darüber nachdenken, welche Fristen sie derzeit verwenden und wie diese angemessener gestaltet werden könnten.

8.5

Der EWSA bestärkt die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften nachdrücklich darin, ihre Beteiligung an den Europa-2020-Prozessen in ihrem nationalen Rahmen und direkt auf EU-Ebene zu vertiefen. Die Einsetzung der Europa-2020-Monitoringplattform durch den Ausschuss der Regionen ist ein ausgezeichneter Schritt hin zu diesem Ziel. Der EWSA ist der Ansicht, dass diese stärkere Einbeziehung von den nationalen Regierungen unterstützt werden sollte. Das Wissen lokaler und regionaler Gebietskörperschaften um lokale Entwicklungen und potenzielle Anwendungen ist ein wichtiger Bestandteil dessen, was genutzt werden sollte, damit Europa 2020 seine potenzielle Rolle umfassend erfüllen kann.

9.   Entwicklung eines langfristigen umfassenden Mitspracheverfahrens für Europa 2020

9.1

Nach Ansicht des EWSA sind zur Schaffung starker Strukturen für den ständigen Dialog bereits sehr nützliche Modelle vorhanden. Seiner Meinung nach liefert der vom Europarat initiierte Verhaltenskodex für die Teilnahme der Zivilgesellschaft an den Entscheidungsprozessen  (3) ausgezeichnete Rahmenbedingungen und Grundsätze für diese Arbeit, die auf die Europa-2020-Strategie übertragen werden können. Die Verwendung solcher Grundsätze wird es der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten ermöglichen, die Diskussionen auf der Stufenleiter der Einbeziehung schrittweise hinaufzubewegen vom relativ niedrigen Niveau einer hauptsächlich auf Informationsvermittlung ausgerichteten Mitsprache über die offene Konsultation, einen sich entwickelnden Dialog unter den Teilnehmern bis hin zu einer echten Partnerschaft – den vier Hauptetappen entlang des Spektrums der im Kodex beschriebenen partizipativen Verfahren. Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass sich die Verfahren im Rahmen von Europa 2020 fortan schrittweise auf dieser Stufenleiter der Einbeziehung bewegen sollten. Der Kodex bietet auch einige sehr nützliche Hilfsmittel, die auf die Europa-2020-Verfahren angewandt werden könnten.

9.2

Die organisierte Zivilgesellschaft in den Mitgliedstaaten sollte während des gesamten Europäischen Semesters einbezogen werden. Ein sehr wichtiges Verfahren im Bereich Konzeption ist die Ausarbeitung der nationalen Reformprogramme. Das Verfahren der Ausarbeitung durch die Mitgliedstaaten sollte auf einem breiten und stärker auf Zusammenarbeit ausgerichteten Dialog mit den Sozialpartnern und der organisierten Zivilgesellschaft gründen. Diese Akteure steuern bei der Festlegung von Zielen und der Konzipierung von Programmen und Strategien für Bereiche wie Beschäftigung, Bildung und soziale Integration nicht nur Sachverstand bei, sondern sind auch wesentlich an der Umsetzung dieser Strategien beteiligt.

9.3

Eine weitere wichtige Stufe des Europäischen Semesters ist die Veröffentlichung und Überprüfung der länderspezifischen Empfehlungen. Die europäischen Sozialpartner und die organisierte Zivilgesellschaft müssen über die länderspezifischen Empfehlungen für die einzelnen Mitgliedstaaten informiert und dazu konsultiert werden. In diesem Zusammenhang ist der Zeitplan von entscheidender Bedeutung, damit die organisierte Zivilgesellschaft frühzeitig in die Konzipierung der Zukunftsperspektiven für die nachfolgenden Zyklen eingebunden werden kann.

9.4

Der EWSA hat in früheren Stellungnahmen den Leistungsvergleich (Benchmarking) als Möglichkeit zur Messung des Fortschritts bei der Umsetzung der Europa-2020-Strategie vorgeschlagen. Dabei führt ein nationaler WSR oder eine vergleichbare Einrichtung eine Analyse durch und legt anhand von Statistiken, die über die Eurostat-Website frei zugänglich sind, seine eigenen prioritären Kriterien fest. Einige WSR praktizieren dies bereits, und weitere nationale WSR sollten ermuntert werden, dies ebenfalls zu tun. Bei diesem Leistungsvergleich wird die Umsetzung der Reformen von den Akteuren fortlaufend überwacht. Dies ist ein wertvoller Beitrag zur Überarbeitung der nationalen Reformprogramme.

9.5

Es sollten Schritte unternommen werden, um der Debatte über die Umsetzung der Europa-2020-Strategie in den Mitgliedstaaten mehr Schwung zu verleihen, und die Regierungen sollten in Bezug auf die Auswirkungen eines umfassenderen zivilen und sozialen Dialogs über die Strategie wirksamere Feedback-Verfahren entwickeln. Hier kann die Rolle der Zivilgesellschaft von besonderem Wert für die weitere Arbeit sein. Zweckdienlich wären regelmäßig stattfindende Konferenzen in den Mitgliedstaaten unter Teilnahme aller relevanten Akteure, aber auch offene Parlamentsanhörungen zur Erläuterung der nationalen Reformprogramme.

9.6

Es besteht ein Widerspruch zwischen dem wachsenden Bewusstsein unter den EU-Institutionen für die Notwendigkeit einer Konsultation der organisierten Zivilgesellschaft und den Schwierigkeiten, auf die die meisten nationalen WSR und vergleichbaren Einrichtungen derzeit stoßen. Diese Organisationen werden meist überwiegend durch öffentliche Mittel finanziert. In vielen Mitgliedstaaten wurde ihr Budget gekürzt. Dies veranlasst die nationalen Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbaren Einrichtungen dazu, sich ausschließlich auf nationale Prioritäten zu konzentrieren und ihre Beteiligung auf europäischer Ebene zurückzufahren. Die EU-Institutionen sollten darüber nachdenken, wie sie diese Organisationen unterstützen und fördern könnten – zumindest in ihrem Beitrag zum Europäischen Semester.

9.7

Da es von besonderem Wert sein kann, über eine Hauptanlaufstelle für die Anschlussarbeiten mit den nationalen WSR und vergleichbaren Einrichtungen zu verfügen, könnte die Europäische Kommission den EWSA damit beauftragen und darin unterstützen, mindestens einmal im Jahr – unter sorgfältiger zeitlicher Abstimmung mit dem Europäischen Semester – eine Konferenz mit allen nationalen WSR und vergleichbaren Einrichtungen zu veranstalten, um das Europäische Semester, die Europa-2020-Strategie sowie deren Beitrag und bewährte Praktiken in diesem Bereich zu erörtern.

10.   Akteure

10.1

Der EWSA ist überzeugt, dass auch die Akteure selbst ihre Mitwirkung an den Verfahren im Rahmen von Europa 2020 erneuern könnten. Auch wenn die Akteure selbst glauben, dass die Hauptverantwortung bei den Mitgliedstaaten liegt und diese die Verfahren zur Einbeziehung der Partner überarbeiten müssen, könnten sie mehr voneinander lernen und sich selbstbewusster in einen direkten Dialog mit den EU-Institutionen und den nationalen Regierungen begeben. Und auch wenn die Regierungen die Zeitplanung der Verfahren dringend überdenken müssen, sollten die Akteure daran arbeiten, sich selbst frühzeitiger auf die Etappen des Europäischen Semesters einzustellen.

11.   Spezifische Vorschläge zum Themenkreis Beschäftigung, Armut und Ausgrenzung

11.1

In seinem Ersuchen an den EWSA legte der zyprische Ratsvorsitz besonderen Wert auf einen Beitrag zur besseren Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Umsetzung und die Anschlussarbeiten in gesellschaftspolitischen Bereichen wie Armut und Ausgrenzung. Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Mitwirkung der betroffenen Akteure an einem strukturierten und regelmäßigen Dialog auf europäischer und nationaler Ebene entscheidenden Einfluss auf die Möglichkeiten hat, wirkungsvolle Lösungen für diese Probleme zu finden.

11.2

Es ist wichtig, einen Stakeholder-Ansatz zu verfolgen und den strukturierten Dialog mit den Akteuren der Zivilgesellschaft in der Politikgestaltung, der Durchführung und der Weiterverfolgung im Rahmen der Arbeit der Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung zu pflegen. In Bereichen wie Armut und Ausgrenzung sind es oft die zivilgesellschaftlichen Akteure, die direkt an der Basis Trends und gesellschaftliche Entwicklungen registrieren und ins öffentliche Bewusstsein bringen. Ihr zielgerichtetes Eintreten für die Hervorhebung der Nutzerperspektive und die Prävention, aber auch die Entwicklung und Erbringung innovativer Dienstleistungen für diese Zielgruppen liefern wertvolle Erkenntnisse und Erfahrungen für die strategischen Bemühungen gegen Armut und Ausgrenzung. An dieser Stelle unterstreicht der EWSA die strategisch wichtige Rolle der Sozialwirtschaft und der nichtstaatlichen Organisationen, deren Ziel es ist, Armut zu verringern, die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu fördern und Dienste zu entwickeln, die auf kreative Weise dem gesellschaftlichen Bedarf entsprechen.

11.3

Im Rahmen dieser Politikfelder sollten die nationalen Sozialberichte erwähnt werden, die die nationalen Reformprogramme ergänzen und vom Ausschuss für Sozialschutz vorgelegt werden. In diesen Berichten, die auf der offenen Koordinierungsmethode beruhen, wird die soziale Dimension von Europa 2020 bewertet. Sie zeigen ausgehend von der Jahreswachstumsstrategie den dringendsten Reformbedarf auf und enthalten Vorschläge für konkrete Maßnahmen. Es ist von zentraler Bedeutung, ein Verfahren zu schaffen, durch das die betroffenen Akteure besser an den nationalen Sozialberichten beteiligt werden, was bisher nicht in ausreichendem Umfang der Fall ist; ferner muss auch eine bessere Verzahnung mit den nationalen Reformprogrammen hergestellt werden. Von größter Bedeutung ist eine Stärkung der offenen Koordinierungsmethode beim Sozialschutz, wobei integrierte nationale Strategien zum Ausgangspunkt genommen werden sollten, um eine stärkere Verknüpfung mit der europäischen Plattform gegen Armut zu erreichen.

11.4

Der jährlichen EU-Veranstaltung gegen Armut und Ausgrenzung sollte eine entsprechende Anhörung auf nationaler Ebene in Zusammenarbeit mit öffentlichen Stellen, von Armut betroffenen Menschen, nichtstaatlichen Organisationen, sozialwirtschaftlichen Organisationen, den Sozialpartnern und anderen Akteuren der Zivilgesellschaft folgen. Ziel muss es sein, gemeinsam Fortschritte und Mängel in diesem Politikfeld zu ermitteln und zu analysieren und Reformvorschläge zu unterbreiten. Zeitlich sollte diese Veranstaltung auf die Erstellung der nationalen Reformprogramme abgestimmt sein.

11.5

Auch die Veranstaltung regelmäßiger Treffen für Dialog und Konsultation zu spezifischen Fragen sollte mit zeitlichem Vorlauf geplant werden, um interessierten Kreisen Gelegenheit zu geben, ihre Anliegen darzulegen. Im Rahmen der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den Akteuren sollte auch eine Prüfung der sozialen Auswirkungen des Jahreswachstumsberichts und der erzielten Fortschritte vorgenommen werden.

11.6

Die nationalen Reformprogramme und die Festlegung nationaler Ziele sind Schlüsselkomponenten in den Bemühungen um die Umsetzung der Europa-2020-Strategie und der politischen Strategien zur Armutsbekämpfung. Wichtig ist die adäquate Definition des Armutsziels, um auch solche Gruppen zu erfassen, die von einem Armutsrisiko und von mehrfacher Ausgrenzung betroffen sind, damit die Strategien und Reformen wirkungsvoll auf diese Gruppen abgestimmt werden. Hier sind die Einbindung der zivilgesellschaftlichen Akteure und die Partnerschaft mit ihnen maßgeblich, da diese oft frühzeitig in der Lage sind, neue Risikogruppen zu entdecken oder bei ausgegrenzten Gruppen erhöhte Risiken festzustellen.

Brüssel, den 12. Juli 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Wie auch die Schlussfolgerungen der Frühjahrstagungen des Europäischen Rates 2011 und 2012 zeigen.

(2)  "How effective and legitimate is the European Semester? Increasing the role of the European Parliament" 2011.

(3)  http://www.coe.int/t/ngo/code_good_prac_en.asp.