22.5.2012   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 143/94


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Rates zu Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten“

COM(2011) 813 final — 2011/0390 (CNS)

2012/C 143/18

Berichterstatter: Wolfgang GREIF

Der Europäische Rat beschloss am 12. Dezember 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 100 Absatz 2 und Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

"Vorschlag für einen Beschluss des Rates zu Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten"

COM(2011) 813 final – 2011/0390 (CNS).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. Januar 2012 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 22. Februar) mit 111 Stimmen gegen 1 Stimme bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Forderungen und Empfehlungen

1.1   Die Arbeitsmarktaussichten trüben sich im vierten Jahr der Finanzkrise europaweit zunehmend ein. Der EWSA ist tief besorgt, dass vor dem Hintergrund der derzeit in der EU forcierten politischen Prämissen zur austeritätsorientierten Krisenbewältigung die im Rahmen des Schwerpunkts "Integratives Wachstum" der EU-2020-Strategie formulierten Zielvorgaben für die Beschäftigung wahrscheinlich nicht zu erreichen sein werden. Die gleichzeitige Einleitung von Sparprogrammen in der EU birgt die Gefahr in sich, die sich gegenseitig verstärkende Abwärtsbewegung zu beschleunigen und die Wachstumsaussichten weiter einzutrüben, was sich auf die Binnennachfrage als letzte Stütze der Konjunktur ebenso negativ auswirken wird, wie auf die Stabilisierung und die Schaffung von Beschäftigung.

1.2   Europa manövriert sich in den kommenden Jahren in eine äußerst angespannte Beschäftigungslage. Bestimmte Gruppen sind überdurchschnittlich betroffen: Jugendliche, niedrig Qualifizierte, Langzeitarbeitslose, Personen mit Migrationshintergrund, Roma, Alleinerziehende. Um hier entgegenzuwirken, bedarf es rasch zielgerichteter europäischer und nationaler Investitionen mit hoher Beschäftigungswirkung, die koordiniert umgesetzt werden sollten, um beschäftigungspolitische Effekte zu erhöhen.

1.3   Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Jugendarbeitslosigkeit und der bleibenden hohen Zahl der Langzeitarbeitslosen unterbreitet der EWSA folgende auf den Bereich der Beschäftigung fokussierte politische Empfehlungen zur Umsetzung der Beschäftigungsleitlinien:

In Ergänzung zur Zielvorgabe einer generell EU-weit zu erreichenden Beschäftigungsquote sollten künftig messbare EU-Vorgaben auch zu gesonderten Zielgruppen wie Langzeitarbeitslosen, Frauen, Älteren und insbesondere auch Jugendlichen (Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Verbesserung der Beschäftigungssituation) festgeschrieben werden. Die weitgehende Verlagerung der Formulierung konkreter Ziele im Bereich der Beschäftigungspolitik auf die Ebene der Mitgliedstaaten hat sich bislang wenig bewährt.

In diesem Zusammenhang ist insbesondere an einen Indikator zur substanziellen Verringerung der Anzahl jener Jugendlichen zu denken, die weder in Beschäftigung noch in Ausbildung stehen (sog. NEETs).

Der EWSA begrüßt den Vorschlag zur sogenannten "Jugendgarantie" der Kommission, wonach die Mitgliedstaaten gewährleisten sollen, dass alle jungen Menschen innerhalb von vier Monaten nach Schulabschluss eine Anstellung haben, ihre Ausbildung fortsetzen bzw. in Maßnahmen zur Aktivierung und zur Integration in den Arbeitsmarkt eingebunden sein sollen. Im Rahmen der Nationalen Reformpläne sind diesbezüglich konkrete Maßnahmen zu formulieren.

Länder mit besonders angespannter Arbeitsmarktlage im Jugendbereich, die zugleich restriktive Budgetvorgaben zu erfüllen haben, sollten erleichterten Zugang zu Mitteln aus EU-Fonds für Maßnahmen im Sinne der "Jugendgarantie" erhalten (Vereinfachungen bei der Mittelnutzung bis hin zum temporären Entfall nationaler Ko-Finanzierungen).

Trotz angespannter Haushaltslagen in den Mitgliedstaaten ist die Bereitstellung nationaler und europäischer Mittel für Bildung und Beschäftigung junger Menschen und Langzeitarbeitsloser beizubehalten und wo notwendig aufzustocken. In diesem Sinn sind im neuen Finanzplan ab 2014 ausreichend Mittel des ESF aber auch anderer EU-Fonds für jugendspezifische Initiativen sicherzustellen.

In allen EU-Ländern sind die Zugangsbedingungen zu Unterstützungsleistungen bei beschäftigungslosen Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen, die einen Arbeitsplatz bzw. eine Ausbildung suchen, zu überprüfen und ggf. zu verbessern. Die Aufnahme entsprechender Zielvorgaben in den Nationalen Reformprogrammen wird angeraten.

Der EWSA rät von einer Überzahl unbeständiger und perspektivloser Lösungen bei der Integration Jugendlicher in die Arbeitswelt ab: Statt auf prekäre Beschäftigung und unsichere Arbeitsverträge zu setzen, sind Maßnahmen zu implementieren, die sicherstellen, dass befristete Beschäftigung und Arbeitsstellen mit geringer Bezahlung und schlechter sozialer Absicherung nicht zur Norm werden.

Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, besonderes Augenmerk auf die Schaffung eines umfassenden zweiten Arbeitsmarktes zu richten, innerhalb dessen öffentliche Mittel zur Schaffung einer angemessenen Zahl adäquater Arbeitsplätze verwendet würden. Somit würde sichergestellt, dass Langzeitarbeitslose die Gewohnheit zu arbeiten, beibehalten und ihre Fähigkeiten und Kenntnisse verbessern. Eine Zunahme von Armut trotz Erwerbstätigkeit würde hierdurch verhindert und diesen Personen nach der Krise ein sanfter Übergang in den ersten Arbeitsmarkt ermöglicht.

Was die Kommissionsinitiative zu Praktika anbelangt, so unterstützt der EWSA einen entsprechenden europäischen Qualitätsrahmen, um lernfördernde Arbeitssituationen mit bindenden Verträgen zu fördern. Das in einigen Mitgliedstaaten seit längerer Zeit mit Erfolg praktizierte duale System der Lehre mit allgemeiner und beruflicher Bildung sollte bezüglich seiner teilweisen Übertragbarkeit untersucht werden.

2.   Einleitung

2.1   Der Rat der EU hat am 21. Oktober 2010 beschlossen, die neuen beschäftigungspolitischen Leitlinien bis 2014 unverändert zu belassen, um das Hauptaugenmerk auf die Umsetzung zu legen. Aktualisierungen sollten auf ein Mindestmaß beschränkt bleiben.

2.2   Trotzdem nimmt der EWSA die gemäß Artikel 148 (2) AEUV vorgesehene jährliche Befassung zum Anlass, auf die Umsetzung der Leitlinien zurückzukommen,

um der Frage nachzugehen, ob die Erreichung der festgelegten Zielvorgaben vor dem Hintergrund aktueller Trends auf den Arbeitsmärkten und den derzeit in der EU forcierten politischen Prämissen zur Krisenbewältigung vorangebracht werden kann;

darüber hinaus wird v.a. die sich zuspitzende Lage der Jugendarbeitslosigkeit sowie jene der Langzeitarbeitslosen in den Blick genommen und dazu dringend gebotene politische Empfehlungen unterbreitet.

2.3   Der EWSA zeigt sich erfreut, dass bei der Endfassung der Leitlinien in 2010 mehrere seiner Vorschläge (1) Aufnahme in den Beschlusstext des Rates gefunden haben, stellt aber zugleich fest, dass andere dargelegte Defizite nicht beachtet wurden. Er kommt daher auf einige zentrale Kommentare aus seiner Stellungnahme zurück, die nach wie vor von dringender Relevanz sind. So wurde u.a. befunden,

dass die Leitlinien vor dem Hintergrund der Krise die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als oberste Priorität ungenügend widerspiegeln;

dass die neuen Leitlinien von einem deutlich geschwächten europäischen Ansatz geprägt sind, indem sie neben wenigen europäischen Kernzielen die beschäftigungspolitische Zielformulierung gänzlich den Mitgliedstaaten überlässt;

dass in Ergänzung zur Zielvorgabe einer generell zu erreichenden Beschäftigungsquote messbare EU-Vorgaben auch zu gesonderten Zielgruppen wie Langzeitarbeitslosen, Frauen, Älteren und auch Jugendlichen festgeschrieben werden sollen;

dass darüber hinaus EU-Vorgaben u.a. auch zur Geschlechtergleichstellung, beim Kampf gegen Langzeitarbeitslosigkeit, gegen Arbeitsverhältnisse mit mangelnder sozialer Absicherung, gegen Jugendarbeitslosigkeit und Armut von Kindern und Jugendlichen notwendig sind;

dass die Leitlinien keinerlei konkrete Ausführungen zur Qualität der Arbeit enthalten.

2.4   In dieser Stellungnahme werden diese Punkte vor dem Hintergrund aktueller Trends auf den europäischen Arbeitsmärkten in der laufenden Wirtschaftskrise in den Blick genommen.

3.   Zunehmend angespannte Beschäftigungslage im Zuge der Krise

3.1   Die Finanzkrise entwickelte sich zur fundamentalen Wirtschafts-, Schulden- und Sozialkrise (2). Von offizieller Seite wird festgestellt, dass die Erholung der EU-Wirtschaft beendet ist. Auch die Arbeitsmarktaussichten trüben sich zunehmend ein (3). Die Folgen der Krise spitzen sich zu – nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen Einbrüche in vielen EU-Ländern, sondern v.a. auch, weil die große Mehrheit der Regierungen auf die sog. Schuldenkrise, die u.a. aufgrund der massiven Deregulierung der Finanzmärkte in den letzten Jahren entstanden ist, mit forcierter Sparpolitik reagiert und so versucht, die Finanzmärkte zu beruhigen. In fast allen EU-Ländern steht im Zuge der Umsetzung der neu adaptierten Regeln zur wirtschaftspolitischen Steuerung im Euro-Raum und darüber hinaus die Reduzierung öffentlicher Defizite mit zum Teil empfindlichen Einschnitten bei öffentlichen Ausgaben, fokussiert auf Einschränkungen von Sozialausgaben und öffentlichen Diensten, im Mittelpunkt der anstehenden Konsolidierung (4). Diese Politik verengt die Arbeitsmarktchancen, nicht zuletzt jener, die bisher schon zu den benachteiligten Gruppen gezählt haben.

3.2   Europa wird vor diesem Hintergrund in den kommenden Jahren eine äußerst angespannte Beschäftigungslage erleben. Im vierten Jahr der Finanz- und Wirtschaftskrise setzt sich die Verschlechterung der Beschäftigungsaussichten fort. Trotz konjunkturstützender Anstrengungen in erster Reaktion auf die Krise sowie wirtschaftlicher Erholung in einzelnen EU-Ländern stieg die Arbeitslosigkeit in der EU 2008-2011 von 6,9 % auf 9,4 % (5).

3.3   Somit sind heute mehr als 22 Mio. Menschen EU-weit ohne Arbeit, wobei es große Unterschiede in der EU gibt: So divergieren die Arbeitslosenraten im 2. Quartal 2011 (2011Q2) zwischen weniger als 5,5 % in Österreich, Luxemburg und den Niederlanden bis zu mehr als 14 % in Irland, Litauen, Lettland und Griechenland und 21 % in Spanien. Jugendliche sind noch weit stärker von Arbeitslosigkeit betroffen. In mehreren Ländern – nicht nur im Süden Europas – kam es während der Krise zu einer beunruhigenden Zuspitzung: zur Verdoppelung der Arbeitslosenquote etwa in Spanien, Irland und – ausgehend von niedrigem Niveau – auch in Dänemark, in den baltischen Ländern sogar zu einer Verdreifachung; lediglich in Deutschland und Luxemburg gab es bis 2010 einen Rückgang der Arbeitslosigkeit. Trotz steigender Arbeitslosigkeit ist in einigen Ländern auch ein Anstieg offener Stellen zu verzeichnen. Auf Grund der demografischen Entwicklung sowie des anhaltenden Strukturwandels ist damit zu rechnen, dass sich dieses Paradoxon in den nächsten Jahren noch verschärfen wird.

Junge und Geringqualifizierte waren während der Krise besonders von steigender Arbeitslosigkeit getroffen, wobei beide Gruppen bereits zuvor deutlich über dem Durchschnitt lagen.

Die Arbeitslosenrate von Personen mit geringem Bildungsgrad liegt 2011Q2 bei 16,3 %, Personen mit mittlerer und hoher Bildung weisen eine Quote von 8,6 % bzw. 5,3 % auf.

Die Arbeitslosenrate sowohl bei Männern als auch bei Frauen aller Altersgruppen ist gestiegen. Sie liegt in 2011Q2 bei 9,4 %, respektive 9,5 %. In der ersten Phase der Krise stieg die Arbeitslosenrate von Männern schneller, da in stärkerem Maße von Männern dominierte Branchen (z.B. Verarbeitungs- und Bauindustrie) betroffen waren. In der zweiten Phase stieg die Arbeitslosenrate von Frauen steiler an, da nun infolge der ergriffenen Sparmaßnahmen die von Frauen dominierten Bereiche (z.B. Dienstleistungen, öffentlicher Sektor) betroffen wurden.

Arbeitsmigranten, die bereits vor der Krise höhere Arbeitslosenraten als der Durchschnitt aufwiesen, sind übermäßig von einem Anstieg der Arbeitslosigkeit betroffen. Ihre Arbeitslosenrate liegt 2011Q2 bei 16,3 %.

Die Langzeitarbeitslosigkeit (>12 Monate), die wegen der starken Eintritte in die Arbeitslosigkeit, statistisch vorübergehend stark gesunken war, liegt in 2011Q2 im EU-Schnitt mit 43 % wieder auf Vorkrisenniveau. Stark und frühzeitig von der Krise betroffene Länder (Spanien, Irland, baltische Länder) weisen starke Zuwächse gegenüber 2008 auf. In naher Zukunft wird diese Gruppe aufgrund stagnierender Nachfrage deutlich größer werden.

3.4   Vor dem Hintergrund, dass die Jugendarbeitslosigkeit bereits vor der Krise besorgniserregende Ausmaße angenommen hat, hat der EWSA bereits aufgezeigt, dass sie jetzt zu einem der bedrohlichsten Probleme auf dem europäischen Arbeitsmarkt geworden ist (6). Sie nahm generell dramatisch zu und beträgt derzeit EU-weit knapp 21 %. Mehr als 5 Mio. junge Menschen (15-24 Jahre) sind heute ohne Arbeit oder Ausbildungsplatz, was mit enormen individuellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen verbunden ist: aktuelle Schätzungen von Eurofound weisen Kosten von mehr als 100 Mrd. EUR pro Jahr aus, die aufgrund des Ausschlusses Jugendlicher vom Arbeitsmarkt erwachsen (7). In Griechenland und Spanien sind mehr als 40 % der Jugendlichen arbeitslos, in Lettland, Litauen und Slowakei annähernd jeder dritte.

Die Sorge über die Jugendarbeitslosigkeit wird durch zwei Indikatoren genährt: die Arbeitslosenrate (8) und die NEET-Rate, die beide gestiegen sind. Der NEET-Indikator ist insofern besonders interessant, als er Auskunft über die Situation junger Menschen im Alter von 15-24 Jahren gibt, die sich nicht in Beschäftigung, Bildung oder Ausbildung ("Not in Employment, Education or Training") befinden.

Zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten sind deutliche Unterschiede zu verzeichnen: am besten ist die Situation in Dänemark, den Niederlanden, Slowenien und Österreich mit Raten von unter 7 %, während die Lage in Italien und Bulgarien mit Raten zwischen 19,1 % und 21,8 % besonders schwierig ist. Der Durchschnitt der EU-27 liegt 2010 bei 12,8 %. Durch die Krise scheinen sich die NEET-Raten insbesondere in Spanien, Irland, Litauen, Estland und Lettland verschlechtert zu haben.

Schulabbrecher bilden eine weitere Kategorie von Personen, die aufgrund geringer Bildung ein hohes Arbeitslosigkeitsrisiko haben. Trotz des Fakts, dass sich die Schulabbrecherquoten in einigen Ländern (z.B. Spanien, Portugal, Estland, Lettland und dem Vereinigten Königreich) in der Krise verringert haben, liegt die Quote 2010 im europäischen Durchschnitt mit 14,1 % nach wie vor deutlich oberhalb des Europa-2020- Ziels von unter 10 % (9). Die Länderunterschiede sind groß: Portugal und Spanien verzeichnen Raten von über 28 % und die Schulabbrecherquote in Malta liegt bei fast 37 %, während die Quoten in der Slowakei, der Tschechischen Republik und in Slowenien unter 5 % liegen (10).

3.5   Diese Entwicklung bei den Arbeitslosenraten spiegelt sich auch in der Beschäftigungsquote, die während der Krise merklich gesunken ist: im EU-Schnitt bei den 20-64-Jährigen von 70,5 % in 2008Q2 auf 68,9 % in 2011Q2. Bereits bei Verabschiedung der Leitlinien 2010 war klar, dass ein ganzes Jahrzehnt erforderlich sein wird, um die gut 10 Mio. Arbeitsplätze wiederzugewinnen, die seit Ausbruch der Krise verloren gegangen sind. Die Lage hat sich seither kaum verbessert. Im EU-Durchschnitt sind zwischen 2010Q2 und 2011Q2 nur minimale Beschäftigungszuwächse zu verzeichnen; einige Ländern weisen im letzten Jahr deutliche Zuwächse auf (Estland, Litauen, Lettland und Malta) in anderen sinkt die Beschäftigung weiterhin deutlich (Griechenland, Bulgarien, Slowenien und Rumänien). Insgesamt sind die EU-Länder nach wie vor weit von der Erreichung des EU-2020-Kernziels einer allgemeinen Beschäftigungsquote von 75 % (für 20-64-Jährige) entfernt (11). Während der Wirtschaftskrise sind Jugendliche nicht nur weit stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als alle anderen Altersgruppen, sie hatten auch weit größere Beschäftigungsrückgänge hinzunehmen.

3.6   Entsprechend den Entwicklungen während der Lissabon-Phase hat sich in der Krise der allmähliche Anstieg der Teilzeitbeschäftigung fortgesetzt. Unter Berücksichtigung der deutlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern ist die Teilzeitbeschäftigungsquote in der EU von 17,6 % der Gesamtbeschäftigung in 2008Q2 auf 18,8 % in 2011Q2 angestiegen.

Frauen sind in Teilzeit deutlich überrepräsentiert mit einer durchschnittlichen Rate von 31,6 in 2011Q2 im Vergleich zu 8,1 bei Männern.

Junge Arbeitnehmer sind mit einer EU-weiten Zunahme der Teilzeitbeschäftigungsquote von diesem Phänomen deutlich stärker betroffen als Arbeitnehmer mittleren Alters und ältere Arbeitnehmer.

Die Teilzeitbeschäftigung hat außerdem unter den Arbeitnehmern mit geringstem Bildungsgrad stärker zugenommen.

Kurzarbeit ermöglicht den Menschen während der Krise im Kontakt mit dem Arbeitsmarkt zu bleiben und bietet ihnen eine gute Ausgangsposition, um nach der Krise wieder in Vollzeitbeschäftigung zu wechseln.

Während der Krise ist jedoch auch die Zahl der Arbeitnehmer in unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung  (12) beträchtlich angewachsen. In den Ländern, die am stärksten von der Krise betroffen sind (baltische Staaten, Spanien, Irland), stieg die Quote unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung zwischen 2008 und 2010 deutlicher an als im Durchschnitt. Für Frauen ist Teilzeitbeschäftigung auf Grund der Betreuung von Kindern oder erwerbsunfähigen Erwachsenen in vielen Ländern nach wie vor hoch.

3.7   Die Zahl der befristeten Arbeitsverhältnisse stieg in der EU 2007Q2 auf einen Spitzenwert von 14,6 %. Die Daten der EU-Arbeitskräfteerhebung enthalten unter dieser Rubrik auch Leiharbeitnehmer, es sei denn es liegt ein unbefristeter schriftlicher Arbeitsvertrag vor (13). Da Arbeitnehmer mit befristeten Verträgen und Leiharbeitnehmer in der Krise stark von Arbeitslosigkeit betroffen waren, sank deren Anteil 2009Q2 zusammengenommen auf ein Tief von 13,5 %. Der jüngste Anstieg auf 14,2 % in 2011Q2 zeigt, dass Unternehmen dazu tendieren, Arbeitnehmer auf der Grundlage befristeter Verträge wie auch über Leiharbeitsfirmen neu einzustellen. Erkennbar wird hieraus nicht zuletzt, dass die Arbeitgeber wenig Vertrauen in die Dauerhaftigkeit des Konjunkturaufschwungs haben und sich bemühen, auf die Situation zu reagieren.

Die länderspezifischen Unterschiede im Umfang mit der befristeten Beschäftigung sind beträchtlich: während in einigen zentral- und osteuropäischen Mitgliedstaaten, wie Rumänien, Bulgarien, Litauen und Estland, die Quote unter 5 % liegt, weisen Portugal, Spanien und Polen Quoten von etwa 23-27 % auf.

Die Wahrscheinlichkeit eines befristeten Beschäftigungsverhältnisses ist bei jungen Arbeitnehmern (15-24 Jahre) mit Abstand am höchsten (2010: 42,2 %). Dies trifft für fast alle Länder zu. Zu einem gewissen Maß ist es in vielen Bereichen üblich geworden, dass junge Menschen zunächst ein befristetes Arbeitsverhältnis eingehen. Oft ist dieses allerdings unfreiwillig. Dies ist einer der Gründe dafür, dass sich die Arbeitsmarktsituation junger Menschen während der Krise dramatisch verschlechtert hat.

Zudem sind etwa 20 % der Geringqualifizierten befristet beschäftigt – eine Quote, die weitaus höher ist als bei Arbeitnehmern mit mittlerer und hoher Qualifikation (etwa 12-13 %).

Der Anteil der unfreiwillig befristet Beschäftigten ist zwischen 2008 und 2010 um etwa 2 % angestiegen; dieses Phänomen ist besonders in Litauen und Irland zu beobachten, zwei der am stärksten von der Krise betroffenen Länder, sowie in der Tschechischen Republik, in Dänemark und Großbritannien.

3.8   Armut trotz Erwerbstätigkeit: Aus den Daten von Eurostat für 2009 geht hervor, dass sowohl Beschäftigte in befristeter Beschäftigung als auch Teilzeitbeschäftigte, aber auch junge Menschen und Alleinerziehende ein höheres Risiko haben, trotz Erwerbstätigkeit in Armut zu geraten als Arbeitnehmer in unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen und Vollzeit-Beschäftigte.

Für jüngere Arbeitnehmer (18-24 Jahre) besteht ein weitaus höheres Risiko von Armut trotz Arbeit  (14) als dies durchschnittlich für die Gruppe der 25-64-Jährigen in mehreren EU-Mitgliedstaaten der Fall ist.

In ähnlicher Weise sind auch Alleinerziehende, für die eine Teilzeitbeschäftigung oft nicht vermeidbar ist, und Geringqualifizierte sowohl unverhältnismäßig stark von dem Phänomen der Zeitarbeit und Teilzeitarbeit betroffen als auch bei den Vollzeit-Niedriglohnjobs überdurchschnittlich stark vertreten, was sich in einem höheren Anteil an armen Erwerbstätigen niederschlägt.

4.   EU-weite Austeritätspolitik verschärft Arbeitsmarktlage und erschwert Erreichung beschäftigungspolitischer Ziele

4.1   Durch die gleichzeitige Einleitung von Sparprogrammen in der EU kann sich die gegenseitig verstärkende Abwärtsbewegung beschleunigen und die Wachstumsaussichten können weiter eingetrübt werden. Da manche Länder nicht zugleich den notwendigen Strukturreformen genügend Aufmerksamkeit widmen und sich keine neuen Wachstumsmöglichkeiten eröffnen, wirken Ausgabenkürzungen negativ auf die Binnennachfrage als letzte Stütze der Konjunktur und führen zu sinkenden Steuereinnahmen und steigenden Sozialausgaben. Es droht ein weiterer Anstieg der Haushaltsdefizite und somit die zunehmende wirtschaftspolitische Handlungsunfähigkeit von immer mehr EU-Staaten. Dieser Weg, die Budgetkonsolidierung vornehmlich an Austerität zu orientieren, ist somit nicht nur sozial bedenklich, er unterminiert auch die Möglichkeit zukunftsorientierter wirtschaftlicher Erholung. Der EWSA ist tief besorgt, dass mit diesen Maßnahmen die Krise nicht überwunden werden kann und auch die in der EU-Beschäftigungsstrategie formulierten Zielvorgaben nicht zu erreichen sein werden.

4.2   Der EWSA wiederholt daher seine Forderung nach einem weiteren europäischen Konjunkturprogramm mit umfangreicher arbeitsmarktpolitischer Wirkung in der Größenordnung von 2 % des BIP (15). Neben zusätzlichen nationalen Investitionen, die koordiniert umgesetzt werden sollen, um beschäftigungspolitische Effekte zu erhöhen, gilt es, europäische Investitionsprojekte zu identifizieren. Die geplanten Ausgaben sollten sich im Umfang von 1 % auf Investitionen mit hoher Beschäftigungswirkung beziehen sowie darüber hinaus explizit auf arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, die je nach regionaler Arbeitsmarktlage in den EU-Ländern unterschiedliche Formen annehmen können.

4.3   Die öffentlichen Haushalte werden nicht für alles heranzuziehen sein, von Bankenrettungen über soziale und innovative Investitionen bis hin zur Unternehmensförderung. Aus Sicht des EWSA ist im Zuge intelligenter Konsolidierungen der Haushalte neben Ausgabenkürzungen, die sozialverträglich gestaltet sein sollten, auch die Erschließung neuer Einnahmequellen unumgänglich. Insbesondere bedarf es einer Stärkung der Steueraufkommensbasis der Mitgliedstaaten. Darüber hinaus ist ein generelles Überdenken der Steuersysteme angebracht, wobei Fragen hinsichtlich der Beiträge unterschiedlicher Arten von Einkommen und Vermögen zu berücksichtigen sein werden. Dies hat gleichzeitig mit einer Steigerung der Effizienz und Treffsicherheit öffentlicher Ausgaben zu erfolgen.

4.4   Aus Sicht des EWSA dürfen die Sparmaßnahmen das Armutsrisiko nicht erhöhen und die Ungleichheiten, die in den letzten Jahren bereits angestiegen sind, nicht weiter verschärfen. Bei allen Maßnahmen, aus der Krise herauszukommen, ist darauf zu achten, dass sie nicht der Belebung von Nachfrage und Beschäftigung während und nach der Krise und der Abfederung sozialer Härten zuwiderlaufen. Die Mitgliedstaaten müssen dabei auch beachten, dass die Maßnahmen zur Überwindung der Wirtschaftskrise und der Staatsverschuldung nicht die öffentlichen Investitionen in Arbeitsmarktpolitik und die allgemeine und berufliche Bildung gefährden. Der EWSA fordert wirksame soziale Folgenabschätzungen, um zu untersuchen, wie das EU-Ziel, mindestens 20 Mio. Menschen bis 2020 den Weg aus Armut und sozialer Ausgrenzung zu eröffnen, erreicht werden kann.

4.5   Sparmaßnahmen treffen in erster Linie jene am härtesten, die von staatlichen Transferleistungen abhängig sind, darunter auch jene mit prekären Arbeitsverhältnissen und andere benachteiligte Gruppen am Arbeitsmarkt. Die am stärksten von Arbeitslosigkeit Betroffenen sind in aller Regel auch jene, die erschwerten und limitierten Zugang zu Unterstützungsleistungen haben. Daher bedarf es ausreichender, effektiver und nachhaltiger sozialer Sicherungsnetze, wobei auf die am stärksten betroffenen und benachteiligten Gruppen am Arbeitsmarkt (u.a. Jugendliche, Migrant/innen, Roma, Behinderte, Alleinerzieherinnen, Niedrigqualifizierte) besonders geachtet werden muss.

4.6   Was die Herausforderungen betrifft, die mit der Alterung in Europa auf die Arbeitsmärkte zukommt, hat der EWSA kürzlich Stellung bezogen und dabei festgehalten, dass die bei weitem effektivste Strategie in der größtmöglichen Nutzung vorhandener Beschäftigungspotenziale liegt. Dies ist nur durch gezielte Wachstumspolitik und die Verfolgung einer Teilhabechancen eröffnenden Politik zu erreichen. Sie erstreckt sich über die altersgerechte Gestaltung der Arbeitswelt, den Ausbau der Aus- und Weiterbildung, die Schaffung qualitativ hochwertiger und produktiver Arbeitsplätze, die Sicherstellung leistungsfähiger sozialer Sicherungssysteme, umfassende Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie u.a.m. (16) Darüber hinaus ist das wirtschaftliche Potential der "Seniorenwirtschaft" ("Silver Economy") voll zu nutzen.

5.   Forderungen und Empfehlungen zur Jugendbeschäftigung und zur Langzeitarbeitslosigkeit

5.1   Festschreibung ambitionierter EU-Zielvorgaben zur Jugendbeschäftigung

5.1.1

In den bestehenden Leitlinien findet sich ein Indikator zur Verringerung der Anzahl Junger, die weder Arbeit haben noch eine schulische oder berufliche Ausbildung absolvieren (NEET). Zwar haben die Mitgliedstaaten Maßnahmen entlang der unterschiedlichen Besonderheiten der NEET-Untergruppen diversifiziert, wobei auch besonders Benachteiligten Aufmerksamkeit geschenkt wurde (17), trotzdem fehlen nach wie vor konkrete Zielvorgaben zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und zur Verbesserung der Beschäftigungssituation von Jugendlichen. Der EWSA wiederholt seine Forderung, dass dieser zentrale Punkt in den Leitlinien weit deutlicher zum Ausdruck kommen muss, v.a. über die Ergänzung messbarer europäischer Vorgaben zur Jugendbeschäftigung: insbesondere 1.) eine Zielvorgabe zur signifikanten Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit sowie 2.) eine maximale Frist von vier Monaten zur Aktivierung Arbeit bzw. Lehrstellen suchender Jugendlicher. Die Überlassung spezifischer Zielvorgaben zur Jugendbeschäftigung auf Ebene der Mitgliedstaaten hat jedenfalls wenig gefruchtet, nur einzelne Länder haben entsprechende Ziele in ihren Nationalen Reformprogrammen formuliert (18).

5.2   "Jugendgarantie" im Bereich NEET durch Mitgliedstaaten konsequent umsetzen

5.2.1

Der EWSA zeigt sich erfreut, dass seine Forderung, wonach die Mitgliedstaaten gewährleisten sollen, dass alle jungen Menschen innerhalb von vier Monaten nach Schulabschluss eine Anstellung haben, ihre Ausbildung fortsetzen bzw. in Maßnahmen zur Aktivierung und zur Integration in den Arbeitsmarkt eingebunden sein sollen, in Form des Vorschlages zu einer "Jugendgarantie" Aufnahme in die Leitinitiative "Jugend in Bewegung" gefunden hat (19). Der EWSA schließt sich in diesem Kontext uneingeschränkt den Aufforderungen der Kommission an, wonach die Mitgliedstaaten umgehend entsprechende Hürden zu identifizieren haben. Im Rahmen der Nationalen Reformpläne sind diesbezüglich konkrete Maßnahmen zu formulieren, um diese zu beseitigen. Hierzu wird es in vielen Ländern notwendig sein, die von den öffentlichen Arbeitsverwaltungen gewährte spezifische Unterstützung massiv auszubauen, wobei vermehrte Aufmerksamkeit Benachteiligten (v.a. auch jenen mit Migrationshintergrund und Roma) gelten muss.

5.2.2

Die Mitgliedstaaten sind dabei auch gefordert, die generell in den Beschäftigungsleitlinien vereinbarten Prioritäten auch im Bereich Jugendlicher effektiv umzusetzen und sich entsprechend ambitionierte Vorgaben und Ziele zu setzen, wozu u.a. auch ausgewogene Maßnahmen zur Erhöhung der Flexibilität und Sicherheit, die Förderung der Arbeitskräftemobilität, die Schaffung angemessener Systeme der Sozialen Sicherung zur Absicherung des Übergangs am Arbeitsmarkt sowie die Förderung des Unternehmertums und adäquater Rahmenbedingungen zum Erhalt und zur Schaffung von Arbeitsplätzen insbesondere auch im KMU-Bereich gehören.

5.3   Vermehrte EU-Mittel und leichterer Zugang zu EU-Mitteln zur Bekämpfung der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit

5.3.1

Um die Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit kurzfristig zu senken, drängt der EWSA auf gesonderte Maßnahmen im Bereich der Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, gerade auch in Zeiten angespannter Haushaltslagen. Die Kommission hat aktuell in ihrer Initiative "Chancen für junge Menschen" (20) sinngemäß gefordert, dass schnelle und unbürokratische Hilfe v.a. in jenen Ländern notwendig ist, die am stärksten von Jugendarbeitslosigkeit betroffen sind (21). Mitgliedstaaten mit besonders angespannter Arbeitsmarktlage im Jugendbereich und hoher Langzeitarbeitslosigkeitsrate, die derzeit zugleich restriktive Budgetvorgaben zu erfüllen haben, sollen erleichterten Zugang zu Mitteln aus EU-Fonds insbesondere für Maßnahmen im Sinne der "Jugendgarantie" sowie hinsichtlich von Investitionen zur Schaffung von Arbeitsplätzen erhalten. Notwendig sind pragmatische und flexible Vorgangsweisen und Vereinfachungen bei der Administration zur Mittelnutzung bis hin zum temporären Entfall nationaler Ko-Finanzierungen beim Mittelbezug durch den ESF sowie anderer europäischer Fonds.

5.4   Angemessene Mittel zur Bekämpfung der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit im neuen EU-Budget

5.4.1

Der EWSA hat bereits betont, wie wichtig es ist, trotz der Neubewertung der Haushaltsprioritäten, die durch die Wirtschaftskrise in allen EU-Staaten erforderlich wurde, die Bereitstellung nationaler und europäischer Mittel für Bildung, Ausbildung und Beschäftigung von jungen Menschen und Langzeitarbeitslosen beizubehalten und wo notwendig aufzustocken (22). In diesem Sinn fordert der EWSA, in der neuen Finanzplanung ab 2014 ausreichend Mittel des ESF für Initiativen für junge Menschen und Langzeitarbeitslose sicherzustellen  (23). Darüber hinaus sollte aus Sicht des EWSA u.a. auch geprüft werden, wie auch die anderen EU-Fonds für Maßnahmen im Kampf gegen die Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit genutzt werden können.

5.5   Verbesserter Zugang Jugendlicher und Langzeitarbeitsloser zu Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosigkeit

5.5.1

Die EU-Mitgliedstaaten unterscheiden sich erheblich hinsichtlich Zugang und Leistungsumfang bei sozialen Sicherungsleistungen nicht nur für Jugendliche. In den Beschäftigungsleitlinien wurden die Mitgliedstaaten richtigerweise aufgefordert, ihre sozialen Sicherungssysteme anzupassen, um bei flexibleren Arbeitsmärkten keine Sicherheitslücken aufkommen zu lassen. Das betrifft alle Altersgruppen gleichermaßen. Aus Sicht des EWSA wurde bislang jedoch der in den meisten Mitgliedstaaten feststellbare stark eingeschränkte Zugang Jugendlicher zu Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosigkeit zu wenig thematisiert (24). Einige Länder haben unter entsprechenden Konditionalitäten den Zugang zu Arbeitslosenleistungen für benachteiligte Gruppen – so auch Jugendliche – in der Krise verbessert. Diese Maßnahmen waren aber zeitlich beschränkt oder unterliegen dem Risiko der Rücknahme im Rahmen geplanter Sparpakete.

5.5.2

Der EWSA fordert, in allen Mitgliedstaaten die Zugangsbedingungen auf Unterstützungsleistungen beschäftigungsloser Jugendlicher und Langzeitarbeitsloser, die arbeitsbereit sind und einen Arbeitsplatz bzw. eine Ausbildung suchen, zu überprüfen und ggf. zu verbessern. Auch die Aufnahme entsprechender Zielvorgaben in den Nationalen Reformprogrammen ist anzuraten. Dies wäre ein bedeutender Beitrag zur Bekämpfung der prekären Situation vieler Jugendlicher im Übergang auf den Arbeitsmarkt.

5.6   Kampf prekärer Arbeit und nicht-regulierter Formen im Bereich Lehre/Praktika

5.6.1

Bei 15- bis 24-Jährigen ist nicht nur die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie bei Erwachsenen, sondern auch der Anteil unsicherer Arbeitsverhältnisse (in einigen Ländern mehr als 60 %), die Zunahme nicht-regulierter Ausbildungen und Praktika (v.a. in südlichen Ländern (25)) sowie die Arbeit unterhalb des Qualifikationsniveaus. Der EWSA rät von einer Überzahl unbeständiger und perspektivloser Lösungen bei der Integration in die Arbeitswelt ab: Statt auf prekäre Beschäftigung und unsichere Arbeitsverträge zu setzen, sind Maßnahmen zu implementieren, die sicherstellen, dass befristete Beschäftigung und Arbeitsstellen mit geringer Bezahlung und schlechter sozialer Absicherung nicht zur Norm für Jugendliche werden.

5.6.2

Der EWSA hat in zahlreichen Stellungnahmen zu notwendigen Handlungsfeldern hinsichtlich der Anpassung im Bereich der Bildung und Qualifikation Stellung genommen, um u.a. auch sicherzustellen, dass junge Menschen die Ausbildung erwerben, die am Arbeitsmarkt auch nachgefragt wird (26). Um bestehenden Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt, verursacht u.a. durch ungenügende Qualifikationen, begrenzte geografische Mobilität oder unangemessene Entlohnung (27), zu begegnen, sind die Ausbildungseinrichtungen gefordert, die Anpassung ihrer Lehrpläne auch an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes zu orientieren, aber auch die Arbeitgeber, ihre Kanäle zum Anwerben von neuen Arbeitnehmern zu erweitern, ebenso wie die Behörden, die in effektive aktive Arbeitsmarktmaßnahmen investieren müssen. Auch die Auszubildenden selbst tragen eine Verantwortung hinsichtlich der künftigen Beschäftigungsfähigkeit.

5.6.3

Was die Kommissionsinitiative zu Praktika anbelangt, so unterstützt der EWSA einen entsprechenden europäischen Qualitätsrahmen, für den auch bei den Unternehmen geworben werden sollte, damit diese lernfördernde Arbeitssituationen mit beidseitig bindenden Verträgen insbesondere auch für bildungsbenachteiligte Jugendliche anbieten. Das duale System der Lehre mit allgemeiner und beruflicher Bildung zeitigt in mehreren Ländern positive Ergebnisse und sollte bezüglich seiner teilweisen Übertragbarkeit untersucht werden.

5.7   Grundsätze für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit

5.7.1

Der EWSA schlägt Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit vor, die sich auf die folgenden Grundsätze stützen: Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit von Jugendlichen durch eine Reform der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung, die zu einer besseren Abstimmung der Qualifikationen auf die Erfordernisse des Arbeitsmarkts führt und Partnerschaften zwischen Schulen, Wirtschaft und Sozialpartnern umfasst; aktive Arbeitsmarktmaßnahmen, einschließlich einer besseren Förderung und mehr Anreizen für Jugendliche, eine Beschäftigung anzunehmen; Überprüfung der Auswirkungen der Vorschriften zum Kündigungs- bzw. Beschäftigungsschutz; Förderung von unternehmerischer Initiative bei jungen Menschen.

5.8   Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit und Verlust des Kontakts zum Arbeitsmarkt

5.8.1

Die andauernde krisenbedingte Stagnation der Nachfrage nach Arbeitskräften führt zu einem Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit, die wiederum ernsthafte Probleme bei der Integration in den Arbeitsmarkt und zunehmende Armut trotz Erwerbstätigkeit mit sich bringt. Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten, besonderes Augenmerk auch auf die Schaffung eines zweiten Arbeitsmarktes zu richten, innerhalb dessen öffentliche Mittel zur Schaffung einer angemessenen Zahl adäquater Arbeitsplätze verwendet werden. Somit würde sichergestellt, dass Langzeitarbeitslose den Anschluss zur Arbeitswelt erhalten und ihr Know-how verbessern. Eine Zunahme von Armut trotz Erwerbstätigkeit würde hierdurch verhindert und diesen Personen nach der Krise ein sanfter Übergang in den ersten Arbeitsmarkt ermöglicht.

Brüssel, den 22. Februar 2012

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  EWSA-Stellungnahme zu dem "Vorschlag für einen Beschluss des Rates über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten – Teil II der integrierten Leitlinien zu Europa 2020", Berichterstatter: Herr GREIF (ABl. C 21 vom 21.1.2011, S. 66).

(2)  Der EWSA hat in zahlreichen Stellungnahmen und bei unterschiedlichen Gelegenheiten zu den Auswirkungen der Krise und notwendigen Schritten ihrer Bewältigung Stellung bezogen. So etwa in prominenter Weise in einer Erklärung seines Präsidenten bei der Plenartagung im Dezember 2011; http://www.eesc.europa.eu/resources/docs/di_ces20-2011_di_de.doc.

(3)  Siehe etwa die Europäische Kommission in ihrer kürzlich veröffentlichten Herbstprognose 2011-2013.

(4)  Zu den sozialen Folgen der neuen Economic Governance siehe die EWSA-Stellungnahme vom 22.2.2012 zu dem Thema "Soziale Auswirkungen der neuen Vorschriften für die wirtschaftspolitische Steuerung", Berichterstatterin: Frau BISCHOFF (Siehe Seite 23 dieses Amtsblatts).

(5)  Wenn nicht anderweitig erwähnt, beruhen die Daten auf der Arbeitskräfteerhebung der Europäischen Union (AKE): (http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/labour_market/introduction) und beziehen sich auf das 2. Quartal 2011. Die Altersgruppe bezieht sich in der Regel auf die 15-64-Jährigen.

(6)  S. Kapitel 7 der EWSA-Stellungnahme zu dem Thema "Jugend in Bewegung'", Berichterstatter: Herr TRANTINA, Mitberichterstatter: Herr MENDOZA CASTRO (ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 55).

(7)  Die Kosten dieses Ausschlusses Jugendlicher vom Arbeitsmarkt belaufen sich nach neuesten Berechnungen von Eurofound in der EU auf knapp 100 Mrd. EUR pro Jahr.

(8)  Um mögliche Verzerrungen aufgrund der hohen Nichterwerbsquoten unter jungen Menschen, die noch in Ausbildung sind, zu reduzieren, werden hiermit alle erwerbsaktiven Jugendlichen erfasst.

(9)  http://ec.europa.eu/europe2020/priorities/smart-growth/index_en.htm

(10)  http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/education/introduction.

(11)  Siehe EMCO/28/130911/EN-rev3, S. 27ff.

(12)  Unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung ist definiert als "konnte keinen ganztägigen Arbeitsplatz finden".

(13)  Es ist zu empfehlen, dass Eurostat zukünftig Werte getrennt für befristet Beschäftigte und Leiharbeitnehmer ausweist.

(14)  Weniger als 60 % des Median-Äquivalenzhaushaltseinkommens.

(15)  Siehe Absatz 3.1 der EWSA-Stellungnahme vom zu den "Ergebnisse des Beschäftigungsgipfels", Berichterstatter: Herr GREIF (ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 70).

(16)  EWSA-Stellungnahme "Die Zukunft des europäischen Arbeitsmarktes – auf der Suche nach einer wirksamen Reaktion auf die demografische Entwicklung", Berichterstatter: Herr GREIF (ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 1).

(17)  "Young People and NEETs in Europe: first findings" – EUROFOUND – EF1172EN http://www.eurofound.europa.eu/pubdocs/2011/72/en/1/EF1172EN.pdf.

(18)  Lediglich vier Länder (Belgien, Tschechien, Bulgarien, Estland) formulierten 2011 nationale Ziele zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in ihren Nationalen Reformplänen.

(19)  "Jugend in Bewegung" COM(2010) 477, Kapitel 5.4.

(20)  Siehe die entsprechenden Vorschläge der Kommission in der aktuellen Initiative "Chancen für junge Menschen" COM(2011) 933.

(21)  In Leitlinie 7, Ratsbeschluss 2010/707/EU.

(22)  S. EWSA-Stellungnahme zu dem Thema "Jugend in Bewegung'" (ABl. 132/55 vom 3.5.2011), Kapitel 8 der EWSA-Stellungnahme zu dem Thema "Krise, Bildung und Arbeitsmarkt", Berichterstatter: Herr SOARES (ABl. C 318/50 vom 29.10.2011).

(23)  So fordert der EWSA, mindestens 40 % der ESF-Ressourcen zur Förderung der Beschäftigung sowie der beruflichen Mobilität sicherzustellen, womit in hohem Ausmaß Maßnahmen für Jugendliche im Zentrum der lancierten Projekte stehen würden. Siehe dazu die EWSA-Stellungnahme zu dem Thema "Europäischer Sozialfonds" (Siehe Seite 82 dieses Amtsblatts), Berichterstatter: Herr Verboven, Mitberichterstatter: Herr Cabra de Luna, Absatz 1.5 und 4.1.

(24)  Daten der Arbeitskräfteerhebung (Eurostat) weisen für Jugendliche (15-24 Jahre) im EU27-Schnitt einen um dreimal geringeren Zugang zu Leistungen in der Arbeitslosigkeit aus als für andere Gruppen, wobei keine nachhaltige Verbesserung in der Krise festgestellt wurde.

(25)  Dies ist weniger ein Problem in nordeuropäischen Ländern mit langjähriger praktischer Erfahrung regulierter Beziehungen zwischen Auszubildenden, Ausbildungsinstitutionen und Arbeitgebern. Das gleiche gilt für jene Länder, in denen es ein gewachsenes und bewährtes System der dualen Lehrlingsausbildung gibt (Deutschland, Österreich).

(26)  Siehe hierzu die in Bearbeitung befindliche EWSA-Stellungnahme zu dem Thema "Modernisierung von Europas Hochschulsystemen" (ABl. C XX, S. XX); die EWSA-Stellungnahme "Jugendbeschäftigung, Berufsqualifikationen und Mobilität" (ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 11), Berichterstatterin Frau Andersen; sowie die EWSA-Stellungnahme zum Thema "Postsekundäre Berufsbildung" (ABl. C 68 vom 6.3.2012, S. 1), Berichterstatterin Frau Drbalová.

(27)  Siehe COM(2011) 933: Initiative "Chancen für junge Menschen".