8.5.2013   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

CE 131/113


Donnerstag, 27. Oktober 2011
Aktuelle Entwicklungen in der Ukraine

P7_TA(2011)0472

Entschließung des Europäischen Parlaments vom 27. Oktober 2011 zu den gegenwärtigen Entwicklungen in der Ukraine

2013/C 131 E/13

Das Europäische Parlament,

unter Hinweis auf seine vorangegangenen Entschließungen zur Ukraine,

unter Hinweis auf den Fortschrittsbericht 2010 zur Ukraine und die Überprüfung der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) vom 25. Mai 2011,

unter Hinweis auf die Erklärung seines Präsidenten zur Verurteilung der ehemaligen ukrainischen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko am 11. Oktober 2011,

unter Hinweis auf die Erklärungen der Hohen Vertreterin der EU, Catherine Ashton, vom 5. August und 11. Oktober 2011 im Namen der Europäischen Union zum Urteil im Fall Julija Tymoschenko,

unter Hinweis auf die Gemeinsame Erklärung des Gipfeltreffens der Östlichen Partnerschaft vom 29. und 30. September 2011 in Warschau,

unter Hinweis auf das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) zwischen der Europäischen Union und der Ukraine, das am 1. März 1998 in Kraft getreten ist, und auf die laufenden Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen, das ein Abkommen über eine vertiefte und umfassende Freihandelszone einschließt und das PKA ablösen soll,

unter Hinweis auf das Nationale Richtprogramm für die Ukraine für den Zeitraum 2011 bis 2013,

gestützt auf Artikel 110 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,

A.

in der Erwägung, dass sich die EU für eine stabile und demokratische Ukraine ausspricht, die die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft, die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte achtet, Minderheiten schützt und die Wahrung der Grundrechte gewährleistet; in der Erwägung, dass die innenpolitische Stabilität der Ukraine mit einem Schwerpunkt auf innerstaatlichen Reformen und der Achtung der Rechtsstaatlichkeit, was mit der Etablierung fairer, unparteiischer und unabhängiger Gerichtsverfahren einhergeht, eine der Voraussetzungen für den weiteren Ausbau der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine ist;

B.

in der Erwägung, dass eines der wichtigsten außenpolitischen Ziele des Parlaments in der Verbesserung und Förderung der Beziehungen zur Ukraine und in der Stärkung der ENP besteht, die darauf abzielt, die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen der betreffenden Länder mit der EU und ihren Mitgliedstaaten voranzubringen;

C.

in der Erwägung, dass die Entscheidung des Bezirksgerichts Petschersk in der Ukraine vom 11. Oktober 2011, die ehemalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko zu sieben Jahren Haft zu verurteilen, ihr für drei Jahre die Ausübung einer politischen Tätigkeit zu untersagen, ihr eine Geldstrafe von 200 Millionen US-Dollar aufzuerlegen und ihr gesamtes Vermögen einzuziehen, weithin entweder als Racheakt oder als Teil des Bestrebens gewertet wird, Mitglieder der Opposition zu verurteilen und zu verhaften, damit sie nicht für die Parlamentswahl im kommenden Jahr und bei der Präsidentschaftswahl 2015 kandidieren und sich nicht an den entsprechenden Wahlkämpfen beteiligen können;

D.

in der Erwägung, dass der Sicherheitsdienst der Ukraine am 12. Oktober 2011 ein neues Strafverfahren gegen Julija Tymoschenko und den ehemaligen Ministerpräsidenten Pawlo Lasarenko eingeleitet hat und dass ihnen im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Julija Tymoschenko als Generaldirektorin und faktische Eigentümerin des Unternehmens „Vereinte Energiesysteme der Ukraine“ Verschwörung zu dem Zweck der Veruntreuung von Staatsgeldern der Ukraine in erheblichem Ausmaß vorgeworfen wird;

E.

in der Erwägung, dass immer mehr Staatsbedienstete – unter anderem ehemalige Minister der Regierung, größtenteils jedoch Leiter und stellvertretende Leiter staatlicher Dienststellen und Aufsichtsbehörden, Leiter von Unterabteilungen in Strafverfolgungsbehörden, Richter an Bezirksgerichten und Leiter lokaler Gebietskörperschaften – für ihr Handeln strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden;

F.

in der Erwägung, dass die Regierung der Ukraine eine Reihe von Justizreformen zugesagt hat, mit denen das Privatrecht und das öffentliche Recht des Landes mit europäischen und internationalen Normen in Einklang gebracht würden;

G.

in der Erwägung, dass die EU nach wie vor betont, dass die Rechtsstaatlichkeit geachtet werden muss, wozu auch die Etablierung fairer, unparteiischer und unabhängiger Gerichtsverfahren gehört, wodurch wiederum wirksam verhindert wird, dass der Eindruck entsteht, Maßnahmen der Justiz würden selektiv eingesetzt; in der Erwägung, dass die EU diese Grundsätze in einem Land, das bestrebt ist, engere vertragliche Beziehungen zur Union aufzunehmen und auf seine politische Assoziierung mit der Union aufzubauen, als besonders wichtig erachtet;

1.

ist der Ansicht, dass eine Vertiefung der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine und das Angebot einer europäischen Perspektive an die Ukraine von großer Bedeutung sind und im Interesse beider Seiten liegen; stellt fest, dass die Ukraine Bestrebungen im Sinne von Artikel 49 des Vertrags über die Europäische Union verfolgen kann, sofern sämtliche Kriterien, darunter die Achtung der Grundsätze der Demokratie, der Menschenrechte, der Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit, erfüllt sind;

2.

bedauert die Verurteilung der ehemaligen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko als Verletzung der Menschenrechte und als Missbrauch der Justiz mit dem Ziel, die führende Politikerin der Opposition in der Ukraine politisch auszuschalten; hebt hervor, dass das selektiv gegen Julija Tymoschenko angewendete Gesetz noch aus der Zeit der Sowjetunion stammt und die strafrechtliche Verfolgung politischer Entscheidungen vorsieht; weist darauf hin, dass Artikel 364 und 365 dieses Gesetzes, über deren Neufassung gegenwärtig in der Werchowna Rada beraten wird, den Normen der EU und der VN nicht entsprechen;

3.

fordert die staatlichen Stellen der Ukraine auf, für den Fall, dass Julija Tymoschenko Berufung gegen ihre Verurteilung einlegt, und in den anderen Prozessen gegen Mitglieder der ehemaligen Regierung für faire, transparente und unparteiische Gerichtsverfahren zu sorgen; fordert, Julija Tymoschenko die Ausübung ihres Rechts auf vollständige Teilnahme am politischen Prozess zu gestatten, und zwar mit sofortiger Wirkung und im Hinblick auf die anstehenden Wahlen in der Ukraine;

4.

stellt mit Besorgnis fest, dass der Prozess gegen Julija Tymoschenko im Widerspruch zu der von der ukrainischen Regierung verkündeten Verpflichtung zu Demokratie und europäischen Werten steht;

5.

verleiht seiner großen Besorgnis darüber Ausdruck, dass sich der ehemalige Innenminister Jurij Luzenko zwar ununterbrochen in Haft befindet, in seinem Prozess aber bislang kein Urteil gegen ihn ergangen ist, und dass es andere, ähnlich gelagerte Fälle gibt;

6.

fordert, dass alle strafrechtlichen Verfahren gegen ehemalige und jetzige leitende Regierungsvertreter im Einklang mit europäischen Normen in Bezug auf Fairness, Unparteilichkeit, Transparenz und Unabhängigkeit durchgeführt werden;

7.

ist der Ansicht, dass der Abschluss des Assoziierungsabkommens und seine Ratifizierung aufs Spiel gesetzt und gleichzeitig die Verwirklichung der europäischen Perspektive der Ukraine weiter hinausgeschoben würde, wenn das Urteil gegen Julija Tymoschenko nicht überprüft wird; erklärt sich besorgt über bestimmte Anzeichen für eine Einschränkung der demokratischen Freiheiten und über die mögliche Instrumentalisierung staatlicher Institutionen für parteiliche Zwecke und politische Racheakte;

8.

betont, dass die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und innerstaatliche Reformen, einschließlich einer glaubhaften Bekämpfung der Korruption, nicht nur im Hinblick auf den Abschluss und die Ratifizierung des Assoziierungsabkommens und die Vertiefung der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine, sondern auch im Hinblick auf die Festigung der Demokratie in der Ukraine von entscheidender Bedeutung sind;

9.

begrüßt die Vereinbarung, die hinsichtlich einer vertieften und umfassenden Freihandelszone erzielt wurde; betrachtet diese Vereinbarung als tragfähige Grundlage für den etwaigen Abschluss der Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine;

10.

äußert sich besorgt über Berichte über die Verschlechterung der Medienfreiheit und des Pluralismus in der Ukraine; fordert die staatlichen Stellen auf, alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, um diese Ecksteine einer demokratischen Gesellschaft zu schützen, und jeden Versuch zu unterlassen, unmittelbar oder mittelbar den Inhalt der Berichterstattung in den nationalen Medien zu kontrollieren;

11.

schließt sich ausdrücklich den Empfehlungen in der gemeinsamen Erklärung der Venedig-Kommission und des BDIMR der OSZE zu dem Entwurf eines Gesetzes über die Parlamentswahlen an; erachtet es als wesentlich, dass diese Empfehlungen in geeigneter und umfassender Weise unter Einbeziehung von Opposition und Zivilgesellschaft angenommen und umgesetzt werden;

12.

fordert alle politischen Kräfte in der Ukraine auf, eine faire und transparente Diskussion über den politischen Entscheidungsprozess zu führen; bekräftigt, dass etwaige diesbezügliche Mängel von einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss geprüft werden sollten;

13.

ist der Ansicht, dass das unlängst verschobene Treffen mit Staatspräsident Janukowytsch eine ausgezeichnete Gelegenheit gewesen wäre, wichtige Anliegen, die gegenüber der ukrainischen Regierung bereits vorgebracht worden waren, in Angriff zu nehmen und einen konstruktiven Dialog wiederaufzunehmen, an dessen Ende die Paraphierung des Assoziierungsabkommens stehen könnte, sofern deutliche Fortschritte bei der Beseitigung der noch bestehenden technischen und grundlegenden politischen Hindernisse erzielt werden; fordert den Rat und die Kommission auf, das unlängst verschobene Treffen mit Präsident Janukowytsch so neu anzusetzen, dass es noch vor dem für Dezember 2011 geplanten Gipfeltreffen EU-Ukraine stattfindet;

14.

fordert die Kommission auf, die Justizreform in der Ukraine durch eine bessere Nutzung des EU-Programms für den Kapazitätsaufbau zu unterstützen und die Einrichtung einer Hochrangigen Beratenden Gruppe der EU zu prüfen, die die Ukraine bei ihren Bemühungen um eine Angleichung an das EU-Recht, auch im Bereich Justiz, unterstützen würde;

15.

beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, der Vizepräsidentin der Kommission/Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, der Regierung und dem Parlament der Ukraine sowie den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der OSZE zu übermitteln.