23.7.2011 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 218/14 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Nachhaltigkeitsprüfungen und EU-Handelspolitik“
2011/C 218/03
Berichterstatterin: Evelyne PICHENOT
Die Europäische Kommission beschloss am 22. April 2010, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 AEUV um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen:
„Nachhaltigkeitsprüfungen und EU-Handelspolitik“.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 7. April 2011 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 471. Plenartagung am 4./5. Mai 2011 (Sitzung vom 5. Mai) mit 161 gegen 3 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
Um Nachhaltigkeitsprüfungen der EU-Handelspolitik leistungsfähiger zu gestalten, schlägt der EWSA der Kommission eine Überprüfung des Verfahrens vor, bei der die Anliegen der Zivilgesellschaft sowie Globalisierungsaspekte stärker berücksichtigt werden. Der EWSA regt an, Nachhaltigkeitsprüfungen umzugestalten und in einen kohärenten Bewertungszyklus einzugliedern.
1.1 Zu diesem Zweck ist es nach Ansicht des EWSA dringend notwendig, dass von nun an jedes Handelsabkommen mit einem Kontrollmechanismus ausgestattet wird, an dem die Zivilgesellschaft teilhat. Nur so kann gewährleistet werden, dass die eingegangenen Verpflichtungen überwacht und die Risiken und Chancen der Handelsliberalisierung unter Nachhaltigkeitsaspekten geprüft werden. Durch einen solchen Mechanismus, der angesichts des vorgeschlagenen dynamischen Ansatzes unverzichtbar ist, wird zu bestimmten Fristen eine erneute Bewertung der in der ersten Untersuchung abgewogenen Risiken und Chancen möglich.
1.2 Um das Instrument mit den Zielen nachhaltiger Entwicklung in Übereinstimmung zu bringen, empfiehlt der EWSA, Nachhaltigkeitsprüfungen:
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in eine Ex-ante-, eine laufende und eine Ex-post-Bewertung zu gliedern, |
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mit der dem Verhandlungsmandat vorausgehenden Untersuchung abzustimmen und innerhalb sinnvoller Fristen durchzuführen, |
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vorrangig auf die Erkennung von Risiken für Gesellschaft und Umwelt auszurichten, als Ergänzung einer wirtschaftlichen Bewertung, durch die in der Praxis hauptsächlich der Wunsch der EU nach Abschluss eines Handelsabkommens begründet werden soll, |
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weniger zur Abschätzung der aggregierten Auswirkungen der Liberalisierung auf die einzelnen Säulen der nachhaltigen Entwicklung, sondern vielmehr zu einer gezielteren und genaueren Bewertung auf Ebene der Branchen oder Haushalte zu nutzen, insbesondere in Volkswirtschaften mit einem großen Anteil informeller Arbeit, |
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bei der öffentlichen Debatte über die Folgen der Handelspolitik gegenüber dem Europäischen Parlament als Orientierungshilfe zu verwenden, |
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so zu gestalten, dass bei den flankierenden Maßnahmen die anderen EU-Politiken berücksichtigt werden. |
1.3 Um die Zweckdienlichkeit der ermittelten Informationen zu steigern, empfiehlt der EWSA, dass zur Verbesserung von Nachhaltigkeitsprüfungen:
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die drei Pfeiler in einem ausgewogeneren Verhältnis berücksichtigt werden, |
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die Berater aus dem großen Reservoir der vorhandenen - insbesondere qualitativen - Methoden schöpfen, um auf die Aspekte des betreffenden Handelsabkommens hinzuweisen, die andere als Wirtschaftsfragen betreffen, |
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ökologische Ansätze wie die Lebenszyklusanalyse, die CO2-Bilanz oder die Messung der Ökosystemleistungen weiterentwickelt werden, |
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das für das betreffende Handelsabkommen zuständige Beraterteam systematisch Sachverständige zu gewinnen versucht, die aus dem jeweiligen Partnerland stammen, |
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die Sozialpartner, Umweltexperten sowie Vertreter der Wirtschaft zu unmittelbaren, eingehenden Gesprächen eingeladen werden, |
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die Auswirkungen auf die Geschlechtergleichstellung beachtet werden, |
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diese eine Analyse der Arbeitsbedingungen in Berufen des Rechts- und Gesundheitswesens beinhalten sollten, insbesondere, was die Unabhängigkeit und die Gewährleistung körperlicher Unversehrtheit derjenigen anbelangt, die diese Berufe ausüben. |
1.4 Bei der Reformierung des Partizipationsprozesses empfiehlt der EWSA:
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Nachhaltigkeitsprüfungen in sämtlichen Phasen allen Beteiligten und Partnerländern zugänglich zu machen und sie um Kurzberichte zu ergänzen, |
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in den einzelnen Phasen des Zyklus eine Konsultation durchzuführen, die allen Interessensvertretern der Zivilgesellschaft offensteht und angemessen finanziert wird, |
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den EWSA im Vorfeld der Nachhaltigkeitsprüfungen dadurch einzubinden, dass er Stellung zur Wahl der Indikatoren und der zu konsultierenden zivilgesellschaftlichen Organisationen nimmt sowie Konsultationsverfahren vorschlägt, |
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den EWSA ebenfalls mit einer Stellungnahme zu der dem Parlament und dem Rat vorgelegten Folgenabschätzung zu befassen, |
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den Ausschuss bei der Organisierung der Konsultationen und der Nachbereitung mit den Zivilgesellschaften der Partnerstaaten gemeinsam mit den EU-Delegationen als wichtigen Partner anzusehen, |
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den EWSA mit einer Vermittlerrolle zu betrauen, um zu gewährleisten, dass die Konsultation der Zivilgesellschaft im Rahmen von Folgenabschätzungen mit der künftigen Einführung von Kontrollmechanismen in den Abkommen abgestimmt wird, |
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bei der Ex-post-Bewertung die Zwischenberichte des Begleitausschusses zu berücksichtigen. |
2. Nachhaltigkeitsprüfungen sind notwendig, ihre Überarbeitung ist jedoch unumgänglich
2.1 In ihrer Mitteilung „Handel, Wachstum und Weltgeschehen - Handelspolitik als Kernbestandteil der EU-Strategie Europa 2020“ (1) erklärt die Kommission, dass sie ihre Konsultationen mit den Beteiligten und der Zivilgesellschaft intensivieren möchte, um die Auswirkungen der Handelspolitik auf die nachhaltige Entwicklung hin zu überprüfen. Der EWSA ist sich bewusst, dass der GD Handel durch die Einführung von Nachhaltigkeitsprüfungen eine Vorreiterrolle zukommt, und begrüßt, dass die Kommission die Diskussion erneut eröffnet, um zum einen die Auswirkungen der Maßnahme zu prüfen, zugleich aber auch zu versuchen, ihre Grenzen bzw. Mängel zu überwinden. In dieser Sondierungsstellungnahme stellt der EWSA Vorschläge zur Verbesserung der Wirkung von Nachhaltigkeitsprüfungen und zur Klärung ihres eigentlichen Zweckes in den Mittelpunkt. Ziel des EWSA ist es, die Frage nach dem gesellschaftlichen und politischen Nutzen von Nachhaltigkeitsprüfungen zu beantworten.
2.2 Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon verfügt das Europäische Parlament über erweiterte Befugnisse und steht in der Handelspolitik auf einer Stufe mit dem Rat der EU. Bei der ersten Ratifizierung seit Inkrafttreten des Vertrags - der Ratifizierung des Abkommens mit Südkorea im März 2011 - konnten die Akteure insbesondere in den sensiblen Bereichen prüfen, wie sich diese neue Macht der Abgeordneten auswirkt. Es ist daher erforderlich geworden, die frühere Formel des Dialogs mit der Zivilgesellschaft mit diesem institutionellen Wandel in Einklang zu bringen.
2.3 Der EWSA nimmt die von der Kommission in der genannten Mitteilung kürzlich vorgeschlagenen Änderungen der Maßnahme mit großem Interesse zur Kenntnis. Nachhaltigkeitsprüfungen gehen auch weiterhin mit der Konsultation der Zivilgesellschaft einher, zudem bleibt die bindende Verpflichtung bestehen, sie bei Verhandlungen einzusetzen und ihre Schlussfolgerungen in einem Positionspapier herauszuarbeiten. Hinzu kommt eine neue Stufe: die Kommission kündigt an, dass eine Ex-post-Bewertung von Handelsabkommen zur Überwachung ihrer Auswirkungen durchgeführt werden soll. Endlich wird von der Kommission ein wichtiger Schritt nach der Aushandlung und vor der Unterzeichnung eines Abkommens eingebaut: eine Folgenabschätzung, die dem Parlament und dem Rat übermittelt wird. Von nun an wird es nicht länger möglich sein, Nachhaltigkeitsprüfungen als einfache, auf die Verhandlungen beschränkte Instrumente zu begreifen: sie werden sich auf den ganzen, die Erarbeitung, Umsetzung und Überwachung der Politiken umfassenden Zyklus erstrecken. Dies verleiht den in dieser Stellungnahme enthaltenen Vorschlägen zur Reformierung der Nachhaltigkeitsprüfungen Aktualität und eine größere Tragweite.
2.4 Weil Abkommen auf multilateraler Ebene fehlen, sind es bilaterale und regionale Freihandelsabkommen, die immer häufiger Elemente mit Bezug auf eine nachhaltigere Gestaltung des Welthandels enthalten - sowohl durch einen vollständigeren Bewertungszyklus (ex ante und ex post) als auch inhaltlich, umfassen sie doch der Nachhaltigkeit gewidmete Kapitel, wie etwa Umweltschutz- und soziale Verpflichtungen.
2.5 Zwischen der GD Handel und der Zivilgesellschaft findet bereits ein strukturierter Dialog (2) statt, zu dem Informations- und Austauschtreffen in verschiedenen Phasen von Handelsverhandlungen gehören. Damit wird der Verpflichtung entsprochen, die Organisationen der Zivilgesellschaft sowohl in der EU als auch in den Partnerstaaten bei der Erarbeitung der von Beratern erstellten Nachhaltigkeitsprüfungen zurate zu ziehen. Es handelt sich hierbei um ein groß angelegtes Experiment im Bereich des zivilen Dialogs, an dem der EWSA gern stärker beteiligt wäre.
2.6 In der derzeitigen Phase des Ausbaus bzw. der Wiederaufnahme bilateraler oder regionaler Handelsverhandlungen gibt diese Informations-/Konsultationsstrategie nicht nur Anlass zu Hoffnungen, sondern auch zu Kritik (3). Bei den Nachhaltigkeitsprüfungen selbst fällt der wirtschaftlichen Evaluierung tendenziell großes Gewicht zu, und zwar aufgrund der weit verbreiteten Anwendung mathematischer Simulationsmodelle wie etwa berechenbarer allgemeiner Gleichgewichtsmodelle, die zur Evaluierung der Wirksamkeit makroökonomischer Politikansätze - und nicht ihrer Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt - entwickelt wurden. Die in Nachhaltigkeitsprüfungen vorgelegten Ergebnisse dieser Modelle sind häufig sehr aggregiert und auf Intuition gestützt und haben sowohl für die Verhandlungspartner als auch für die Interessenträger nur geringe Aussagekraft, da die aufgeführten Auswirkungen weder bedeutsam noch ausreichend spezifisch sind. Da Daten für den informellen Sektor entweder ganz fehlen oder unzuverlässig sind, gestalten sich Nachhaltigkeitsprüfungen schwierig; mögliche Auswirkungen in diesem Bereich werden daher nicht genügend berücksichtigt.
2.7 In einigen Studien (4) zum Verfahren haben sich Mängel gezeigt, etwa in puncto Erarbeitung der Nachhaltigkeitsprüfungen und Organisation der Konsultationen. Da Nachhaltigkeitsprüfungen zu spät in den Verhandlungsprozess einbezogen werden, haben sie keinen tatsächlichen Einfluss auf den Verhandlungsgegenstand, und ebenso wenig gelingt es, die von den problematischsten Auswirkungen betroffenen Akteure rechtzeitig dafür zu sensibilisieren. Wer aus welchem Grund während des Verfahrens einbezogen wird, ist nicht klar geregelt.
2.8 Im Falle erheblicher Veränderungen bestimmter sozialer Indikatoren aufgrund der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise sollten die Ergebnisse der ersten Untersuchung vervollständigt oder geändert werden, um die Daten und die zugrundegelegten Szenarien zu aktualisieren sowie geeignetere flankierende Maßnahmen vorzuschlagen.
3. Nachhaltigkeitsprüfungen als Teil eines kohärenten Bewertungszyklus
3.1 Bislang waren Nachhaltigkeitsprüfungen nicht zufriedenstellend, weil die in ihnen enthaltenen Informationen zu spät zur Verfügung standen, keinen Neuigkeitswert für die Verhandlungen hatten, politisch folgenlos blieben und nicht aus angemessenen Konsultationen stammten. Daher schlägt der EWSA vor, ihnen eine neue Dynamik zu verleihen. In erster Linie sollten Nachhaltigkeitsprüfungen der Erkennung besonderer Risiken (im Umwelt- und Sozialbereich) sowie ihrer Bewertung und Überwachung über einen gewissen Zeitraum hinweg dienen. Der Mehrwert von Nachhaltigkeitsprüfungen ergibt sich hauptsächlich daraus, dass in ihnen ebendiese Informationen über voraussichtliche und erkennbare Risiken bereitgestellt werden.
3.2 Deshalb werden zugleich eine Ex-ante-Bewertung (voraussichtliche Risiken) und eine laufende Bewertung (Entwicklung der Risiken) durchgeführt, hinzu kommt aber eine Ex-post-Bewertung (erkennbare Folgen). Nachhaltigkeitsprüfungen werden so zu mehr als einer Methode oder einem Diagnosewerkzeug - sie gewinnen an Dynamik. Sie dürfen daher nicht länger als ein statisches Instrument zur Berechnung des in Zahlen ausdrückbaren Werts der drei Säulen der Nachhaltigkeit angesehen werden, sondern als ein Verfahren zur Zusammenarbeit und zur Verbreitung gezielter Informationen. Diese werden zu Signal- oder Warnzeichen für die Zivilgesellschaft und die Verhandlungsführer, die zur Wachsamkeit verpflichtet sind.
3.3 Um wirksam sein zu können, müssen Nachhaltigkeitsprüfungen Teil eines kohärenten Zyklus von Bewertungen der EU-Politiken werden, deren gemeinsames Ziel die Nachhaltigkeit ist.
3.3.1 Zunächst einmal Kohärenz zwischen den drei Säulen, wobei der Umwelt- und Klimaaspekt, aber auch im sozialen Bereich ausdrückliche Erwägungen zur Wahrung der Menschenrechte und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen vertieft werden müssen (5).
3.3.2 Dann auch Kohärenz zwischen den vorgesehenen Strategien und flankierenden Maßnahmen sowie den erkannten Risiken und Chancen. Die Empfehlungen müssen ein möglichst breites Spektrum an Strategien und Maßnahmen der EU abdecken (Strukturfonds und spezielle Programme, Entwicklungshilfe, den Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung, das Europäische Instrument für Demokratie und Menschenrechte, EIDHR, Finanzierungen der EIB). Bei ihrer Planung müssen im Gegenzug die Ergebnisse von Nachhaltigkeitsprüfungen miteinbezogen werden.
3.3.3 Und schließlich Kohärenz zwischen den verschiedenen von der Kommission durchgeführten Bewertungen. Insbesondere muss geklärt werden, was für ein Zusammenhang zwischen der dem Verhandlungsmandat vorausgehenden Folgenabschätzung und der Nachhaltigkeitsprüfung besteht. Das Mandat für eine Nachhaltigkeitsprüfung kann nach Bedarf angepasst und korrigiert werden, je nachdem, ob eine ambitionierte oder aber eine bescheidene und unvollständige Abschätzung der Risiken im Sozial- und Umweltbereich vorangegangen ist.
3.4 Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments und die Vertreter der Mitgliedstaaten sowie die Zivilgesellschaft sollten während des gesamten Verfahrens einbezogen werden, und zwar viel intensiver, als dies derzeit der Fall ist. Die von der Kommission erstellte und für das Europäische Parlament und den Rat bestimmte Abschätzung der Folgen des Handelsabkommens nimmt eine zentrale Stellung in dem Zyklus ein, und durch ihre Berücksichtigung vonseiten der Institutionen wird es möglich, den zivilen Dialog auf einen wesentlichen Zeitpunkt der politischen Debatte zu fokussieren.
3.5 Es erscheint notwendig, Nachhaltigkeitsprüfungen auf breiter Ebene einzuführen, sie den derzeitigen und künftigen Verhandlungsmandaten für Freihandelsabkommen mit den wirtschaftsstrategischen Partnern der EU (USA, Volksrepublik China, Russische Föderation, Japan, Indien, Brasilien) anzupassen, und dabei Aspekte, die sich auf das UNO-Protokoll zu den Wirtschafts- und Sozialrechten sowie auf das Recht an geistigem Eigentum, die französischen Codes des marchés publics (Vergabevorschriften für öffentliche Aufträge) und Investitionsvereinbarungen beziehen, präziser zu fassen.
4. Erhöhung der Zweckdienlichkeit der vorgelegten Informationen
4.1 Damit die möglichen positiven wie negativen Folgen tatsächlich berücksichtigt werden, ist es unbedingt notwendig, den Verhandlungsführern die Ergebnisse in einem frühen Stadium der Gespräche zu übermitteln. Nachhaltigkeitsprüfungen sollten allen Interessenträgern und Partnerstaaten in sämtlichen Phasen zugänglich bleiben. Obwohl die Erstellungsdauer auf neun Monate erhöht wurde, sollte diese Frist geändert werden, um das Konsultationsverfahren in den Partnerstaaten zu vertiefen.
4.2 Um der Kritik an der Nützlichkeit von Nachhaltigkeitsprüfungen zu begegnen, sollte auf Allgemeinplätze und die qualitative Messung aggregierter Effekte verzichtet werden (Wirtschaft versus Umwelt versus Soziales). Die Prioritäten sollten auf der Ermittlung der spezifischen Risiken sowie des Potenzials im Umwelt- und Sozialbereich liegen, zusätzlich zu der notwendigen Abwägung wirtschaftlicher Chancen, die in den meisten Modellen naturgemäß positiv ausfällt. Schließlich waren genau diese voraussichtlichen Wirtschaftschancen der Grund dafür, dass die betreffenden Verhandlungen nach der Folgenabschätzung und dem Mandat aufgenommen wurden.
4.3 Bei der Einschätzung der Umwelt- und Sozialrisiken muss aus einem möglichst großen Reservoir verfügbarer Methoden geschöpft werden, von quantitativen bis hin zu eher qualitativen, deren Gegenstand ausdrücklich nicht die wirtschaftliche Seite der Handelspolitik betreffende Aspekte sind, wie etwa die Auswirkungen auf die Geschlechtergleichstellung, die Ernährungs- oder die Lebensmittelsicherheit. Berücksichtigt werden könnten hier insbesondere stärker ökologisch orientierte Ansätze wie die Lebenszyklusanalyse, die CO2-Bilanz und die möglichen Auswirkungen auf die Artenvielfalt. Daneben könnte auch auf qualitative Methoden zur Abschätzung der sozialen Folgen (Beschäftigung, menschenwürdige Arbeitsbedingungen) in den Zielbranchen zurückgegriffen werden.
4.4 Zu diesem Zweck sollte die Kommission im Ausschreibungstext ausdrücklich Sozial- und/oder Umweltexperten anfordern. Es wird nachdrücklich empfohlen, vor allem im Falle von Volkswirtschaften mit einem hohen Anteil ungeregelter Arbeit mehr Sachverständige aus den Partnerstaaten sowie Experten der IAO, der WHO oder gegebenenfalls der FAO einzubeziehen. Überdies müssen die Berater die Arbeitsbedingungen in den Berufen des Rechts- und Gesundheitswesens analysieren, um Informationen zum gesetzlichen Schutz ihrer Interessen und ihrer körperlichen Unversehrtheit zu erhalten.
4.5 Die innereuropäischen Folgen dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden, insbesondere bei Nachhaltigkeitsprüfungen, die die strategischen Partner betreffen, und hier vor allem in puncto Beschäftigung oder Umstrukturierung. Hier ist die Einbeziehung der Sozialpartner von wesentlicher Bedeutung, unter anderem auch zur Ermittlung möglicher Diskrepanzen zwischen sozialen und ökologischen Zielsetzungen mit Blick auf einen fairen Übergang sowie umweltverträgliches und integratives Wachstum. Bei der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel des EWSA und den für den Dialog der einzelnen Wirtschaftszweige zuständigen EU-Ausschüssen, die sich für den Handelsverkehr einsetzen, müssen systematisch Brancheninformationen eingeholt werden. Durch den unmittelbaren Dialog mit den Sozialpartnern werden die Ergebnisse der Nachhaltigkeitsprüfungen stichhaltiger.
4.6 Außerdem ist es geboten, die freiwilligen und/oder vertraglich ausgehandelten Sozialverpflichtungen multinationaler Unternehmen sowie internationale Rahmenvereinbarungen bei Nachhaltigkeitsprüfungen zunehmend als Informationsquellen zu nutzen.
4.7 Finanzielle und personelle Ressourcen, die für den Kapazitätenausbau aufseiten der Partnerstaaten verwendet werden (Fachwissen, vor allem auf den Gebieten Umwelt und Soziales, Konsultationsverfahren), sind für die Qualität von Nachhaltigkeitsprüfungen und bei der Einsetzung von Überwachungsgruppen von entscheidender Bedeutung. In diesem Punkt müssen sich die GD EuropeAid Entwicklung und Zusammenarbeit und die GD Handel intensiver miteinander abstimmen und die Programmplanung des neuen Europäischen Auswärtigen Dienstes mit einbeziehen.
4.8 Die Auswirkungen von Freihandelsabkommen auf nicht von dem Handelsabkommen betroffene Staaten oder Gebiete in äußerster Randlage sollten zunehmend unter Einbeziehung regionaler Sachverständiger sowie der Zivilgesellschaft berücksichtigt werden, um die ökologischen und sozialen Folgen abzuschätzen, die sich aus der Änderung der Handelsströme ergeben.
4.9 Der Ansatz, ein für Verhandlungsführer und künftige Bewertungssachverständige gleichermaßen nützliches Diagnoseinstrument zu schaffen, sollte sich in einer Überarbeitung des 2006 von der Kommission erarbeiteten Leitfadens für Nachhaltigkeitsprüfungen (6) niederschlagen. Bei seiner Überarbeitung und Umsetzung sollten Sachverständige der GD Entwicklung und Zusammenarbeit, der GD Beschäftigung, der GD Umwelt, der GD Klimapolitik und der GD Gesundheit und Verbraucherschutz intensiv einbezogen werden.
5. Überarbeitung des Verfahrens für die Partizipation der Zivilgesellschaft
5.1 Einige dieser Empfehlungen beziehen sich auf die kritischen Anmerkungen der Teilnehmer an einer 2010 von der GD Handel initiierten Konsultation zur neuen Handelspolitik. Ebenso wie Nachhaltigkeitsprüfungen in einen kohärenten Zyklus von Bewertungen politischer Maßnahmen eingegliedert werden sollten, sollte auch der Konsultation neue Dynamik verliehen werden, indem sie künftig als ein Prozess verstanden wird, der den verschiedenen Phasen des Zyklus angepasst wird und sich auf einen Grundstock bewährter Verfahren stützt.
5.2 Der EWSA könnte sich im Rahmen institutioneller Konsultationen noch früher in den Erarbeitungsprozess einer genau umrissenen Nachhaltigkeitsprüfung einbringen, indem er Stellung zur Auswahl der sozialen oder Umweltindikatoren nimmt und flankierende Maßnahmen aufzeigt sowie die am besten geeigneten Konsultationsformen vorschlägt.
5.3 Bei der Folgenabschätzung gegenüber dem Europäischen Parlament erwartet die Zivilgesellschaft, dass die Kommission Rechenschaft darüber ablegt, in welcher Form die Verhandlungsführer die Schlussfolgerungen der Nachhaltigkeitsprüfungen berücksichtigt haben, und berichtet, welche Änderungen an einzelnen Kapiteln vorgenommen wurden, um den beschriebenen Gefahren zu begegnen.
5.4 Die erste Untersuchung muss im Rahmen eines zwei bis drei Jahre dauernden frühen Kontroll- und Bewertungsmechanismus stattfinden, durch den unter breiter Beteiligung der Zivilgesellschaft eine Präzisierung und gegebenenfalls eine Überprüfung der beobachteten Folgen sowie die Identifizierung neuer Risiken gewährleistet wird. Bei der Überwachung und der Bewertung muss das Augenmerk auf den Risiken und ihren über einen Zeitraum hinweg feststellbaren Veränderungen sowie auf der Wirksamkeit der flankierenden Maßnahmen liegen.
5.5 Der EWSA verfügt über ein Netz, das er mit weiten Teilen der Zivilgesellschaft in Drittstaaten gespannt hat. Daher kann er sich in den neuen Bewertungszyklus, in den Nachhaltigkeitsprüfungen eingegliedert werden, einbringen und eine Vermittlerrolle im Konsultationsverfahren spielen. Mit der Erfahrung, die er in bestimmten Verhandlungsphasen erworben hat, kann er den Dialog mit den Zivilgesellschaften der Partnerstaaten anstoßen.
5.6 Diese ständigen geografischen Arbeitsgruppen des EWSA für den Austausch mit den Zivilgesellschaften von Drittstaaten sind ein wesentlicher Vorteil bei der Organisierung der Keimzellen von Ausschüssen zur Überwachung der Abkommen mit allen Teilen der Zivilgesellschaft. Da sie über Dialogerfahrung und Vergleichswerte in Bezug auf verschiedene Aspekte von Assoziierungs- oder Partnerschaftsabkommen verfügen, bieten sich diese Arbeitsorgane des EWSA bevorzugt als Gremien für die Diskussion über das in Handelsabkommen erzielte Gleichgewicht an. Jede gemeinsame Struktur auf geografischer Grundlage steuert regionalen Sachverstand zu den empirischen Zusammenhängen zwischen Handelsabkommen und Nachhaltigkeit bei.
5.7 Das im CARIFORUM-Abkommen vorgesehene Überwachungsinstrument trägt der Forderung nach einer umfassenden Überwachung des Abkommens durch die Zivilgesellschaften der verschiedenen Seiten Rechnung. Im Abkommen mit Südkorea wird die Überwachung des Kapitels „Nachhaltige Entwicklung“ ermöglicht. Die Schaffung derartiger Überwachungsinstrumente ist für die Glaubwürdigkeit der Nachhaltigkeitsbemühungen der EU von entscheidender Bedeutung. Letztlich hängen von der Qualität der Nachhaltigkeitsprüfungen die Wirksamkeit der Überwachung und das Vertrauen der verschiedenen Parteien in das Konsultationsverfahren ab. Aus diesem Grund bekräftigt der EWSA sein Interesse an der Einsetzung eines Begleitausschusses bei sämtlichen Handelsabkommen.
5.8 Der EWSA unterstützt den partnerschaftlichen Ansatz der GD Handel, jedem Abkommen ein Kapitel zur Nachhaltigkeit hinzuzufügen, das Verpflichtungen im sozialen und im Umweltbereich enthält. Nachhaltigkeitsprüfungen sind bei diesem auf Anreize gerichteten Ansatz insofern hilfreich, als in ihnen empirisch und praktisch aufgezeigt wird, welche Chancen der Handel hier bietet und welche Übergangsregelungen bzw. Anpassungs-, Ausgleichs- oder Schutzmaßnahmen nötig sind, um die sozialen und ökologischen Risiken im Einklang mit den in dem Abkommen eingegangenen Verpflichtungen abzuwenden oder zu verringern.
5.9 Der EWSA, der die Überwachung des CARIFORUM-Abkommens koordiniert, wird sich dabei auf die bestehenden Beziehungen zur Zivilgesellschaft stützen. Er wird ebenfalls eine Partnerschaft mit der südkoreanischen Zivilgesellschaft aufbauen, um die notwendige Überwachung der Maßnahmen weiterzuverfolgen. Bei der Überarbeitung des Partizipationsverfahrens sollten die Erkenntnisse der ersten Ex-post-Bewertung des Abkommens mit Chile genutzt werden.
Brüssel, den 5. Mai 2011
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Staffan NILSSON
(1) KOM(2010) 612 vom 9.11.2010.
(2) Tätigkeitsbericht der GD Handel zum Dialog mit der Zivilgesellschaft aus dem Jahr 2010 http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2010/february/tradoc_145785.pdf.
(3) Abschlussbericht der öffentlichen Konsultation zur neuen Handelspolitik der Europäischen Union 2010 http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2010/september/tradoc_146556.pdf.
(4) Anne Chetaille (2005). Les études d’impact des accords commerciaux sur le développement durable: bilan et perspectives. Gret, Paris.
Ruddy and Hilty (2007). Impact assessment and policy learning in the European Commission. Sciencedirect.
Pascal Gabriel (2008). Problématiques environnementales, emploi et cohésion sociale. Un examen des développements politiques au niveau international. Syndex/DG Emploi.
Ekins and Voituriez (2009). Trade, Globalisation and Sustainability Impact Assessment, Earthscan, London.
(5) Informationsbericht „Menschenwürdige Arbeit und nachhaltige Entwicklung im Mittelmeerraum“, EWSA, September 2010.
(6) Leitfaden für Nachhaltigkeitsprüfungen der GD Handel: http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2006/march/tradoc_127974.pdf.