15.2.2012 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 43/39 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der Opferrechte in der EU“
KOM(2011) 274 endg.
und zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe“
KOM(2011) 275 endg. — 2011/0129 (COD)
2012/C 43/09
Berichterstatterin: Kathleen WALKER SHAW
Das Europäische Parlament und der Rat beschlossen am 18. Mai bzw. am 29. Juni 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgenden Vorlagen zu ersuchen:
„Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der Opferrechte in der EU“
KOM(2011) 274 endg.
und zu dem
„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe“
KOM(2011) 275 endg.
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 8. November 2011 an.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 476. Plenartagung am 7./8. Dezember 2011 (Sitzung vom 7. Dezember) mit 142 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ersucht die Kommission, eine genauere Untersuchung über die Folgen der Krise für Opfer von Straftaten durchzuführen und auf deren Ergebnissen fußende Begleitmaßnahmen in Erwägung zu ziehen.
1.2 Der EWSA ist besorgt über das geringe Vertrauen von Opfern in die Strafjustiz; er sieht es als erforderlich an, die Position von Opfern – insbesondere solchen, die mehrfach zu Opfern wurden – zu stärken und Vertrauen bei den Bürgern zu schaffen, um den Teufelskreis der Viktimisierung zu durchbrechen. Er fordert die Kommission auf, unterstützende Maßnahmen und Finanzmittel zu erwägen.
1.3 Der EWSA schlägt der Kommission eine Neufassung des Begriffs „Opfer“ vor, um den Angehörigen und den Vertretern von Opfern zu mehr Rechten und Anerkennung zu verhelfen.
1.4 Der EWSA ruft die Kommission auf, die Schutzmaßnahmen für diejenigen gründlich zu untersuchen, die durch Straftaten am Arbeitsplatz geschädigt werden, und Begleitmaßnahmen für ein Mindestmaß an Rechten und Anerkennung sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich überall in der EU vorzulegen.
1.5 Der EWSA empfiehlt der Kommission, sich in einer Untersuchung eingehend mit Opfern von Straftaten im Straßenverkehr zu befassen und Maßnahmen vorzuschlagen, durch die Gerechtigkeit, Unterstützung und Entschädigung gewährleistet werden.
1.6 Der EWSA empfiehlt der Kommission, wirksamere Schutzvorkehrungen gegen die direkte oder indirekte Diskriminierung von Opfern in die Vorschläge einzuarbeiten.
1.7 Der EWSA fordert einen tiefgreifenden Einstellungswandel hin zur Akzeptanz von Opfern, der durch Schulungen von Angehörigen der Rechtsberufe auf allen Ebenen der Justiz und in sonstigen betroffenen Behörden unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips unterstützt werden sollte. Dies sollte auch die allgemeine Behandlung von Opfern in den Medien betreffen; Opfer dürfen nicht zu politischen Zwecken missbraucht werden.
1.8 Der EWSA räumt ein, dass manche Opfer eines besonderen Schutzes bedürfen und entsprechend behandelt werden müssen, jedoch sollte die Kommission nicht bestimmte „schutzbedürftige Opfer“ ausmachen und auf diese Weise womöglich eine Opferhierarchie schaffen, sondern vielmehr vorschlagen, dass allen Opfern von Straftaten besondere Maßnahmen offenstehen, und zwar über eine Einzelprüfung unter Einhaltung der Verfahrensregeln auf nationaler Ebene, bei der die Schutzbedürftigkeit der Opfer unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Merkmale, der Art der Straftat und der Beziehung zu dem Tatverdächtigen festgestellt wird.
1.9 Der EWSA fordert Begleitmaßnahmen zur Stärkung und Formalisierung des Netzes der Opferhilfsdienste in der gesamten EU und schlägt vor, dieses Netz dauerhaft aus EU-Haushaltsmitteln finanziell zu unterstützen. Zudem empfiehlt er, dass Hilfsdienste Personen, die im Ausland Opfer von Straftaten geworden sind, sowie deren Familien auch beim Rücktransport in die Heimat betreuen sollten. Der EWSA ist ferner der Überzeugung, dass Opferhilfsdienste flexibel und fähig sein sollten, Mittel gezielt an potenzielle regionale Brennpunkte zu leiten.
1.10 Der EWSA ist für die stärkere Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Erarbeitung konkreter Hilfsmaßnahmen für Opfer von Straftaten und ersucht die Kommission, Begleitmaßnahmen und finanzielle Mittel bereitzustellen, damit dies möglich wird.
1.11 Für die anstehende Überarbeitung der Richtlinie fordert der EWSA die Kommission zu weitreichenden und notwendigen Verbesserungen der Bestimmungen zur Opferentschädigung auf, wobei eine EU-weite Entschädigungsregelung für Opfer von Straftaten in Betracht gezogen werden sollte. Dabei sollte die Kommission den Mitgliedstaaten deutlich machen, dass mit der Richtlinie Mindeststandards gesetzt werden und ein Grundstock an Rechten geschaffen wird, der nationale Umsetzungsvorschriften zulässt, die einen weiter reichenden Schutz ermöglichen.
1.12 Der EWSA befürwortet die Vorschläge zum Täter-Opfer-Ausgleich und fordert die Kommission auf, die Finanzierung von Pilotprojekten zur Entwicklung EU-weiter Normen und Schulungsmaßnahmen im Bereich der opferorientierten Justiz zu unterstützen.
1.13 Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, für den Transport und die Rücküberführung der sterblichen Überreste von Menschen, die in einem anderen Mitgliedstaat zu Opfern wurden, gemeinsame, innerhalb einer eindeutig gesetzten Frist (1) durchzuführende Verfahren zu entwickeln, die Vorrang vor Regelungen auf nationaler oder subnationaler Ebene erhalten.
2. Einleitung
2.1 Durch das Bündel an Vorschlägen, das die Kommission am 18. Mai 2011 vorgelegt hat, sollen die von der EU bereits verabschiedeten Maßnahmen zu den Opferrechten ausgeweitet werden. Beabsichtigt ist, Opfern von Straftaten klare und konkrete Rechte einzuräumen und ihnen Anerkennung, Respekt, Schutz und Zugang zum Recht zu gewährleisten - ganz gleich, aus welchem Mitgliedstaat sie stammen oder wo in der EU sie leben.
2.2 Der EWSA stellt fest, dass der Vertrag von Lissabon der EU nun eine eindeutige Rechtsgrundlage für die Festlegung eines Mindestmaßes an Rechten und Schutz für Opfer von Straftaten gibt. Die Vorschläge gründen auf dem Stockholmer Programm (2) und dem zugehörigen Aktionsplan (3) und stehen im Einklang mit dem Budapester Programm für Opferschutz (4).
2.3 Der EWSA begrüßt, dass der polnische Ratsvorsitz die Verbesserung der Sicherheit in der EU zur Priorität erklärt hat, und er befürwortet die Anstrengungen des Ratsvorsitzes, die Arbeit am Maßnahmenpaket für Opfer im Rat voranzutreiben.
2.4 Der EWSA hat in diesem Bereich bereits umfangreiche Arbeiten geleistet, u.a Stellungnahmen zu den Themen Entschädigung der Opfer von Straftaten (5), Menschenhandel (6), sexuelle Ausbeutung, sexueller Missbrauch und Kinderpornografie (7), Kinderrechte (8), Anti-Terror-Politik der EU (9), digitale Integration (10) und Computerkriminalität (11).
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1 Der EWSA betont, dass die Mitgliedstaaten die Auswirkungen der anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise auf diese Thematik nicht ignorieren können und die Verbrechensdynamik in diesem Kontext verstehen müssen. Im Rahmen strenger Sparmaßnahmen nehmen viele Mitgliedstaaten Kürzungen bei der Polizei, der Gesundheits- und Sozialfürsorge, der Gemeinwesenarbeit und bei der Finanzierung von Opferhilfsdiensten und anderen, in diesem Bereich tätigen nichtstaatlichen Organisationen vor. Zudem vergrößern sich bestehende Unterschiede, und die immer weiter um sich greifende Armut sowie stetig steigende Arbeitslosenzahlen werden höchstwahrscheinlich weitere soziale Probleme nach sich ziehen, die ein Nährboden für Verbrechen sein können.
3.2 Die EU-weiten Opferzahlen sind alarmierend. Jährlich fallen mehr als 75 Millionen Menschen unmittelbar einer Straftat zum Opfer. Es ist eine nicht hinnehmbare Tatsache, dass die meisten Straftaten an einem kleinen Bevölkerungsanteil verübt werden, der immer wieder in die Opferrolle gerät. Diese Opfer leben üblicherweise in Gebieten mit hoher Kriminalität, in denen die Angst vor Straftaten sehr verbreitet ist, während kaum Anzeigen gemacht werden. Annähernd 90 % der Straftaten in diesen Gebieten werden nicht zur Anzeige gebracht.
3.3 Eine bessere EU-weite Hilfe für Opfer von Straftaten ist für die Bürgerinnen und Bürger Europas ein Grundstein beim Aufbau des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Angesichts der steigenden Zahl der Menschen, die durch Europa reisen oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat leben und arbeiten – ein Trend, der sich in Zukunft noch weiter verstärken wird –, kommt diesem Aspekt entscheidende Bedeutung zu.
3.4 Der EWSA begrüßt, dass die Kommission in ihren Vorschlägen Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat Opfer einer Straftat werden, die Möglichkeit einräumt, diese Straftat in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat anzuzeigen. Besonders wichtig ist dies im Fall schwerer Verletzungen oder Unfälle bzw. im Todesfall für die Angehörigen.
3.5 Zudem unterstützt der EWSA den gewählten Querschnittsansatz, der Rechte für alle Opfer vorsieht.
3.6 Er erachtet es als wichtig, dass die Kommission das Leid und die Belastungen für die Angehörigen der Opfer und der Opfer selbst anerkennt, was jedoch einheitlicher in allen Vorschlägen berücksichtigt werden sollte.
3.7 Straftaten haben für die Opfer verheerende physische, emotionale und finanzielle Auswirkungen, sodass sowohl Opfern als auch ihren Angehörigen geholfen werden muss, spielen Letztere doch eine ganz zentrale Rolle bei der Unterstützung der Opfer, im Umgang mit den Behörden, bei der medizinischen Versorgung, den vielen Verwaltungsdingen, der Suche nach dem/den Straftäter(n), dem Beschreiten des Rechtsweges und Entschädigungsforderungen.
3.8 Der EWSA ist der Ansicht, dass die zusätzlichen Schwierigkeiten und die Zusatzbelastung berücksichtigt werden müssen, die sich für die Opfer und ihre Angehörigen aus einer grenzübergreifenden Situation ergeben, in der die Sprachunterschiede, die unvertrauten Verfahren und die kulturellen Unterschiede eine weitere, u.U. unüberwindbar erscheinende Hürde darstellen.
3.9 Generell melden über 50 % der Opfer von Straftaten diese der „zuständigen Behörde“ nicht. Dies ist auf unterschiedliche Gründe zurückzuführen, u.a. darauf, dass Opfer nicht wissen, wie sie eine Straftat anzeigen oder eine Beschwerde einreichen sollen oder nur wenig Vertrauen darin haben, dass die Behörden ihnen Hilfe, Schutz und Unterstützung bieten, um ihre Rechte durchzusetzen oder eine Entschädigung zu erhalten. Dem EWSA ist sehr daran gelegen, dass die Vorschläge in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden, durch die dem mangelnden Vertrauen der Opfer in die Justiz abgeholfen wird.
3.10 Untersuchungen (12) haben gezeigt, dass zahlreiche praktische und technische Probleme, auf die Opfer und ihre Angehörigen in Momenten äußerster Schutz- und Hilfsbedürftigkeit stoßen, mit den bestehenden Maßnahmen nicht gelöst werden können.
3.11 Die Vorschläge der Kommission sind ein wichtiger Schritt, um zu gewährleisten, dass Opfern und ihren Angehörigen Vorrang eingeräumt wird, dass sie Anerkennung erfahren und mit Würde und Respekt behandelt werden und ihnen der Schutz, die Unterstützung und der Rechtsschutz gewährt werden, die ihnen von Rechts wegen zustehen. In solch bedrohlichen Situationen dürfen sich die Opfer nicht alleingelassen fühlen.
4. Besondere Bemerkungen
4.1 Derzeit bestehen zwischen den Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede in der Stringenz und Wirksamkeit der Vorschriften; es bedarf daher eines radikalen Wandels, um ein adäquates Niveau an Unterstützung, Schutz und Rechten sicherzustellen, auf das sich die Bürgerinnen und Bürger der EU verlassen können, egal ob sie sich in ihrem Heimatland oder in einem anderen Mitgliedstaat befinden. Es ist nicht hinnehmbar, dass das Ausmaß der gewährten Unterstützung schicksalhaft davon abhängt, in welchem Mitgliedstaat jemand einer Straftat zum Opfer fällt.
4.2 Nach Auffassung des EWSA sind seine Mitglieder prädestiniert, einen Beitrag zur wirksamen Umsetzung dieser Vorschläge und der in der Mitteilung genannten Begleitmaßnahmen zu leisten, und der Ausschuss fordert die Kommission auf, weiterhin gemeinsam mit dem EWSA die jeweils zuständigen Gremien gegebenenfalls dazu anzuhalten, die für eine systematischere und wirksamere Unterstützung von Opfern von Straftaten und ihrer Angehörigen erforderlichen konkreten Strukturen, Maßnahmen und Verfahren zu erarbeiten.
4.3 Anerkennung und Schutz
4.3.1 In der Richtlinie erstreckt sich der Begriff „Opfer“ nur auf „die Familienangehörigen einer Person, die infolge einer Straftat ums Leben gekommen ist“. Nach Ansicht des EWSA geht dies nicht weit genug, und es wird dabei außer Acht gelassen, dass viele überlebende Verbrechensopfer so schwere Verletzungen davontragen, dass sie ein sehr hohes Maß an Unterstützung bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit benötigen, um die Tat selbst anzuzeigen oder ihr Recht und ihre Ansprüche auf Schadenersatz vor Gericht einzuklagen, weshalb dies von den Angehörigen oder anderen Hilfspersonen übernommen werden muss. Auch sie müssen Anerkennung erfahren. Der EWSA schlägt vor, Artikel 2 (Begriffsbestimmungen) in KOM(2011) 275 um die Ziffer 2 a) iii) zu erweitern: „Die anerkannte Hilfsperson, sei es ein Familienmitglied oder ein Beschäftigter eines Opfers, das vor oder nach einer Straftat ein hohes Maß an Unterstützung bei der Ausübung seiner Rechts- und Handlungsfähigkeit benötigt“.
4.3.2 Der EWSA bedauert, dass trotz der Anstrengungen zur Einhaltung der Arbeitsschutzvorschriften der Schutz von Menschen, die am Arbeitsplatz Opfer kriminellen Verhaltens werden, etwa Beschäftigte im Straßenverkehr und in sonstigen Zweigen des Verkehrswesens, in den Vorschlägen nicht angesprochen wird. Die Mitgliedstaaten definieren eine Straftat im Sinne eines Verstoßes gegen Rechte und Schutzvorschriften am Arbeitsplatz auf unterschiedliche Weise, wodurch die Gewährleistung von EU-Mindestnormen unter Umständen unterminiert wird. Dies hat auch Folgen für entsandte Arbeitnehmer. Der EWSA fordert daher von der Kommission eine gründliche Untersuchung dieses Umstands und sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor anwendbare Begleitmaßnahmen zur Förderung von Mindestrechten für Personen, die am Arbeitsplatz Opfer kriminellen Verhaltens werden.
4.3.3 Der EWSA hat Bedenken, dass mit der Begriffsbestimmung eines Opfers als „natürliche Person“ Organisationen oder Unternehmen, die Straftaten zum Opfer fallen, von den durch die Richtlinie gewährten Rechten ausgenommen sein könnten. Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission eine Untersuchung durchführt, um zu ermitteln, ob vor allem mit Blick auf kleine und mittlere Unternehmen besondere, auf die Verbesserung des Schutzes gegen fortgesetzte Viktimisierung gerichtete Maßnahmen in diesem Bereich erforderlich sind.
4.3.4 Der EWSA ist der Meinung, dass die Kommission das grundlegende Problem der direkten und indirekten Diskriminierung von Opfern, auch der kulturellen Diskriminierung, nicht in angemessener Weise angeht, und schlägt ihr vor, wirksamere Schutzvorkehrungen in die Vorschläge einzuarbeiten, um dies zu ändern. Eine doppelte Opferrolle und Diskriminierung ist dort möglich, wo Opfer aufgrund ihrer Rasse, Religion, Weltanschauung, sexuellen Ausrichtung, einer Behinderung, ihres Geschlechts oder ihres sozialen Hintergrunds zur Zielscheibe von Beleidigungen werden, was einer der Hauptgründe für die extrem hohe Dunkelziffer nicht zur Anzeige gebrachter Verbrechensfälle ist. Opfer können dadurch diskriminiert werden, dass sie von den Behörden oder der Justiz in unzulässiger Weise behandelt werden, indem ihnen nicht geglaubt oder sie nicht mit Würde, Respekt und Anerkennung behandelt werden.
4.3.5 Hier plädiert der EWSA für einen Einstellungswandel hin zur Akzeptanz der Rolle des Opfers im Justizsystem. Die Gewährleistung geeigneter Schulungsmaßnahmen für die Angehörigen der Rechtsberufe – unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips – ist ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung. Der EWSA schlägt der Kommission vor, Finanzierungsprogramme ins Auge zu fassen, damit dieser Einstellungswandel in den wesentlichen Behörden bewirkt wird.
4.3.6 Der Opferschutz steht im Mittelpunkt der Vorschläge. Besonders wichtig ist er dann, wenn sich Opfer und ihre Angehörigen in unmittelbarer Nähe oder im selben Gebäude wie der Angeklagte aufhalten, sei es in Krankenhäusern, Gerichtsgebäuden oder Polizeidienststellen. Die üblichen Verfahren müssen angepasst werden, um sicherzustellen (statt, wie im Verordnungsvorschlag formuliert, „nach und nach die Voraussetzungen dafür zu schaffen“), dass der Kontakt zwischen Opfern und ihren Angehörigen und den Tatverdächtigen vermieden wird, indem sie in unterschiedlichen Räumen untergebracht und unterschiedliche Einrichtungen genutzt werden.
4.3.7 Wichtig ist aber auch, die Menschen davor zu schützen, in eine Opferrolle zu geraten. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Überwachung neuer Arten, auf die man zum Opfer werden kann (z.B. Computerkriminalität), zu fördern und einzuschätzen, welche Maßnahmen für den Schutz und die Unterstützung der Opfer erforderlich sind. Um die Opferzahlen zu senken, ist es von grundlegender Bedeutung, auf erfolgreichen Vorgängern wie Daphne aufbauende Programme zur Sensibilisierung für potenzielle Gefahren zu entwickeln und Vorkehrungen für den Fall einer Bedrohung zu treffen.
4.3.8 Statistiken belegen, dass Menschen, die einmal Opfer geworden sind, weitaus anfälliger dafür sind, erneut Opfer zu werden. Wer in der Kindheit entweder zuhause oder in staatlich oder anderweitig finanzierten Einrichtungen Missbrauchsopfer wird, behält die Opferrolle nicht selten sein Leben lang. Vielen Opfern fällt es schwer, über ihre Lage zu sprechen und zur Anzeige zu schreiten. Der EWSA erhofft sich Begleitmaßnahmen und EU-Fördermittel, die gezielt eingesetzt werden, damit Opfer und in die Opferrolle Gedrängte den Kreislauf der fortgesetzten Viktimisierung durchbrechen und insbesondere in Gebieten mit hoher Kriminalitätsrate staatsbürgerliches Vertrauen aufbauen können.
4.3.9 Der EWSA schließt sich zwar der Auffassung der Kommission an, dass bestimmte Opfer wie etwa Kinder oder Menschen mit Behinderungen besonders schutzbedürftig und entsprechend zu behandeln sind, hat jedoch Bedenken, dass die Herausstellung „schutzbedürftiger Opfer“ zur Etablierung einer Opferhierarchie und in der Folge zur Diskriminierung mancher Opfer gegenüber anderen führen könnte. Alle Opfer sind schutzbedürftig, und nach Meinung des EWSA sollte eher vorgeschlagen werden, dass allen Opfern von Straftaten besondere Maßnahmen offenstehen, und zwar über eine Einzelprüfung nach Maßgabe innerstaatlicher Verfahrens, bei der die Schutzbedürftigkeit der Opfer unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Merkmale, der Art der Straftat und der Beziehung zu dem Tatverdächtigen festgestellt wird. Unabdingbar sind Methoden, bei denen das soziale Umfeld und die Lebensbedingungen der Opfer anerkannt und durchdrungen werden sowie verständnisvoll darauf eingegangen wird. Der EWSA empfiehlt, in Artikel 18 der Mitteilung KOM(2011) 275 die Ziffern 1, 2 und 5 zu streichen und die Bezüge und den Wortlaut des verbleibenden Texts entsprechend zu ändern, einschließlich einer eventuellen Umformulierung von „sämtliche Opfer“ in der ersten Zeile von Ziffer 3.
4.3.10 Der EWSA begrüßt den Verordnungsvorschlag über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen und erkennt diesen als notwendige ergänzende Rechtsvorschrift zum Richtlinienvorschlag CSL 00002/2010 über die europäische Regelung zur Europäischen Schutzanordnung (im Strafrecht) an. Der EWSA stellt fest, dass der Ministerrat und das Europäische Parlament eine Einigung über diesen Vorschlag erzielt haben. Der EWSA vertritt die Auffassung, dass die Anwendung und die Form beider Maßnahmen im Interesse einer leichteren Durchführbarkeit vereinheitlicht werden sollten. Außerdem muss dafür gesorgt werden, dass Schutzanordnungen wirksam durchgesetzt werden.
4.3.11 Der EWSA würdigt die konstruktive Rolle, die die Medien bei der Unterstützung der Rechte und der Anerkennung von Opfern spielen können, fordert aber in den Vorschlägen Bestimmungen, durch die ein Gleichgewicht zwischen der Anerkennung dieser konstruktiven Rolle auf der einen und dem Schutz der Privatsphäre von Opfern und ihren Angehörigen während Gerichtsverhandlungen sowie vor aufdringlicher und unerwünschter Medienberichterstattung auf der anderen Seite, zu der auch die politisch motivierte Zuschreibung der Opferrolle durch die Medien zählt, gewährleistet wird. Zu oft kommt es vor, dass Abbildungen, Fotos und intime Details ohne Zustimmung der Betroffenen veröffentlicht werden – ein solches Eindringen in die Privatsphäre und das Familienleben kann nicht akzeptiert werden. Es muss gewährleistet werden, dass mit Opfern und ihren Angehörigen in einer für sie extrem prekären Situation respektvoll umgegangen wird und ihre Würde und Menschenrechte gewahrt werden. In derlei Fällen sollten die Medien verpflichtet sein, die zugefügte Verletzung durch eine Gegendarstellung wiedergutzumachen, der ein ebensolcher Platz wie der ursprünglichen Opferberichterstattung selbst eingeräumt wird hat.
4.3.12 Der EWSA fordert, dass in den Vorschlägen auch staatliche Stellen und insbesondere die Polizei dazu verpflichtet werden, die Privatsphäre der Opfer und ihrer Angehörigen zu schützen. Dies ist insofern wichtig, als die Polizei die Hauptinformationsquelle für die Medien ist. In Großbritannien lösten schockierende Enthüllungen über das Abhören der Telefongespräche von Opfern und ihrer Angehörigen jüngst einen Skandal aus. Die EU muss in diesem Bereich einen besseren Schutz der Opfer und ihrer Angehörigen gewährleisten, und zwar sowohl in deren Heimatland als auch im Ausland.
4.4 Recht auf Information und Recht, verstanden zu werden, sowie auf Verdolmetschung und Übersetzung
4.4.1 Der EWSA begrüßt die Vorschläge, die darauf abzielen, Opfern klare und weitreichende Rechte hinsichtlich der frühzeitigen Bereitstellung relevanter Informationen zu ihrem Fall und der laufenden Information über dessen Fortgang einzuräumen. Allzu häufig gehen wertvolle Zeit, Informationen und Beweismaterialien verloren, insbesondere in Fällen, in denen nicht von vornherein klar ist, ob eine Straftat vorliegt, etwa im Falle von Vermissten, Ertrunkenen, Sturzunfällen und ungeklärten Todesursachen. In grenzübergreifenden Fällen können vor allem dann, wenn es keine Tatzeugen gibt, die zeitlichen Verzögerungen noch größer sein. Dies sollte jedoch nicht die Einleitung von Hilfs- und Schutzmaßnahmen für Opfer verzögern. Über die Europäische Stelle für justizielle Zusammenarbeit (Eurojust) oder auf Grundlage bilateraler Rechtshilfeabkommen sind nur begrenzte Ermittlungen möglich, da Letztere sich rein auf strafrechtliche Angelegenheiten beziehen. Der EWSA befürwortet Begleitmaßnahmen, durch die Hindernisse für Anträge auf Nachforschungen oder Ermittlungen beseitigt werden.
4.4.2 Es ist wichtig zu wissen, wo und wie eine Drohung oder ein Zwischenfall angezeigt werden können. Im Fall von Auslandsaufenthalten sollten diese Informationen unkompliziert bei den zuständigen Behörden erhältlich sein, etwa bei der Polizei, in Konsulaten/Botschaften, Krankenhäusern und kommunalen Verwaltungsbehörden bzw. auf deren Internetseiten. Sie sollten überdies den Reiseunterlagen von Reisebüros/Fluglinien entnommen werden können, in doppelter Ausfertigung mit einer abtrennbaren Kopie, die Reisende bei engen Familienangehörigen oder Freunden hinterlegen können.
4.4.3 Gegenwärtig reicht die Abstimmung und Zusammenarbeit der zuständigen Behörden in grenzübergreifenden Fällen nicht aus, in denen Unterschiede der Rechtssysteme und Kulturen oft hinderlich sind bzw. dazu führen, dass Behörden nur zögerlich Informationen bereitstellen und zusammenarbeiten. Der EWSA würde es begrüßen, wenn die Außen- und Justizministerien der EU weiter kooperieren und eine Vereinbarung über den Austausch polizeilicher Informationen zwischen Konsularbediensteten erarbeiten, damit berechtigte Fragen des Opfers oder seiner Familienangehörigen zu den Ermittlungen beantwortet werden können. Dabei sollten die zuständigen Behörden verpflichtet werden, Kontaktdaten der ermittelnden Behörde bzw. des jeweiligen Ermittlers an einen bevollmächtigten Kollegen in einem anderen Staat weiterzuleiten, der sich mit dem Opfer und dessen Angehörigen in Verbindung setzen könnte, um diese zu informieren, gegebenenfalls unter Wahrung der Vertraulichkeit.
4.4.4 In vielen Staaten gibt es in den Polizeidienststellen und in der Untersuchungsrichterschaft keine Kontaktstellen für Angehörige, sodass diese gezwungen sind, sich vor der Weitergabe von Informationen einen Anwalt zu nehmen, was sehr kostspielig sein und die Mittel vieler Familien übersteigen kann. Der EWSA empfiehlt der Kommission, Begleitmaßnahmen zur Entwicklung von Beispielen für bewährte Verfahren in diesem Bereich in Betracht zu ziehen, die EU-weit möglichst einheitlich umgesetzt werden sollten.
4.4.5 Die Mitgliedstaaten sollten verpflichtet werden, Informationen über Opferrechte und Hilfsangebote regelmäßig einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Außerdem sollten sie verpflichtet werden, bei der Erstellung mehrsprachiger Informationen zur Kostenminimierung auf EU-Ebene zusammenzuarbeiten.
4.4.6 Dem Recht, zu verstehen und verstanden zu werden, kommt bei der Durchsetzung von Rechtsansprüchen entscheidende Bedeutung zu. Der EWSA schlägt vor, dass die Mitgliedstaaten überprüfen, welche Kommunikationsbedürfnisse Opfer und ihre Angehörigen im Rahmen von Strafprozessen haben, um sicherzustellen, dass ihnen die Unterstützung gewährt wird, die sie brauchen, um zu verstehen und verstanden zu werden.
4.4.7 Das umfassende Recht auf kostenlose Verdolmetschung und Übersetzung in Strafprozessen ist ein grundlegendes Menschenrecht, das insbesondere wichtig ist für Menschen, die im Ausland einer Straftat zum Opfer gefallen sind, sowie für deren Familienangehörige. Der EWSA begrüßt, dass diese Rechte nunmehr auf Opfer ausgeweitet werden sollen. Bedenken wegen der Kosten dieser Dienstleistungen sind unangebracht, erfüllen doch bereits heute zahlreiche Mitgliedstaaten derlei Ersuchen der Opfer.
4.4.8 Der EWSA begrüßt, dass Opfern und ihren Angehörigen das Recht eingeräumt wird, Entscheidungen anzufechten, die besagen, dass derartige Dienstleistungen nicht erforderlich sind, sowie eine Beschwerde einzubringen, wenn die Qualität der Verdolmetschung nicht ausreicht, um ihre Rechte im Strafprozess zu wahren. Er unterstützt die in der Richtlinie 2010/64/EU über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren vorgeschriebene Einrichtung eines nationalen Registers qualifizierter Dolmetscher und Übersetzer, welches das anerkannte, von Rechtsbeiständen und zuständigen Behörden zu nutzende Reservoir sein sollte. Der EWSA befürchtet, dass einige Mitgliedstaaten zwar Register einrichten, doch Agenturen mit diesen Dienstleistungen beauftragen und so die Register umgehen, was dem Geist der Richtlinie nicht entspricht und nach Meinung des Ausschusses beendet werden muss.
4.5 Recht auf Opferhilfe
4.5.1 In den Vorschlägen wird festgelegt, welche Mindestdienstleistungen EU-weit bereitgestellt werden müssen, damit Opfer und ihre Angehörigen in einer Situation, in der sie es am meisten brauchen, wissen, was sie überall in der EU an rechtzeitiger und wirksamer Unterstützung erwarten können. Dabei kommt es darauf an, dass diese Dienstleistungen kostenlos und vertraulich sind und – sei es von öffentlichen Stellen oder von privaten Anbietern – von hochqualifiziertem Personal erbracht werden.
4.5.2 Der EWSA zeigt sich besorgt über die derzeit bestehenden erheblichen Unterschiede im Umfang und in der Qualität der Opferhilfe in den einzelnen Mitgliedstaaten sowie darüber, dass sie im Allgemeinen bei weitem nicht so umfassend finanziert ist wie die Hilfestellung für Tatverdächtige oder Angeklagte. Der EWSA fordert Begleitmaßnahmen zur Stärkung und Formalisierung der Normen, der Qualität und der geografischen Reichweite der Opferhilfseinrichtungen in der gesamten EU und eine sichere und dauerhafte finanzielle Unterstützung dieses Netzes aus EU-Haushaltsmitteln. Aufgrund der Entwicklung gemeinsamer Online-Schulungsprogramme und Informations- und Kommunikationsstrukturen sowie des Austausches bewährter Verfahren wird dies Skaleneffekte ermöglichen. Zudem wird es eine besser strukturierte Betreuung von Opfern sowie die Anwendung und Durchsetzung des Pakets von Rechtsvorschriften erleichtern und dessen Wirksamkeit steigern.
4.5.3 Das Recht der Opfer auf Unterstützungsdienste ist von entscheidender Bedeutung für die Bewältigung der Tatfolgen und die wirksame Durchsetzung ihrer Rechte. Obwohl viele Mitgliedstaaten durch die Finanz- und Wirtschaftskrise vor ernsthafte Probleme gestellt wurden, dürfen sie ihre Verpflichtungen in diesem Bereich nicht vernachlässigen. Dabei sind die Kosten für die Bereitstellung dieser Dienstleistungen den Kosten bei einer Unterlassung gegenüberzustellen, d.h. den wirtschaftlichen und sozialen Kosten, die anfallen, weil Opfer und deren Angehörige viel Zeit für ihre Genesung brauchen bzw. das erlittene Trauma nicht überwinden können. Mehrere Länder finanzieren nationale Opferhilfsprogramme aus Geldstrafen für Vergehen. Der EWSA schlägt der Europäischen Kommission vor, eine Studie über die Wirksamkeit solcher Verfahren mit Blick auf eine mögliche weitere Verbreitung zu finanzieren.
4.5.4 Der EWSA weist darauf hin, dass die Zahl der Opfer von Land zu Land und von Region zu Region variiert. Der Zustrom von Menschen in der Hauptreisezeit kann, gepaart mit alkoholinduzierter Aggression, den Druck weiter ansteigen lassen. Der EWSA ist der Ansicht, dass die Hilfe flexibel und regional verfügbar sein sollte, und er fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, zu überlegen, wie Ressourcen und Unterstützungsmaßnahmen für bessere Kommunikation und Dienstleistungen dort gebündelt werden können, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Besonders wichtig ist dies dort, wo für den Anstieg des Risikos bzw. der konkreten Gefahr, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, in unverhältnismäßig hohem Maße Tatverdächtige verantwortlich und/oder Opfer betroffen sind, die nicht aus der Region bzw. dem Land stammen.
4.5.5 Entscheidend sind rechtliche Verpflichtungen, durch die Opfer auf Unterstützungsleistungen hingewiesen werden und die anschließende tatsächliche Erbringung dieser Hilfsdienste gewährleistet wird. In der EU ist es meist Aufgabe der Polizei, Opfer an Hilfsdienste zu verweisen. Nichtsdestotrotz wird heutzutage die überwiegende (13) Mehrheit der Opfer nicht an die entsprechenden Stellen weitergeleitet. Dies ist das größte Hindernis bei der Gewährleistung europaweiter Opferhilfe.
4.5.6 Auch sonstigen einschlägigen Behörden, die mit Opfern in Kontakt kommen – u.a. Krankenhäusern, Botschaften und Konsulaten, Schulen und Wohnbehörden – sollte gegebenenfalls die Verantwortung für die Weiterleitung von Opfern an Hilfseinrichtungen übertragen werden. Datenschutzrechtlich wäre dies wohlgemerkt unbedenklich.
4.5.7 Im Ausland einer Straftat zum Opfer Gefallene und ihre Angehörigen erhalten nach der Rückkehr in ihr Heimatland nicht immer Hilfe von den bestehenden Opferhilfsdiensten. Hier besteht Verbesserungsbedarf. Mitunter brauchen Opfer nach der Rückkehr in ihr Heimatland viel Zeit, um das Geschehene zu verarbeiten, und müssen gesundheitliche, rechtliche und administrative Probleme meistern. Der EWSA ruft dazu auf, den Zuständigkeitsbereich von Opferhilfsdiensten auszuweiten, damit die dafür nötige Unterstützung auch tatsächlich gewährt wird.
4.5.8 Der EWSA fordert EU-Finanzierungsprogramme zum Ausbau der Zusammenarbeit und zum Aufbau der Kapazitäten von Opferhilfsdiensten, Polizei- und Justizbehörden, Krankenhäusern, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen im Hinblick auf die Mitwirkung der Zivilgesellschaft an der Verbesserung der Hilfe für Opfer von Straftaten und die Förderung bewährter Vorgehensweisen und konkreter Maßnahmen zur Verbesserung der Opferhilfe. Freiwillige, die bei der Ausübung ihrer Tätigkeit durch kriminelles Verhalten zu Schaden kommen, sollten ebenfalls als Opfer von Straftaten anerkannt und unterstützt werden.
4.5.9 Auch wenn natürlich der Justiz und den sonstigen zuständigen Behörden eine Schlüsselrolle beim Schutz und der Unterstützung von Opfern zukommt, ist der EWSA doch der Ansicht, dass Firmen und Organisationen aus den betroffenen Branchen (Reiseveranstalter, Versicherungen, Fluglinien, Hotels, Banken, Mobilfunk- und sonstige Telefonanbieter, Autovermietungen und Taxiunternehmen, Gewerkschaften und im sozialen Bereich tätige Nichtregierungsorganisationen) einen großen Gestaltungsspielraum haben, um in konstruktiver Zusammenarbeit erfolgversprechende und konkrete Strategien und Strukturen zur Unterstützung von Opfern und ihren Angehörigen in Krisensituationen zu entwickeln. Diese Initiativen sollten nicht als Bürde, sondern vielmehr als Chance begriffen werden, erfolgversprechende Maßnahmen zur sozialen Verantwortung der Unternehmen zu entwickeln.
4.5.10 Der EWSA schlägt der Kommission vor, in einer Studie über die EU-Versicherungsbranche zu untersuchen, inwieweit Opfer von Straftaten und Unfällen finanziell abgedeckt, geschützt und entschädigt werden. Ziel muss die Förderung bewährter Vorgehensweisen bei der Bereitstellung fairer und angemessener rechtlicher und administrativer Unterstützung, der Entschädigung und bei den Kosten sein, damit Opfer oder deren Angehörige an Strafverfahren teilnehmen können. Die Verständlichkeit von Bedingungen und Ausschlussklauseln der Policen sollten unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Alphabetisierungs-, Bildungs- und möglichen Behinderungsgrade der Versicherungskunden bewertet werden. Klauseln in Reiseversicherungen, denen zufolge gar nicht oder nur teilweise gehaftet wird, falls der Versicherte Alkohol zu sich genommen und unter Alkoholeinwirkung zu einem Unfall beigetragen hat, sollten deutlich hervorgehoben werden. Zugleich sollten die Versicherungsunternehmen angeregt werden, in diesem Bereich angesichts des Umstandes, dass in der Tat viele Urlaubsreisende in Maßen Alkohol zu sich nehmen, Ausgewogenheit an den Tag zu legen und den Einsatz herkömmlicher Alkoholtestverfahren in Erwägung zu ziehen, die es etwa für Trunkenheit im Straßenverkehr gibt. Die Mitgliedstaaten sind nach Maßgabe der EU-Richtlinie zur Entschädigung der Opfer von Straftaten weiterhin zu Entschädigungsleistungen verpflichtet. Dies entbindet jedoch die Versicherungsunternehmen nicht davon, ihrer vorrangigen Pflicht nachzukommen.
4.5.11 Nach Auffassung des EWSA sollte zur fortlaufenden Überwachung und Entwicklung von Schulungen sowie als Triebfeder für den Wandel der Einstellung gegenüber Opfern eine Monitoring-Gruppe auf EU-Ebene eingerichtet werden, in der Opfer und ihre Familien, Opferhilfseinrichtungen und in diesem Bereich tätige Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Vertreter der Wirtschaft mitwirken.
4.5.12 Wo es relevant ist, sollte die Durchsetzung von Opferrechten auch in anderen EU-Politikfeldern und Legislativvorschlägen Berücksichtigung finden. Auf diese Weise könnte sichergestellt werden, dass in diesem Bereich tatsächlich Fortschritte erzielt werden.
4.6 Recht und Schadenersatz
4.6.1 Die Rechte von Opfern müssen in einem ausgewogeneren Verhältnis zu den Rechten von Angeklagten stehen. Derzeit erhalten Opfer weniger Unterstützung und haben weniger Rechte. Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen zu ergreifen, damit Opfer wirksam Rechtsbehelfe einlegen können, falls ihnen Informationen und Unterstützung bzw. andere in der Richtlinie vorgesehene Mindestrechte verwehrt und deren Bestimmungen nicht angewandt werden.
4.6.2 Das Recht des Opfers, im Strafprozess gehört zu werden und auszusagen, ist ein Menschenrecht und ein entscheidender Faktor für eine wirksame Rechtspflege. Dieses Recht wird bereits in einigen Mitgliedstaaten gewährt und muss auf die gesamte EU ausgeweitet werden. In dieser Hinsicht sollte die EU-Gesetzgebung wirkungsvollen Zeugenschutzprogrammen Rechnung tragen und deren Aufstellung entschieden begünstigen.
4.6.3 Die Rechte Angeklagter müssen gewahrt werden, aber auch die legitimen Interessen von Opfern und ihren Angehörigen müssen anerkannt und unterstützt werden. Opfern sollte im gleichen Ausmaß rechtliche und administrative Unterstützung gewährt werden. Der EWSA begrüßt, dass das Recht von Opfern auf Prozesskostenhilfe anerkannt wird, wenn sie als Parteien im Strafverfahren auftreten. Hierdurch wird die Inanspruchnahme der in der Richtlinie festgeschriebenen Rechte von Opfern ermöglicht. Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Unterstützung auch den Angehörigen des Opfers und einer anerkannten Hilfsperson gewährt werden sollte, falls das Opfer verstorben ist oder zur Teilnahme am Strafverfahren ein hohes Maß an Unterstützung bei der Ausübung seiner Rechts- und Handlungsfähigkeit benötigt, und er fordert die Kommission auf, die Bestimmungen hinsichtlich Rechtshilfe und -beistand für Opfer und deren Angehörige in der EU einer Prüfung zu unterziehen, damit bei künftigen Maßnahmen die Unterstützung in diesem Bereich ausgeweitet wird.
4.6.4 Der EWSA bedauert, dass in manchen Mitgliedstaaten die Rücküberführung Verstorbener erheblich erschwert wird. Den Familien der Opfer wird häufig das Recht verweigert, ihre Angehörigen zur Bestattung in die Heimat zu überführen, oder aber sie müssen jahrelang warten und sich komplizierten Gerichtsverfahren unterziehen, bevor der Leichnam freigegeben wird. Dies verursacht den Familien neben der Trauer um ihre Angehörigen zusätzliches Leid und Frustration. Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission, für den Transport und die Rücküberführung der sterblichen Überreste von Menschen, die in einem anderen Mitgliedstaat zu Opfern wurden, gemeinsame, innerhalb einer eindeutig gesetzten Frist (14) durchzuführende Verfahren zu entwickeln, die Vorrang vor Regelungen auf nationaler oder subnationaler Ebene erhalten.
4.6.5 Der EWSA wertet es positiv, dass Opfern Anspruch auf Erstattung ihrer Reise- und Aufenthaltskosten gewährt wurde, die aufgrund ihrer Teilnahme als Zeugen oder Opfer an Prozessen anfallen. Er geht davon aus, dass dieses Recht auch für die Hinterbliebenen eines Mordopfers gilt, ist jedoch der Ansicht, dass es auf Angehörige und Hilfspersonen von Opfern, die ein hohes Maß an Unterstützung bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit benötigen, ausgeweitet werden sollte und vom Staat zu garantieren ist.
4.6.6 Eine schriftliche Bestätigung über die Anzeige einer Straftat sollte eine Mindestanforderung sein. Gemäß einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hat der Staat Beschwerden von Opfern angemessen nachzugehen.
4.6.7 Nach Ansicht des EWSA sollten im Falle von Straftaten, die ein Tatverdächtiger in einem anderen Mitgliedstaat verübt, Vorkehrungen getroffen werden, um zu gewährleisten, dass das Auslieferungsverfahren nicht von einem gegen denselben Verdächtigen im Inland anhängigen Verfahren blockiert wird, sofern dieses weniger schwerwiegend ist als das ausländische Strafverfahren. Ein im Inland anhängiges Verfahren sollte im beschleunigten Verfahren verhandelt oder so lange zurückgestellt werden, bis das ausländische Verfahren verhandelt wird.
4.6.8 Der EWSA ist der Auffassung, dass das Recht gewährt werden sollte, jedwede Entscheidung über den Verzicht auf Strafverfolgung von einer unabhängigen Stelle überprüfen zu lassen. Eine wirksamere Handhabe hätten Opfer dann, wenn sie zu Beschlüssen über eine strafrechtliche Verfolgung konsultiert würden.
4.6.9 Der EWSA ist sich bewusst, dass der durch eine Straftat zugefügte Schaden durch eine finanzielle Entschädigung nicht wieder rückgängig machen kann und es häufig vor allem darauf ankommt, den Opfern Anerkennung zu geben und respektvoll mit ihnen umzugehen. Opfer haben ein anerkanntes Recht auf Entschädigung, sind sie sich jedoch häufig dessen nicht bewusst oder schrecken vor einem langwierigen Schadenersatzprozess zurück. Bei einer Straftat im Ausland ist es oft unmöglich, eine Entschädigung zu erhalten, es sei denn, das Opfer oder dessen Angehörige strengen ein kompliziertes und kostspieliges Verfahren vor einem ausländischen Zivilgericht an. Es muss mehr getan werden, um sicherzustellen, dass Opfer ihre Schadenersatzansprüche einfacher und kostenlos geltend machen können. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Richtlinie zur Opferentschädigung zu überarbeiten und für weitreichende und notwendige Verbesserungen in diesem Bereich zu sorgen, wobei eine EU-weite Entschädigungsregelung für Opfer von Straftaten in Betracht gezogen werden sollte.
4.6.10 Zudem fordert der EWSA die Kommission auf, bei dieser Überarbeitung besonderes Augenmerk auf Entschädigungen für Opfer von Straftaten im Straßenverkehr zu richten. Er weist auf die vorbildlichen Verfahren für Opferentschädigung und -unterstützung hin, die es in einigen Mitgliedstaaten gibt. Dies gilt etwa dort, wo ein beträchtlicher Teil der Einnahmen aus Geldstrafen und -bußen für Verkehrsdelikte in die Unterstützung und Entschädigung der Opfer fließt. Da Verkehrsunfälle die Hauptursache für erworbene Behinderungen sind, sollten die Behindertenverbände in die Gestaltung, Umsetzung und Verwaltung dieser Entschädigungsregelungen eingebunden werden.
4.6.11 Auch Vorschusszahlungen zur Unterstützung der Opfer und ihrer Angehörigen in der Zeit unmittelbar nach einem Vorfall – also dann, wenn die meisten Kosten anfallen – sind in Erwägung zu ziehen.
4.6.12 Der EWSA begrüßt die Vorschläge zum Täter-Opfer-Ausgleich in der Richtlinie, hält jedoch dessen Definition für nicht umfassend genug. Bei der Begriffsbestimmung sollte Gewicht darauf gelegt werden, dass es verschiedene Möglichkeiten des Ausgleichs zwischen Tätern und Opfern gibt, in deren Rahmen die Beteiligten nicht unmittelbar miteinander in Kontakt kommen. Er unterstreicht, dass die Wünsche und der Schutz der Opfer und ihrer Angehörigen auf jeden Fall im Vordergrund stehen müssen. Ganz entscheidend sind dabei strenge Schutzmaßnahmen, wobei auch Maßnahmen zu begrüßen wären, die gewährleisten, dass der Staat die Weiterleitung an entsprechend geschulte Hilfseinrichtungen erleichtert. Der EWSA stellt fest, dass gegenwärtig sehr wenige Mitgliedstaaten Mittel für die opferorientierte Justiz bereitstellen, und empfiehlt der Kommission, Pilotprojekte zur Entwicklung von Normen und Schulungsmaßnahmen in diesem Bereich zu fördern, damit Größenvorteile geschaffen werden und der Austausch bewährter Verfahren gefördert wird.
4.6.13 Der EWSA weist darauf hin, dass die Strafverfolgungsbehörden jährlich EU-weit große Mengen von Diebesgut veräußern, die die Polizei den Eigentümern nicht zurückzugeben vermochte. Ein weiteres Problem stellen inakzeptable Wartezeiten auf die Rückgabe von Eigentum dar (15). Der EWSA fordert eine Verschärfung der Bestimmungen über die Rückgabe von Eigentum, die dahin geht, dass die Behörden dazu verpflichtet werden, detailliertere Informationen zur Verfügung zu stellen, Angaben darüber zu machen, in wessen Verantwortung sich das Eigentum befindet, sowie sicherzustellen, dass Eigentum innerhalb einer kurzen, festgelegten Frist zurückgegeben wird.
4.7 Umsetzung von Rechtsvorschriften und Maßnahmenvollzug
4.7.1 Werden die Vorschriften der Richtlinie nicht eingehalten, hat dies nicht nur für Opfer und ihre Angehörigen erhebliche wirtschaftliche und soziale Auswirkungen, sondern auch für die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten, und zwar in Form von Arbeitsausfällen und Belastungen für das Gesundheits- und Sozialsystem sowie Rechtsdienste. Es kommt daher darauf an, dass diese neuen Maßnahmen zur Unterstützung der Opfer und ihrer Angehörigen entsprechend umgesetzt werden, damit diese das Geschehene umfassender und schneller verarbeiten können.
4.7.2 Der EWSA ist der Auffassung, dass die Vorschläge auch effektive Maßnahmen umfassen sollten, die die Einhaltung von Mindeststandards in der gesamten EU gewährleisten. Dazu bedarf es Maßnahmen, durch die die ständige Überwachung und wirksame Durchsetzung dieser Standards gewährleistet wird, sowie abschreckender Sanktionen zur Verhinderung von Verstößen.
Brüssel, den 7. Dezember 2011
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Staffan NILSSON
(1) Er schlägt eine Frist von 28 Tagen vor, innerhalb deren gerichtsmedizinische Untersuchungen und DNA-Tests von zwei Pathologen durchgeführt werden könnten, einschließlich eines unabhängigen Berichts auf Ersuchen des Konsulats des Herkunftslandes des Verstorbenen.
(2) http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ec/111877.pdf.
(3) KOM(2010) 171 endg.
(4) Vom Ministerrat am 10. Juni 2011 verabschiedet.
(5) ABl. C 95 vom 23.4.2003, S. 40-44.
(6) ABl. C 51 vom 17.2.2011, S. 50-54.
(7) ABl. C 325 vom 30.12.2006, S. 60-64, ABl. C 317 vom 23.12.2009, S. 43-48, und ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 138-144.
(8) ABl. C 325 vom 30.12.2006, S. 65-70.
(9) ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 91.
(10) ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 9-18.
(11) ABl. C 97 vom 28.4.2007, S. 21-26.
(12) KOM(2011) 274 endg. und SEK(2011) 580.
(13) Laut Angaben von Victim Support Europe.
(14) Siehe Fußnote 1.
(15) Opferhilfsdienste in ganz Europa erhalten immer wieder Beschwerden von Opfern, in denen diese den Verzug bei der Rückgabe von Eigentum an das Opfer durch Strafverfolgungsbehörden beklagen.