19.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 54/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Island als Kandidatenland“

(Sondierungsstellungnahme)

(2011/C 54/02)

Berichterstatterin: Liina CARR

Mit Schreiben vom 28. April 2010 ersuchten Maroš Šefčovič, Vizepräsident der Europäischen Kommission, und das für Erweiterung zuständige Kommissionsmitglied Štefan Füle den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema

„Island als Kandidatenland“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 27. Oktober 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 467. Plenartagung am 8./9. Dezember 2010 (Sitzung vom 9. Dezember) mit 170 Stimmen bei 1 Gegenstimme ohne Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird hart um die Unterstützung der Öffentlichkeit für Islands Antrag auf EU-Mitgliedschaft gerungen, wie die öffentliche Anhörung im September 2010 in Island bestätigte. Die EU-Mitgliedschaft wird zwar nach wie vor stark diskutiert, doch die Unterstützung für Beitrittsverhandlungen hat offenbar in jüngster Zeit zugenommen: 64 % sprechen sich eher für eine Fortsetzung des Beitrittsprozesses als für eine Rücknahme des Beitrittsantrags aus. Dies zeigt eine deutliche Zunahme der Unterstützung für den Beitrittsprozess im Vergleich zu früheren Umfragen.

1.2   Nach Ansicht des Ausschusses ist es an der Zeit, dass sich proeuropäische Organisationen stärker in die öffentliche Debatte einschalten, um die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft für Island und für die EU deutlich zu machen. Der EWSA könnte hier vorangehen und insbesondere Veranstaltungen zur Rolle der Organisationen des Bereichs „verschiedene Interessen“ ausrichten.

1.3   Der EWSA befürwortet nachdrücklich die EU-Mitgliedschaft Islands und betont, wie wichtig die Beteiligung der isländischen Zivilgesellschaft an den Beitrittsverhandlungen ist. Die Sozialpartner haben seit jeher eine wichtige Rolle in der isländischen Politik gespielt und unterhalten bereits Kontakte zum EWSA und zu europäischen Dachorganisationen.

1.4   Der Ausschuss unterstreicht ebenso wie die Sozialpartner die Notwendigkeit einer umfassenderen zivilgesellschaftlichen Beteiligung verschiedener Akteure. Während des Beitrittsprozesses muss gewährleistet werden, dass neben dem herkömmlichen sozialen Dialog auch ein „ziviler Dialog“ geführt wird.

1.5   Der Ausschuss empfiehlt, ebenso wie für andere Beitrittsländer so schnell wie möglich einen Gemischten Beratenden Ausschuss für Island einzusetzen. Nach Ansicht des Ausschusses wird dies ein nützliches Gremium sein, um den Meinungs- und Informationsaustausch zwischen den Zivilgesellschaften Islands und der EU zu fördern, gemeinsame Empfehlungen und Standpunkte an die Adresse der Verhandlungsparteien zu richten und insbesondere den Organisationen der Gruppe III in den Beitrittsverhandlungen eine bessere Ausgangsposition zu sichern.

1.6   Aufgrund seines hohen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsstands und seiner Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ist Island (trotz des Zusammenbruchs seiner Wirtschaft in der jüngsten Krise) im Allgemeinen gut auf die Erfüllung der aus der EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen vorbereitet, vor allem in den Bereichen, die unter das EWR-Abkommen fallen. Der EWSA ist zudem überzeugt, dass Island als EU-Mitglied zur Weiterentwicklung verschiedener Politikbereiche der Union beitragen könnte, so in Bezug auf die nachhaltige Fischerei, erneuerbare Energieträger und die Arktis. Island hat derzeit keinen Sitz in den beschlussfassenden Organen der EU.

1.7   Wenngleich Island bereits den Großteil des EU-Besitzstands umgesetzt hat, besteht in bestimmten Kernbereichen, vor allem in der Fischerei und der Landwirtschaft, noch Handlungsbedarf. Der EWSA betont, dass die zivilgesellschaftlichen Gruppen in diesen Bereichen im Beitrittsprozess eine Schlüsselrolle spielen müssen. Doch auch andere betroffene Gruppen sollten in den Beitrittsprozess eingebunden werden, um die isländische Regierung bei den Verhandlungen über den EU-Beitritt zu unterstützen.

1.8   Einige einflussreiche zivilgesellschaftliche Organisationen haben bereits Widerstand gegen das isländische Beitrittsgesuch bekundet. Unter diesen Umständen kommt es entscheidend darauf an, dass die Organisationen, die der EU-Mitgliedschaft positiv gegenüber stehen, in naher Zukunft eine öffentliche Debatte über die Vorteile dieser Mitgliedschaft für Island und für die EU anstoßen. Nach Ansicht des EWSA wäre eine breit angelegte Debatte auf nationaler und europäischer Ebene angesichts der konsensorientierten Herangehensweise auf EU-Ebene von Nutzen und eine Hilfe für die Organisationen und die Öffentlichkeit bei der demokratischen Meinungsbildung.

1.9   Die negative öffentliche Meinung in Island zum EU-Beitritt ist zum Teil auf die auf die ungelöste Problematik im Zusammenhang mit der Internetbank „Icesave“ zurückzuführen. Aus diesem Grund ist es umso wichtiger, die Zivilgesellschaft für einen konstruktiven Dialog über die EU-Mitgliedschaft zu gewinnen. Der EWSA betont, dass die Icesave-Problematik außerhalb der Beitrittsverhandlungen gelöst werden muss und nicht zu einem Hindernis in Islands Beitrittprozess werden darf.

2.   Aktuelle Situation

2.1   Island hat im Juli 2009 einen Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union gestellt, und die Kommission gab am 24. Februar 2010 eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Antrag ab. Der Europäische Rat hat am 17. Juni 2010 beschlossen, Beitrittsverhandlungen mit Island aufzunehmen, und den Rat ersucht, einen allgemeinen Verhandlungsrahmen festzulegen. Dieser Beschluss wurde vom Europäischen Parlament am 28. Juni 2010 bekräftigt. Die erste Sitzung der Regierungskonferenz fand am 27. Juli 2010 statt.

2.2   Island hat im Rahmen des EWR-Abkommens und des Schengen-Assoziierungsübereinkommens bereits einen Großteil des EU-Besitzstands umgesetzt, was das Screening und die Verhandlungen über die einzelnen Kapitel erleichtern dürfte. Allerdings besteht in einigen wichtigen Bereichen wie Landwirtschaft, Fischerei und Währungspolitik noch Handlungsbedarf. Der Screening-Prozess hat begonnen, und soll im Juni 2011 abgeschlossen werden.

2.3   Island erfüllt voll und ganz die vom Europäischen Rat 1993 in Kopenhagen festgelegten politischen Kriterien für den EU-Beitritt. Das Land ist eine gut funktionierende repräsentative Demokratie mit leistungsfähigen Institutionen, einem ausgeprägten System zum Schutz der Grund- und Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit.

2.4   Darüber hinaus ist die öffentliche Verwaltung im Allgemeinen leistungsfähig und frei von politischer Einflussnahme. Allerdings gingen die jüngsten Turbulenzen auf den Finanzmärkten mit politischen Unruhen einher und machten eine Verwaltungsreform erforderlich. Der Kommission zufolge hat die Finanzkrise Fragen über mögliche Interessenkonflikte im Zusammenhang mit den engen Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft aufgeworfen, und es werden sehr wahrscheinlich weitere Reformen erforderlich sein. Die Reform der öffentlichen Verwaltung wurde bereits in die Wege geleitet, und einige von der Kommission aufgeworfene Probleme wurden bereits angegangen.

2.5   Trotz der schweren Auswirkungen der Wirtschaftskrise ist Island eine funktionierende Marktwirtschaft und sehr wohl in der Lage, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten. Zur Bekämpfung der Krise hat die isländische Regierung drastische Sparmaßnahmen ergriffen und Schritte zur Diversifizierung der Wirtschaft vorgeschlagen. Sie hofft, dass das Land bis Ende 2010 wieder ein positives Wachstum aufweist. Das Hauptziel der derzeitigen Regierung besteht darin, den Staatshaushalt bis 2013 zu sanieren und gleichzeitig Arbeitsplätze zu schaffen und die Innovation zu fördern, um Islands Wettbewerbsfähigkeit bis 2020 wiederherzustellen.

2.6   Im Allgemeinen gilt Island als ein natürlicher Beitrittskandidat. Die demokratische Kultur ist in Island tief verwurzelt, und der gemeinschaftliche Besitzstand wird weitestgehend erfüllt. Bei einer vollständigen rechtlichen Anpassung an den Besitzstand bis zum Beitritt könnten die Beitrittsverhandlungen mit Island daher relativ schnell abgeschlossen werden. Wenn die Verhandlungen erfolgreich verlaufen und die Einwohner Islands dem EU-Beitritt ihres Landes in einem Referendum zustimmen, wäre Island mit 317 000 Einwohnern der Mitgliedstaat mit der kleinsten Bevölkerungszahl.

2.7   Nachdem Island den Beitrittsantrag gestellt hatte, wurden zehn Verhandlungsgruppen für verschiedene Bereiche gebildet. Die Sozialpartner und andere wichtige Organisationen sind in allen wichtigen Gruppen gut vertreten. Wenngleich Staatsbedienstete für die Verhandlungen verantwortlich sind, wurden die am meisten betroffenen Gruppierungen zu den Vorbereitungen der Verhandlungsteams eingeladen und nehmen unmittelbar am Prozess teil.

2.8   Bislang verfolgt die isländische Regierung die Strategie, die Zivilgesellschaft voll und ganz am Beitrittsprozess zu beteiligen. Als der Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des isländischen Parlaments seine Stellungnahme zum EU-Beitritt verfasste, wurden zivilgesellschaftliche Organisationen, Einzelpersonen und Institutionen aufgefordert, Kommentare abzugeben, die in der Folgezeit auch Berücksichtigung fanden. In den Schlussfolgerungen des Ausschusses wurde angekündigt, dass ein breit angelegtes Konsultationsforum zur Erörterung von Fragen der EU, des Stands der Beitrittsverhandlungen und der Verhandlungspositionen des Landes in den einzelnen Bereichen eingerichtet werden soll.

2.9   Trotz all dieser positiven Signale hinsichtlich der Einbindung der Zivilgesellschaft in den Beitrittsprozess hat Islands Glaubwürdigkeit in einigen EU-Mitgliedstaaten aufgrund der Bankenkrise und des Icesave-Konflikts gelitten. Die Einstellung der Isländer zur EU ist wechselhaft. Eine im Juli 2010 durchgeführte Umfrage des Gallup-Instituts zeigte, dass 60 % der Bevölkerung eine Zurückziehung des Beitrittsantrags befürwortet, doch eine andere Umfrage, die Ende September von der Zeitung Fréttablaðið durchgeführt wurde, ergab, dass 64 % der Befragten einen Abschluss der Beitrittsverhandlungen wünschen, damit in einem Referendum über die Frage entschieden werden kann. Es ist zwar noch zu früh, um sagen zu können, ob die Isländer die EU jetzt anders wahrnehmen, allerdings ist eine enorme Nachfrage nach faktenorientierten Informationen über die Union und die EU-Mitgliedschaft festzustellen. Offenbar wollen immer mehr Menschen mehr über die EU und den Beitrittsprozess erfahren, um sich später bei ihren Entscheidungen auf solides Wissen stützen zu können und sich nicht von Mythen und Ängsten leiten zu lassen.

3.   Beziehungen zur EU

3.1   Island unterhält im Rahmen des EWR-Abkommens, das 1994 in Kraft trat, enge Beziehungen zur EU. Im EWR-Abkommen ist die Beteiligung von drei EFTA-Staaten am EU-Binnenmarkt vorgesehen. Nach dem isländischen Beitrittsgesuch eröffnete die Europäische Union eine Delegation in Island; zuvor war die Delegation in Oslo auch für Island zuständig.

3.2   Im Rahmen des EWR-Abkommens war es erforderlich, dass Island einen erheblichen Anteil des EU-Besitzstands in innerstaatliches Recht umsetzt. Island hat die meisten der Rechtsvorschriften zu den vier Freiheiten übernommen. Da nur wenige innenpolitische Bereiche vom EWR-Abkommen unberührt geblieben sind, könnte geltend gemacht werden, dass eine Art Quasi-EU-Mitgliedschaft bestehe. Der prozentuale Anteil der in innerstaatliches Recht übernommenen Binnenmarktvorschriften, die bis Juli 2009 umgesetzt wurden, liegt auf demselben Niveau wie beim Durchschnitt der EU-Mitgliedstaaten.

3.3   Obwohl Freiheit, Sicherheit und Recht nicht Bestandteil des EWR-Abkommens sind, ist Island durch das Schengen-Assoziierungsübereinkommen auch in diesen Politikbereich eingebunden. Als die nordischen EU-Mitgliedstaaten den Antrag auf Beitritt zum Schengener Abkommen stellten, machten sie zur Bedingung, dass eine Lösung für die Beibehaltung der Nordischen Passunion mit Island und Norwegen gefunden werde. Daher wenden diese beiden Länder seit März 2001 den Schengen-Besitzstand an.

3.4   Was die Teilnahme am Entscheidungsprozess in der EU betrifft, gewährt das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum in erster Linie Zugang zur Kommission. Gemäß Artikel 99 und 100 des EWR-Abkommens können EWR- und EFTA-Staaten an den Sachverständigen- und Arbeitsgruppen der Kommission im Rahmen der Komitologie-Ausschüsse teilnehmen. Gleichwohl unterhalten EWR- und EFTA-Staaten keine offiziellen Kontakte zum Rat oder zum Europäischen Parlament.

3.5   Die isländischen Sozialpartner nehmen am Beratenden EWR-Ausschuss mit dem EWSA teil. Auf politischer Ebene ist Island am Gemeinsamen Parlamentarischen EWR-Ausschuss beteiligt. Zusammen mit Norwegen nimmt Island auch an informellen Treffen vor den Tagungen des Rates zu nordisch-baltischen Fragen teil und kann dort versuchen, seine Standpunkte geltend zu machen.

3.6   Neben der nicht vollständigen Beteiligung am Entscheidungsprozess der Union besteht der wesentliche Unterschied zwischen Islands Status gemäß dem EWR-Abkommen und der EU-Mitgliedschaft darin, dass mit dem EWR keine supranationalen Institutionen geschaffen wurden, die unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbare Gesetze erlassen können, noch wurden mit dem EWR-Abkommen irgendwelche justiziellen Befugnisse übertragen. Zugleich wäre Island bei einer EU-Mitgliedschaft in allen Institutionen und Entscheidungsgremien der EU vertreten.

3.7   Trotz seiner engen Beziehungen zur EU hat es Island bis vor Kurzem vorgezogen, außerhalb der EU zu verbleiben. Diese Haltung wird allgemein auf verschiedene Faktoren zurückgeführt, allen voran der Wunsch, die nationale Kontrolle über die Fischereiressourcen zu behalten. Auch die gemeinsame Agrarpolitik ist bei den isländischen Bauern unbeliebt, die die Konkurrenz billiger Erzeugnisse vom europäischen Festland fürchten. In Island gibt es in bestimmten Bevölkerungsgruppen einen starken nationalistischen Diskurs, und einige Entscheidungsträger sind in der Regel nicht bereit, sich für etwas einzusetzen, das als Gefahr für die Souveränität des Landes betrachtet werden könnte. Die geografische Isolation des Landes, seine besonderen Sicherheitsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten in den Jahren des Kalten Krieges, die geringe Größe seiner Verwaltung und die Ausrichtung seines Wahlsystems auf ländliche Gebiete werden mitunter ebenfalls als mögliche Ursachen für die Politik Islands gegenüber der EU genannt. Schließlich wurde bis zur Finanzkrise allgemein der Standpunkt vertreten, dass das EWR-Abkommen Islands Interessen in ausreichender Weise dient.

3.8   Ungeachtet der oben genannten Faktoren befürworten große Teile der Bevölkerung im Laufe der Jahre zunehmend engere Beziehungen zur EU. Der Zusammenbruch des isländischen Finanzsystems im Oktober 2008 führte zu einem weiteren Meinungsumschwung zugunsten einer Mitgliedschaft in der EU und der Einführung des Euro. Im Juli 2009 stimmte das isländische Parlament dafür, einen Antrag auf Beitritt zur EU zu stellen. Die öffentliche Meinung und die politischen Parteien in Island sind jedoch in dieser Frage nach wie vor gespalten.

3.9   Islands Mitgliedschaft wäre sowohl für die EU als auch für Island von Nutzen. Die Europäische Union würde dadurch geografisch weiter vervollständigt, könnte in der Arktis Fuß fassen und hätte die Möglichkeit, sich am Arktischen Rat zu beteiligen. Island würde durch einen EU-Beitritt in seiner Haltung gestärkt, dass nach besseren Formen der multilateralen Governance der Arktis gesucht werden muss. Die Mitgliedschaft würde in gewissem Maße auch dazu beitragen, Islands Glaubwürdigkeit auf internationaler Ebene wiederherzustellen und seine Währung – wie seine Wirtschaft insgesamt – zu stabilisieren. Als EU-Mitglied hätte Island viel zur Politik der Nordischen Dimension, zur Entwicklung und Nutzung von erneuerbaren Energiequellen und einer umweltgerechten Wirtschaft in der EU beizusteuern.

3.10   Es gibt noch einige Herausforderungen zu bewältigen, da zahlreiche wichtige Bereiche nicht in den Geltungsbereich des EWR oder der Schengen-Zusammenarbeit fallen. Einige davon werden sehr wahrscheinlich bei den Verhandlungen Schwierigkeiten bereiten. Als besonders schwierig dürften sich wohl die Bereiche Fischerei und Landwirtschaft erweisen, und die in diesen Sektoren tätigen zivilgesellschaftlichen Organisationen werden beim Beitrittsprozess eine Schlüsselrolle spielen. Der Beitrittsprozess sollte ein freiwilliger, einvernehmlicher und gegenseitiger Prozess sein, bei dem sich keine der Seiten gegenüber der anderen gezwungen fühlt, Verpflichtungen einzugehen, zu denen sie nicht bereit ist.

4.   Die sozioökonomische Lage

4.1   Die Wirtschaft Islands basiert von jeher hauptsächlich auf der Fischerei, auf die auch knapp die Hälfte der Warenexporte Islands entfällt. In jüngerer Zeit haben sich auch die Aluminiumproduktion und der Tourismus zu wichtigen Wirtschaftszweigen entwickelt. In den 1990er Jahren setzte ein Prozess der Deregulierung, Liberalisierung und Diversifizierung der Wirtschaft ein, in dessen Ergebnis ein großer Finanzsektor entstand. In Anbetracht der übermäßigen Kreditvergabe, der unzureichenden Beaufsichtigung des Finanzsektors und der Größe der Banken im Vergleich zur Volkswirtschaft kam es im Gefolge der weltweiten Finanzkrise zum Zusammenbruch des isländischen Bankensektors. Insgesamt beliefen sich die Verbindlichkeiten der Banken auf mehr als das Zehnfache des Bruttoinlandsprodukts Islands (1). Dies stürzte die Wirtschaft in eine tiefe Rezession mit den entsprechenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen.

4.2   Der erhebliche Wertverlust der isländischen Krone trieb die Inflation in die Höhe, die Arbeitslosigkeit stieg an, die Immobilienpreise fielen, eine große Zahl von Unternehmen ging bankrott, und der private Verbrauch ging zurück. Die Steuern (Kapital- und Einkommenssteuer, Verbrauchsteuer- und MwSt-Sätze) wurden ebenfalls angehoben, ein neues dreistufiges Einkommensteuersystem wurde eingeführt und verschiedene Leistungen, zum Beispiel für den Mutterschafts-/Vaterschaftsurlaub und den Unterhalt von Kindern, gekürzt. Die öffentlichen Bildungs- und Gesundheitsausgaben wurden ebenfalls zurückgefahren. Viele isländische Haushalte waren vom Verlust eines Großteils ihrer Ersparnisse und/oder ihres Einkommens betroffen. Gleichwohl werden zur Abfederung der schweren Krise umfangreiche Umschuldungen für Privatpersonen und Unternehmen durchgeführt. Für Privatpersonen wurde eine besondere außergerichtliche Schuldensanierung für Haushalte mit gravierenden finanziellen Problemen eingerichtet (2).

4.3   Der öffentliche Schuldenstand hat sich im Zuge der Krise vervielfacht. Ein Großteil dieser Verschuldung basiert auf Icesave-Verbindlichkeiten. Nach der Einlagensicherungsrichtlinie (94/19/EG) muss Island Einleger bis zur Höhe von 20 000 EUR pro Konto entschädigen. Island hat zugestimmt, diesen Verpflichtungen nachzukommen. Der nach wie vor ungelöste Icesave-Streit betrifft jedoch die Frage, unter welchen Bedingungen Island der britischen und der niederländischen Regierung die Beträge erstatten soll, die diese als Entschädigungsleistungen an ihre Bürger ausgezahlt haben.

4.4   Island hat verschiedene Maßnahmen in die Wege geleitet, um der Krise zu begegnen. Die drei wichtigsten Banken wurden verstaatlicht, umstrukturiert und rekapitalisiert. Es wurden Zahlungsbilanzschutzklauseln zur Begrenzung der internationalen Kapitalströme eingeführt, um den Abfluss von Fremdwährungen und die weitere Abwertung der isländischen Krone zu verhindern. Im Oktober 2009 begann die Zentralbank mit der schrittweisen Aufhebung dieser Kontrollmaßnahmen. Es wurde ein neues Wirtschaftsministerium gebildet, der Aufsichtsrat der Zentralbank neu besetzt und die Rolle der Finanzaufsichtsbehörde gestärkt. Darüber hinaus leitete die Regierung mit der Einsetzung einer Sonderermittlungskommission und eines Sonderstaatsanwalts eine umfassende Untersuchung der Ereignisse ein, die zu der Krise geführt hatten.

4.5   Ferner ersuchte die Regierung die internationale Gemeinschaft, u.a. den IWF, um Hilfe. Die IWF-Bereitschaftskreditvereinbarung für Island beläuft sich auf 2,1 Mrd. USD; zusätzlich wurden 2,75 Mrd. USD von den anderen nordischen Ländern, Polen und den Färöern bereitgestellt. Das vom IWF unterstützte Wirtschaftsprogramm umfasst Maßnahmen zur Stabilisierung des Wechselkurses und zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Währungspolitik durch Überprüfung der Finanzpolitik und durch Begrenzung der Staatsverschuldung auf ein vertretbares Maß, durch Umstrukturierung des Finanzsektors und seines Regelungsrahmens sowie durch Erleichterung der Schuldenumschichtung bei Haushalten und Unternehmen. Ende September 2010 nahm der IWF seine dritte Überprüfung des isländischen Konjunkturprogramms an.

4.6   Die makroökonomische Stabilisierung Islands ist noch nicht abgeschlossen, und die Haushaltskonsolidierung gilt weiterhin als vordringliche Aufgabe. Zur Stärkung des finanzpolitischen Rahmens soll ein auf vier Jahre angelegter Haushaltskonsolidierungsplan angenommen werden. Es gibt jedoch bereits Anzeichen für eine Verbesserung. Schätzungen des IWF zufolge dürfte die isländische Wirtschaft aufgrund ihrer soliden wirtschaftlichen Fundamentalfaktoren im zweiten Halbjahr 2010 ein positives Wachstum aufweisen (2). Die Inflation geht zurück, und der Wechselkurs wurde stabilisiert. Die neuen Handelsbanken wurden rekapitalisiert, und die Finanzmarktvorschriften wurden umfassend reformiert. Die Arbeitslosenquote erreichte nicht das vorhergesagte Niveau von mehr als 10 %.

4.7   Die Sozialpartner spielen bei dem isländischen Konjunkturprogramm eine Schlüsselrolle. Die Regierung und die Sozialpartner haben im Juni 2009 einen „Stabilitätspakt“ unterzeichnet, der sich im Haushaltsplan für 2010 widerspiegelt und der darauf abzielt, den sozialen Konsens für die notwendigen Anpassungsmaßnahmen sicherzustellen. Da jedoch vor allem die Sozialpartner daran beteiligt waren, fühlten sich einige zivilgesellschaftliche Organisationen aus dem Prozess ausgeschlossen. Im März 2010 zog sich der isländische Arbeitgeberdachverband aus dem Pakt zurück und berief sich dabei auf Verstöße gegen den Pakt und auf die Unfähigkeit der Regierung, ihre Versprechen zu halten.

4.8   Mittel- bis langfristig verfügt Island über einen relativ flexiblen Arbeitsmarkt mit einer hohen Erwerbsbeteiligung, einer relativ jungen und gut ausgebildeten Erwerbsbevölkerung und einer soliden Ressourcenbasis einschließlich reicher Fischgründe und gewaltiger erneuerbarer Energiequellen. Daher dürfte sich Island innerhalb eines angemessenen Zeitraums wahrscheinlich vollständig von den derzeitigen wirtschaftlichen Rückschlägen erholen. Zudem ist die Europäische Kommission der Auffassung, dass die Teilnahme des Landes an der Wirtschafts- und Währungsunion keine größeren Probleme aufwerfen dürfte, sofern Island seine Rechtsvorschriften an den Besitzstand auf diesem Gebiet anpasst.

5.   Die Zivilgesellschaft in Island

5.1   Island blickt auf eine langjährige aktive Mitbestimmung der Zivilgesellschaft zurück. Vor allem aufgrund der geringen Größe der isländischen Gesellschaft haben Interessengruppen sehr enge, oftmals auch persönliche Beziehungen zur Regierung und beteiligen sich aktiv am politischen Geschehen. So unterhalten einige Interessengruppen wie zum Beispiel Bauern- und Fischereiverbände und Gewerkschaften seit jeher sehr enge Verbindungen zu bestimmten politischen Parteien.

5.2   Um die Einschränkungen aufgrund eines kleinen Verwaltungsapparats auszugleichen, arbeitet die isländische Regierung eng mit den auf europäischer Ebene aktiven isländischen Interessengruppen zusammen und greift häufig auf diese zurück, um Informationen einzuholen und in Brüssel für die Anliegen Islands zu werben. Gleichwohl spielen die Interessengruppen bei der Informationsbeschaffung und der strategischen Ausrichtung eine größere Rolle als bei der Einflussnahme auf die EU-Politik. Davon ausgenommen sind jedoch die Bereiche der Sozialpolitik, in denen die Sozialpartner besonders aktiv sind und direkten Zugang zur Politikgestaltung haben.

5.3   Artikel 74 der isländischen Verfassung garantiert das auch in anderen nordischen Ländern gewährleistete Recht, ohne vorherige Genehmigung Vereinigungen aller Art zu bilden, die nicht per behördlichem Beschluss aufgelöst werden können. Die Vereinigungen müssen sich beim nationalen Registeramt eintragen lassen, um eine inländische Steuernummer zu erhalten, und einen Geschäftssitz haben. Die gewerkschaftliche Tätigkeit wird durch das Gesetz über Gewerkschaften und Arbeitskämpfe geregelt.

5.4   Zahlreiche isländische Organisationen verfügen über langjährige und solide Verbindungen zu ihren Partnerorganisationen der nördlichen Länder. Diese Verbindungen könnten den isländischen Organisationen dabei behilflich sein, bewährte Verfahren auszutauschen und aus den Erfahrungen ihrer Partnerorganisationen mit dem EU-Beitritt ihrer Länder zu lernen.

5.5   Die öffentliche Anhörung mit zivilgesellschaftlichen Organisationen in Island hat jedoch gezeigt, dass sich die anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen - im Vergleich zu den Organisationen der Sozialpartner - vorwiegend mit internen Angelegenheiten befassen. Durch eine engere Zusammenarbeit sollte es möglich sein, sie davon zu überzeugen, ihre Rolle in Island insbesondere im Hinblick auf den Beitrittsprozess unter einem weiteren Blickwinkel zu betrachten, und auch die Organisationen aus der EU sollten von ihren isländischen Partnern lernen können.

5.6   Island wendet das skandinavische Wirtschafts- und Sozialmodell an, das durch einen umfangreichen Wohlfahrtsstaat mit großzügigen Leistungen gekennzeichnet ist. Die Sozialpartner beteiligen sich aktiv am sozialen Dialog, um Informationen auszutauschen und wichtige soziale und wirtschaftliche Probleme zu lösen. Sozialregelungen werden im Allgemeinen eher im Rahmen von Tarifverträgen als durch Rechtsvorschriften festgelegt.

5.7   In Island ist eine ähnliche Entwicklung wie in den skandinavischen Nachbarländern zu verzeichnen, die mit einem Anstieg der öffentlichen Ausgaben einherging. Die Verstädterung und Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur haben zur Entstehung verschiedener Interessengruppen, vor allem von Gewerkschaften, Genossenschaften und Bauernverbänden, geführt. In den Anfangsjahren gab es nur wenige, sehr einflussreiche Interessengruppen, die jedoch je nach Interessenlage enge Verbindungen zu bestimmten politischen Parteien hatten.

5.8   In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm die Anzahl der Gruppen im Zuge der Diversifizierung der Gesellschaft zu. Mit zunehmender Diversifizierung wurden die Verbindungen zwischen politischen Parteien und mächtigen Interessengruppen schwächer, wenngleich auf der Hand liegt, dass in einer kleinen Gesellschaft wie der isländischen die Wege zwischen Zivilgesellschaft und Regierung kurz sind.

5.9   Das isländische Modell ähnelt zwar in vielerlei Hinsicht seinen skandinavischen Entsprechungen, unterscheidet sich jedoch in einigen Aspekten von dem gängigen skandinavischen Modell. In Island gingen die Entwicklungen langsamer vonstatten, und die Sozialausgaben waren von jeher niedriger. Die 1990er Jahre waren von Liberalisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen gekennzeichnet, und als Folge des finanziellen Zusammenbruchs kam es zu erheblichen Kürzungen beim Wohlfahrtssystem. Allerdings wird das Wohlfahrtsmodell in den skandinavischen Ländern von den Parteien auf der linken und auf der rechten Seite des politischen Spektrums generell befürwortet, und das ist auch in Island der Fall, dessen Politik überwiegend von Mitte-Rechts-Koalitionen geprägt wird. Die Sozialpartner spielen im politischen Prozess eine Schlüsselrolle.

5.10   Die Ergebnisse der öffentlichen Anhörung zeigten, dass die Zivilgesellschaft in Island in der Frage der EU-Mitgliedschaft gespalten ist. Vor allem die Verbände der Fischer und der Bauern sprechen sich gegen eine EU-Mitgliedschaft aus, während andere Organisationen wie der Bund der Arbeitnehmer und der Industrieverband diese befürworten. Viele isländische Organisationen sind in dieser Frage auch neutral. Die Demokratie in Island ist zwar ausgesprochen stark entwickelt, doch die zivilgesellschaftlichen Organisationen im weiteren Sinne sind nur relativ schwach vertreten, so dass die Zivilgesellschaft nicht immer mit einer Stimme spricht.

6.   Die wichtigsten Organisationen und ihre Haltung in der EU-Debatte

6.1   Die Sozialpartner

6.1.1   Der Isländische Gewerkschaftsbund (ASI) ist die stärkste Gewerkschaftsorganisation in Island. Er vertritt Arbeitnehmer im Allgemeinen, Büroangestellte und Beschäftigte im Einzelhandel, Seeleute, Bau- und Industriearbeiter, Beschäftigte der Elektroindustrie und andere Berufsgruppen des privaten Sektors und eines Teils des öffentlichen Sektors, wenngleich die meisten Beschäftigten des öffentlichen Sektors vom Bund der Staatsbediensteten und der Beschäftigten der Gemeindeverwaltungen (BSRB) vertreten werden. Beide Organisationen gehören dem EGB an. In einer dritten zentralen Organisation, dem Akademikerverband (BHM), sind im öffentlichen Sektor und in der Privatwirtschaft beschäftigte Arbeitnehmer mit Hochschulabschluss organisiert.

6.1.2   Gegenspieler des ASI auf der Unternehmerseite ist der Isländische Arbeitgeberverband (SA) mit acht Mitgliedsorganisationen in verschiedenen Bereichen wie Energie, Tourismus, Finanzen und Fischerei, der auch Mitglied von BusinessEurope ist. Diese beiden Organisationen spielen eine Schlüsselrolle bei der Koordinierung politischer Maßnahmen in den Bereichen Beschäftigung, Soziales, Umweltschutz und Arbeitsmarkt. Eine andere, auf europäischer Ebene aktive und BusinessEurope angehörende Organisation ist der isländische Industrieverband (SI), ein Mitglied von SA.

6.1.3   Die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände sind in einer Reihe von Ausschüssen und in den Leitungsgremien öffentlicher Einrichtungen vertreten, wo sie die Interessen ihrer jeweiligen Mitglieder bei der Erarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften wahrnehmen, z.B. in der Verwaltung für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz in Island, im Gleichstellungsrat und im Rat für Wissenschaft und Technologie. Darüber hinaus stehen sie bei der Abfassung oder Verlängerung von Tarifverträgen in engem Kontakt zur Regierung. Wenn es um gemeinsame Interessen in den Bereichen Gleichstellung, Arbeitsschutz und Verbreitung von Informationen geht, arbeiten die Sozialpartner eng zusammen.

6.1.4   Die Sozialpartner in Island sind bereits sehr gut in den politischen Entscheidungsprozess in der EU eingebunden. Sie verfolgen aufmerksam das Rechtsetzungsverfahren der Union, da sich die von der EU angenommenen Maßnahmen über das EWR-Abkommen auch auf sie auswirken.

6.1.5   Vertreter von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen in den EFTA-Staaten haben über den Beratenden EWR-Ausschuss (BA-EWR) - der Teil des institutionellen Gefüges des EWR ist - Verbindung zum EWSA. Dieses Forum dient als Bindeglied zwischen den Sozialpartnern in den EFTA-Staaten und den zivilgesellschaftlichen Organisationen in der EU. Anders als der EWSA zählt der Beratende EFTA-Ausschuss (EFTA CC) ausschließlich Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen zu seinen Mitgliedern, was eine gewisse Beschränkung mit sich bringt, da nicht das gesamte Spektrum des zivilen Dialogs abgedeckt ist.

6.1.6   Die Sozialpartner in Island stehen der europäischen Integration im Allgemeinen recht positiv gegenüber, wenngleich sie unterschiedliche Meinungen vertreten. Der Isländische Gewerkschaftsbund (ASI) war ursprünglich bezüglich der Mitgliedschaft im EWR eher skeptisch, revidierte jedoch seine Haltung im Jahr 2000 angesichts der Vorteile, die der EWR für die isländischen Arbeitnehmer bringt. Der ASI befürwortet mittlerweile die Beitrittsverhandlungen und die Einführung des Euro, da er die Auffassung vertritt, dass die Interessen der isländischen Arbeitnehmer und die allgemeine Stabilität der Wirtschaft durch eine vollständige Integration in die EU am besten gewährleistet sind. Er weist jedoch darauf hin, dass bei den Beitrittsverhandlungen der Schwerpunkt auf die Beibehaltung der uneingeschränkten Kontrolle über die ausschließliche Wirtschaftszone Islands in Bezug auf die Fischerei gelegt und die Unterstützung für die isländische Landwirtschaft gewährleistet werden sollte. Der BSRB als Vertreter der im öffentlichen Dienst Beschäftigten hat keinen offiziellen Standpunkt zur EU-Mitgliedschaft formuliert, befürwortet allerdings im Zusammenhang mit den Verhandlungen eine offene Debatte.

6.1.7   Der Arbeitgeberverband (SA) beabsichtigt, die Gespräche über die Mitgliedschaft aus unmittelbarer Nähe zu verfolgen, hat jedoch einen neutralen Standpunkt zur Mitgliedschaft selbst bezogen, da seine Mitgliedsorganisationen in dieser Frage geteilter Meinung sind. Der isländische Industrieverband (SI) z.B. befürwortet die EU-Mitgliedschaft, da die isländische Wirtschaft aufgrund der Währungsschwankungen instabil sei und die Integration in die EU und die Einführung des Euro die Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsbedingungen für isländische Unternehmen verbessern würden.

6.2   Fischerei

6.2.1   Die Verbände der Eigentümer von Fischereifahrzeugen (LIU) und der fischverarbeitenden Betriebe lehnen den Beitritt zur EU dagegen vehement ab. Den an der Fischerei interessierten Kreisen widerstrebt es, der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) beizutreten, da dies ausländische Investitionen in diesem Sektor ermöglichen und bedeuten würde, dass die zulässigen Gesamtfangmengen für Islands ausschließliche Wirtschaftszone (200-Meilen-Zone) in Brüssel festgelegt würden. Obwohl Island als Mitgliedstaat in vollem Umfang am Entscheidungsfindungsprozess beteiligt wäre, befürchten die Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen, dass Island aufgrund seiner Größe nicht ausreichend Einfluss auf die Entscheidungen auf EU-Ebene nehmen könnte. Darüber hinaus würde Island sein Recht aufgeben, selbst Abkommen mit Drittländern über die Befischung gebietsübergreifender Bestände zu schließen, aus denen 30 % der isländischen Fänge stammen. Nach Ansicht des Verbands LIU sind Rückwürfe und Überfischung ernste Probleme in Europa, während die Fischerei in Island ein rentabler Sektor ist. Zudem gebe es keine Gewähr dafür, dass der Grundsatz der relativen Stabilität in der EU beibehalten wird.

6.2.2   Im August 2010 erklärte jedoch der Vorsitzende des Verbands LIU gegenüber dem isländischen Radiosender RÚV, dass Island die Beitrittsgespräche fortsetzen sollte und dabei für sich die besten Konditionen aushandeln müsse und dass es in dieser Phase keinen Sinn habe, den Beitrittsantrag zurückzuziehen.

6.2.3   Überdies hat Island im Jahr 2006 den kommerziellen Walfang wieder aufgenommen, was nicht mit der EU-Politik im Einklang steht und daher ein heikles Thema ist, das zu einem ernsten Hindernis auf dem Weg zu Islands EU-Mitgliedschaft werden könnte, wenn keine Lösung gefunden wird.

6.2.4   Die GFP wird derzeit überarbeitet und durch die voraussichtlichen Änderungen wahrscheinlich stärker an das isländische Modell angenähert. Allerdings würden die Beitrittsverhandlungen mit Island auf dem derzeitigen Besitzstand beruhen, es gibt daher mehrere potenzielle Konfliktpunkte. Sehr wahrscheinlich wird die Fischerei bei den Beitrittsverhandlungen mit Island das wichtigste Thema sein. Die Fischereilobby hat großen Einfluss auf die Politik und wird voraussichtlich bei der Debatte über den EU-Beitritt eine Schlüsselrolle spielen, denn das Pro-Kopf-Einkommen allein aus der Fischereitätigkeit ist in Island weit höher als in jedem EU-Mitgliedstaat.

6.3   Landwirtschaft

6.3.1   Eine weitere Organisation, die auf eine langjährige politische Beteiligung zurückblicken kann, ist der Bauernverband. Die Landwirte waren in Island von jeher eine starke Macht mit engen Verbindungen zur Regierung, wenngleich ihr Einfluss im Laufe der Jahre mit dem zunehmenden Schrumpfen des Sektors abgenommen hat. So wie LIU verfolgt auch der Bauernverband aufmerksam die Rechtssetzung in der EU. Der Bauernverband ist eine Partnerorganisation der COPA/COCEGA, und daher ist seine Mitwirkung dort in gewisser Weise eingeschränkt. Diese Dachorganisation beschäftigt sich hauptsächlich mit EU-bezogenen Themen.

6.3.2   Der Bauernverband lehnt den EU-Beitritt strikt ab und macht geltend, dass er zum Verlust von zahlreichen Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft führen und sich äußerst negativ auf die Lebensmittel- und Ernährungssicherheit des Landes auswirken würde. Dies wird vor allem damit begründet, dass Island die unbeschränkte Einfuhr von Agrarprodukten aus der EU gestatten müsste, mit denen die isländischen Bauern kaum konkurrieren könnten. Jedoch ist das Lebensmittelrecht der EU (3), das die Lebensmittelsicherheit gewährleistet, ja bereits Bestandteil des EWR-Abkommens und wird Ende 2011 in Kraft treten. Während der Umsetzung des Lebensmittelsicherheitspakets in nationales Recht gelang es dem Bauernverband, die Beibehaltung des Verbots von Frischfleischeinfuhren im isländischen Recht durchzusetzen, auch wenn ein solches Verbot wohl nicht im Einklang mit dem EU-Recht stehen dürfte. Laut Artikel 19 des EWR-Abkommens hat Island auch zollfreien Kontingenten und Vergünstigungen für bestimmte Produkte zugestimmt, was für den Bauernverband ein Problem darstellt.

6.3.3   Die Landwirtschaft wird bei den Beitrittsverhandlungen eine maßgebliche Rolle spielen, und eines der von Island verfolgten Ziele wird in der ausdrücklichen Unterstützung der Milchproduktion, der Schafzucht und anderer traditioneller Agrarsektoren bestehen. Mit einer entsprechenden langfristigen nationalen Unterstützungsregelung, wie sie für nördlich des 62. Breitengrads gelegene Regionen der EU gilt, könnte die Landwirtschaft in diesem schwach besiedelten Raum mit schwierigen klimatischen Verhältnissen unterstützt werden.

6.4   Umwelt

6.4.1   Es gibt in Island einige aktive Umweltgruppen. Die in der EU ansässigen Umweltgruppen beobachten generell aufmerksam die EU-Umweltpolitik, betätigen sich auf europäischer Ebene und sind in Dachverbänden organisiert. Für isländische Umweltschutzgruppen spielte das offenbar jahrelang keine so große Rolle, obwohl einige von ihnen internationalen Verbänden angehören.

6.4.2   Hierfür gibt es eine ganze Reihe möglicher Erklärungen. Erstens befürworten die europäischen Interessengruppen Maßnahmen zur Bekämpfung des Walfangs, weshalb sich isländische Umweltgruppen möglicherweise nicht mit ihren europäischen Partnern verbunden fühlen. Zweitens konzentrieren sich die isländischen Umweltgruppen wie z.B. Landvernd in erster Linie auf das Problem der Bodenerosion und die Erhaltung natürlicher Lebensräume in Island und leisten in diesem Zusammenhang oftmals Widerstand gegen den Bau von Wasserkraftwerken zur Steigerung der Aluminiumproduktion. Wenngleich die EU-Umweltpolitik größtenteils auch Bestandteil des EWR-Abkommen ist, gilt dies nicht für Rechtsvorschriften über die Erhaltung natürlicher Lebensräume. Schließlich hatten Umweltorganisationen in Island auch mit mangelnden Finanzmitteln und Ressourcen zu kämpfen. Vielleicht sind die isländischen Umweltgruppen aus diesen Gründen auf EU-Ebene weniger aktiv als ihre europäischen Partner und haben sich bislang generell nicht sehr rege an der Debatte über den EU-Beitritt beteiligt. Landvernd beispielsweise hat noch nicht offiziell zur EU-Mitgliedschaft Stellung bezogen, geht aber grundsätzlich davon aus, dass die EU-Umweltvorschriften positive Auswirkungen haben. Landvernd ist auch daran interessiert zu klären, welche Rolle die Organisation bei den Beitrittsverhandlungen insbesondere hinsichtlich der weiteren Teilnahme an EU-Programmen wie z.B. dem Umweltrahmenprogramm spielen kann.

6.5   Verbraucherschutz

6.5.1   Der Isländische Verbraucherschutzverband (NS) ist eine 1953 gegründete selbständige, gemeinnützige und regierungsunabhängige Organisation, auf europäischer Ebene aktiv und Mitglied entsprechender Dachorganisationen. Der Verband arbeitet bereits eng mit ECC-Iceland zusammen, das zum Netzwerk der Europäischen Verbraucherzentren gehört. Der Verbraucherverband hat nicht klar für oder gegen einen EU-Beitritt Islands Position bezogen. Er vertritt jedoch seit langem den Standpunkt, dass Island alle Vor- und Nachteile der EU-Mitgliedschaft prüfen sollte. Seine Vollversammlung im Jahr 2008 empfahl, den Beitritt zu beantragen, um so zu erfahren, was hier eigentlich auf dem Spiel steht, und um die EU-Debatte auf der Grundlage von Fakten und nicht von Vorurteilen voranzubringen. 2008 legte der Verband auch einen Bericht über die Vor- und Nachteile eines EU-Beitritts Islands für die Verbraucher vor. Der Verbraucherverband hat zwar nicht konkret für oder gegen den EU-Beitritt Stellung bezogen oder eine entsprechende politische Strategie formuliert, jedoch stets den Beitrittsantrag als solchen unterstützt und versucht, zur Öffnung der Debatte über die EU beizutragen.

6.6   Sonstige Organisationen

6.6.1   Weitere wichtige Organisationen sind der Behindertenverband, die Handelskammer, die Mitglied von Eurochambers ist, der Verband der Handels- und Dienstleistungsunternehmen, der Eurocommerce angehört, der isländische Handelsverband und verschiedene andere NGO. Diese Organisationen haben bislang noch nicht offiziell zum EU-Beitritt Stellung genommen, werden sich aber wahrscheinlich für oder gegen bestimmte europäische Politiken einsetzen. Ferner gibt es spezielle pro-europäische und anti-europäische Zusammenschlüsse wie Evrópusamtökin („Europa-Verein“) und Heimssýn („Weltsicht“).

Brüssel, den 9. Dezember 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Isländisches Außenministerium, Hintergrundpapier, Konjunkturprogramm Islands, Juni 2010 http://www.mfa.is/media/MFA_pdf/Factsheet--Iceland%27s-Economic-Recovery-Program-June.pdf.

(2)  http://www.mfa.is/media/MFA_pdf/Factsheet--Iceland%27s-Economic-Recovery-Program-June.pdf.

(3)  Verordnung (EG) Nr. 178/2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit sowie damit zusammenhängende Rechtsakte.