19.1.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 18/18


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Bildung für Inklusion: Ein Instrument zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ (Sondierungsstellungnahme)

2011/C 18/04

Berichterstatterin: María Candelas SÁNCHEZ MIGUEL

Mit Schreiben vom 23. Juli 2009 ersuchte der spanische Staatssekretär für die Europäische Union des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Zusammenarbeit, Diego LÓPEZ GARRIDO, im Namen des künftigen spanischen Ratsvorsitzes den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu dem Thema

„Bildung für Inklusion: Ein Instrument zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 23. März 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 462. Plenartagung am 28./29. April 2010 (Sitzung vom 28. April) mit 103 gegen 13 Stimmen bei 10 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Entscheidung, das Jahr 2010 der Intensivierung der Bemühungen um die Beseitigung von Ausgrenzung und Armut zu widmen, und unterstreicht, wie wichtig es ist, die allgemeine und berufliche Bildung als wirksames Instrument zur Erreichung dieser Ziele einzusetzen.

1.2

Der Ausbau der Bildung als Mittel zur Bekämpfung von Ungleichheiten und Armut ist eine der Prioritäten der „EU-Strategie für 2020“, und der turnusmäßige Dreiervorsitz der EU - Spanien, Belgien und Ungarn - hat „Bildung für alle“ zu einem seiner Ziele erklärt. Dies ermöglicht es, eine Reihe von Aktionen vorzuschlagen, um aus der allgemeinen und beruflichen Bildung ein wirksames Instrument zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zu machen.

1.3

Die Bildung ist schon seit den Anfängen der EU als grundlegendes Menschenrecht anerkannt, und es wurden zahllose positive Anstrengungen unternommen, um aus diesem Recht ein für alle frei zugängliches öffentliches Gut zu machen. Der EWSA hat hierzu mit zahlreichen Stellungnahmen beigetragen, in denen anerkannt wird, dass das zentrale Ziel der Bildung auch weiterhin darin besteht, freie, kritische, selbständige Bürgerinnen und Bürger herauszubilden, die in der Lage sind, zur Entwicklung der Gesellschaft, in der sie leben, beizutragen und die über ein hohes Maß an den erforderlichen Kompetenzen verfügen, um den neuen Herausforderungen - insbesondere in der Arbeitswelt - gewachsen zu sein, die sich jedoch auch bewusst sind, dass sie kulturelle Werte teilen und die Welt, in der sie leben, für künftige Generationen bewahrt werden muss.

1.4

Der EWSA empfiehlt, die EU und die Mitgliedstaaten ausgehend von dem Konzept der Bildung für Inklusion zu einer Überarbeitung der Bildungspolitik, ihrer Inhalte, Ansätze, Strukturen und Mittelausstattung anzuhalten. Es sind jedoch auch eine Revision und/oder Aktualisierung der beschäftigungspolitischen Maßnahmen, hochwertige öffentliche Dienstleistungen und die Berücksichtigung von Besonderheiten (Kinder, Menschen mit besonderen Bedürfnissen, Migranten) sowie die Einbeziehung der Geschlechterperspektive in alle diese Politikbereiche erforderlich. Inklusive Bildung kann in zahlreichen formalen und nichtformalen Zusammenhängen, in Familien und im Gemeinwesen erfolgen, ohne dass die gesamte Last den Schulen aufgebürdet wird. Sie ist weit mehr als eine marginale bzw. nur auf die Armen fokussierte Frage und muss allen sozialen Gruppen, die sie benötigen, offen stehen. Für eine inklusive Bildung sprechen:

bildungspolitische Gründe, weil sie ein hochwertiges Bildungssystem erfordert, das allen von der frühesten Kindheit an zugute kommt,

sozialpolitische Gründe, weil die Bildung einen Mentalitätswandel bewirkt und zur Entstehung einer ausgrenzungs-, diskriminierungs- und vorurteilsfreien Gesellschaft beiträgt, und

wirtschaftspolitische Gründe, weil sie angesichts der neuen wirtschaftlichen Herausforderungen und der neuen Anforderungen des Arbeitsmarktes zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit beiträgt.

1.5

In der EU wird seit vielen Jahren über die Anerkennung der Ergebnisse der nichtformalen Bildung diskutiert, d.h. der Bildung, die außerhalb herkömmlicher Bildungsstrukturen stattfindet, die formale Bildung aber dadurch ergänzt, dass sie den Menschen praktische Fertigkeiten, soziale Kompetenz und eine positive Einstellung vermittelt und die aktive Bürgerschaft fördert. Zwar haben diese Diskussionen noch zu keinen Konsensvereinbarungen auf EU-Ebene geführt, doch wird die nichtformale Bildung zunehmend dafür anerkannt, dass sie den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert. Nach Ansicht des EWSA ist es zweckmäßig, dass die EU den diesbezüglichen Stand der Dinge im Lichte der Bildung für Inklusion untersucht; dementsprechend empfiehlt er,

Informationen über die bestehenden institutionellen und technischen Vorkehrungen zu sammeln und die Entwicklung von Indikatoren vorzuschlagen, um die potentiellen Vorteile einer Anerkennung der nichtformalen Bildung abzuwägen und Nachweise darüber zusammenzutragen, wem sie zugute kommt;

die Modelle zur Anerkennung der Ergebnisse der nichtformalen Bildung zu überarbeiten, um diejenigen zu ermitteln, die insbesondere für sozial ausgegrenzte Menschen ein Höchstmaß an Gleichberechtigung, Wirksamkeit und Nutzen bringen, und um die Qualität der erbrachten Bildungsleistungen zu gewährleisten;

den Austausch erfolgreicher Erfahrungen zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern;

die Sozialpartner, betroffenen Organisationen der Zivilgesellschaft und Vertreter formaler und nichtformaler Bildungseinrichtungen in diesen Prozess einzubinden.

1.6

Der EWSA hat in früheren Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass die hochwertige öffentliche Bildung für alle ein Instrument zur Förderung von Gleichheit und sozialer Inklusion ist. Es ist daher von wesentlicher Bedeutung, dass allen von Ausgrenzung Betroffenen eine überwiegend öffentliche (1), hochwertige Bildung zuteil wird, die ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt und eine menschenwürdige und gut bezahlte Arbeit ermöglicht.

1.7

Der EWSA empfiehlt schließlich, dass die künftigen Maßnahmen in Kohärenz mit den bereits festgelegten politischen Prioritäten zu verfolgen sind, als Triebfeder und Anreiz für anspruchsvollere und ehrgeizigere Verpflichtungen in diesem Bereich dienen und die unterschiedlichsten Einrichtungen und Akteure erreichen sollen.

1.8

Die Konferenz zum Thema „Bildung zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung“, die der EWSA vom 20. bis 22. Mai 2010 in Florenz organisiert, fügt sich voll und ganz in diese Perspektive ein. Sie wird sich auf einen bereichsübergreifenden Ansatz stützen und eine große Zahl von Akteuren aus diesem Bereich zusammenbringen.

2.   Einleitung

2.1

Das Recht auf Bildung ist als grundlegendes Menschenrecht anerkannt und in sämtliche Instrumente aufgenommen worden, mit denen sich die Europäische Union seit ihrer Gründung ausgestattet hat. Europa hat zahllose positive Anstrengungen unternommen, um aus diesem Recht ein für alle zugängliches öffentliches Gut zu machen (2). Es gibt jedoch weiterhin vereinzelte Bevölkerungsgruppen, die von dessen Nutzen ausgeschlossen sind, wodurch sich die nach wie vor bestehenden Armutsszenarien noch verschlimmern. Die Mitgliedstaaten, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament haben wichtige Maßnahmen zur Armutsbekämpfung vorgeschlagen und angenommen und sich dabei eine öffentliche und hochwertige Bildung für alle als Inklusionsinstrument zu Eigen gemacht. Dementsprechend hat die EU beschlossen, 2010 zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut auszurufen (3).

2.2

Soziale Inklusion und Armutsbekämpfung sind ferner integrale Bestandteile der EU-Ziele im Bereich Wachstum und Beschäftigung. Die Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften zum Sozialschutz und zur sozialen Inklusion erfolgt über ein als „offene Koordinierungsmethode“ (OKM) bekanntes Verfahren des Austauschs und des Lernens, das in den Zuständigkeitsbereichen der Mitgliedstaaten mit dem Ziel zur Anwendung kommt, die einzelstaatlichen Politiken im Interesse gemeinsamer Ziele aufeinander abzustimmen. Die OKM erleichtert insbesondere im Rahmen der erneuerten Lissabon-Strategie den Prozess der Koordinierung sozialpolitischer Maßnahmen.

2.3

Zudem stellt die allgemeine und berufliche Bildung einen Schlüsselfaktor dar, wenn es darum geht, die wirtschaftliche Entwicklung und den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu verbessern. Das Scheitern bei der Erreichung der Armutsbekämpfungsziele, die Auswirkungen der aktuellen Wirtschaftskrise auf die soziale Ausgrenzung und der Anstieg der Arbeitslosigkeit machen einmal mehr deutlich, wie wichtig es ist, Instrumente zu finden, um Fortschritte in Richtung der aktiven Inklusion zu machen.

2.4

Eine der wichtigsten Prioritäten der EU für die Strategie 2020 (4) ist die „Wertschöpfung durch wissensbasiertes Wachstum“. Dadurch wird anerkannt, dass Wissen der Motor für nachhaltiges Wachstum ist und durch Bildung, Forschung, Innovation und Kreativität etwas bewirkt werden kann. Die Schlussfolgerungen des Beschäftigungsgipfels in Prag vom Mai 2009 gehen in dieselbe Richtung. Dementsprechend müssen angesichts der derzeitigen Wirtschaftskrise, die erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitnehmer und die Unternehmen, insbesondere die KMU, gehabt hat, und aufgrund der Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit mit Werten von nahezu 20,2 % historische Höhen erreicht hat, wobei zwischen den einzelnen Ländern der EU große Unterschiede bestehen, sämtliche Maßnahmen intensiviert werden, die zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen und für mehr Gleichheit zwischen allen Unionsbürgern sorgen, insbesondere im Bereich der Bildungspolitik.

2.5

In einer immer stärker globalisierten Welt, die auch in zunehmendem Maße von Ungleichheit, Spaltung und Asymmetrie geprägt ist, steht das öffentliche Bildungssystem, das eines der wichtigsten Instrumente zur Förderung der sozialen Gleichheit ist, heute neuen und zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Die schulische und soziale Integration aller Lernenden ist für den Staat ebenso wie für internationale und regionale Organisationen eine Priorität. „Bildung für Inklusion“ ist ein Ansatz, mit dem die Lernbedürfnisse aller Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen und insbesondere der von Diskriminierung, Marginalisierung, Armut und sozialer Ausgrenzung am stärksten betroffenen Gesellschaftsbereiche erfüllt werden.

2.6

Die allgemeine und berufliche Bildung kann als wirksames Instrument zur Bekämpfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung dienen. Sozial schlechter gestellte Jugendliche sind mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert, weil sie einem in Bezug auf Bildung, sozioökonomische oder geografische Faktoren benachteiligten Umfeld angehören oder mit einer Behinderung leben.

2.7

Nach den UNESCO-Leitsätzen ist die inklusive Bildung ein Prozess, der darauf abzielt, die vielfältigen Bedürfnisse aller Lernenden zu erkennen und durch eine verstärkte Teilhabe am Lernprozess, an der Kultur und an den Werten des Gemeinwesens zu erfüllen sowie soziale Ausgrenzung und Armut zu verringern. Die Bildung für Inklusion verlangt nach Neugestaltung der Inhalte, Ansätze, Strukturen und Bildungsstrategien, nach einer daraus resultierenden Weiterentwicklung der Lehrerausbildung und nach mehr Mittelzuweisungen - in der Vorstellung, dass alle Lernenden umfasst werden, und in der Überzeugung, dass es Aufgabe des allgemeinen Bildungssystems ist, allen Menschen Wissen zu vermitteln. Die inklusive Bildung hat zum Ziel, Antworten auf die verschiedenen Lernbedürfnisse der sozialen Gruppen zu geben und kann über formale und nichtformale Kanäle vermittelt werden.

2.8

Die inklusive Bildung ist weit mehr als die marginale Frage der Integration bestimmter Lernender in das allgemeine Schulsystem bzw. eine Frage, die sich nur auf die Ärmsten konzentriert; ihr Ansatz besteht vielmehr darin, die Bildungssysteme und sonstigen Lernumfelder weiterzuentwickeln, um sie an die Vielfalt der Lernenden anzupassen, und sich dabei gleichzeitig in ein wirksames Instrument zur Armutsbekämpfung zu verwandeln. Sie muss es ermöglichen, dass sich sowohl die Lehrenden als auch die Lernenden mit der Vielfalt wohlfühlen und sie nicht als Problem, sondern als eine Herausforderung und ggf. Bereicherung im Lernumfeld betrachten.

2.9

Das Aufkommen von Massenarbeitslosigkeit löst noch nie da gewesene Armutsszenarien aus. Die heutige Weltwirtschaftskrise ist nichts weiter als eine schmerzhafte Bestätigung dieser Situation (5). Armut ist heute nicht mehr nur durch unzureichende Einkünfte gekennzeichnet; sie kann sich auch in einem begrenzten oder mangelnden Zugang zu Gesundheit oder Bildung, einem gefährlichen Umfeld sowie dem Fortbestand von Diskriminierung und Vorurteilen und von sozialer Ausgrenzung manifestieren. Ein Arbeitsplatz allein, sofern es sich nicht um eine qualitativ hochwertige Stelle handelt, ist kein ausreichendes Bollwerk gegen Armut mehr. Auch ist die extreme Armut unter Frauen weiter verbreitet als unter Männern: Das Risiko, in extreme Armut zu fallen, ist in 17 der EU-Mitgliedstaaten für Frauen erheblich höher, wobei allein erziehende Frauen am stärksten gefährdet sind. In einer Welt, in der 60 % der Bevölkerung von nur 6 % des weltweiten Einkommens lebt, in der 50 % von weniger als 2 US-Dollar pro Tag leben und mehr als 1 Mrd. Menschen ein Einkommen von weniger als 1 US-Dollar pro Tag haben, darf Europa nicht zu einer Festung werden, die ihr Lebensumfeld ignoriert.

2.10

Die wachsenden Phänomene der städtischen Armut, der Landflucht und der Massenzuwanderung sind eine Herausforderung für die sozialpolitischen Maßnahmen der Region. Laut Daten von EUROSTAT 2009 leben 16 % der europäischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze, und einer von zehn Europäern lebt in einem Haushalt, in dem kein Familienmitglied erwerbstätig ist. In vielen Mitgliedstaaten sind die Kinder stärker von Armut bedroht als die übrige Bevölkerung: Schätzungen zufolge sind es 19 % (d.h. 19 Mio. Kinder). Dieser Kreislauf, der so viele Menschen in die Armut führt, muss durchbrochen werden, indem ein stabiles und sicheres Bildungsumfeld geschaffen wird, das den Lernenden die umfassende Ausübung ihrer Grundrechte sowie die Entfaltung ihrer Zukunftsperspektiven und -chancen zu garantieren vermag.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Die Armutsbekämpfung ist ein wichtiges Element der Eingliederungs- und Beschäftigungspolitik der EU und der Mitgliedstaaten. Ehemals als Unterstützungspolitik erachtet, hat sich die Bekämpfung von Armut in die Bekämpfung von Ausgrenzung gewandelt. Es geht nicht mehr nur darum, die Gesellschaft vor den gefürchteten Folgen der Armut zu schützen, sondern den von Armut Betroffenen ihre Menschenrechte zuzuerkennen. 2007, als „die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ zum Ziel für das Jahr 2010 auserkoren wurde, erklärten das Parlament und der Europäische Rat, dass derzeit ca. 78 Mio. Menschen in der EU von Armut bedroht seien und diese Zahl ständig wachse. Das stehe in krassem Widerspruch zu den gemeinsamen Grundwerten der Union, weshalb es Maßnahmen bedürfe, an denen sowohl die EU als auch ihre Mitgliedstaaten beteiligt seien.

3.2

Überdies nahmen die UN-Mitgliedstaaten im Jahr 2000 die Millenniumsentwicklungsziele an, mit denen insbesondere die Halbierung der extremen Armut erreicht werden sollte. Diese acht Ziele müssen bis 2015 verwirklicht werden. Im gegenwärtigen wirtschaftlichen Kontext wird es jedoch anerkannterweise sehr schwierig werden, alle Ziele fristgerecht umzusetzen. Die EU hat denn auch beschlossen, das Jahr 2010 der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zu widmen, um ihre Anstrengungen zur Erreichung der Millenniumsziele zu verdoppeln.

3.3

Der EWSA hat wiederholt eine kohärente Position in Bezug auf die Wissensgesellschaft als einem grundlegenden Instrument zur umfassenden Integration aller Bürgerinnen und Bürger und nicht nur einer Elite sowie insbesondere als einem Mittel zur Erreichung der Lissabon-Ziele eingenommen.

3.4

Der EWSA hat unlängst die Ansicht vertreten (6), dass Personen mit geringerem Bildungsstand stärker von Ausgrenzung bedroht sind und das Recht auf Bildung ihnen die Chance bieten muss, ihre Lebensqualität und den Zugang zum Arbeitsmarkt zu verbessern. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass die wirtschaftlichen, sozialen und technologischen Veränderungen eine inhaltliche Anpassung der Bildungsmaßnahmen erfordern, insbesondere wenn man den Arbeitsmarkterfordernissen gerecht werden möchte. Der EWSA schlägt daher vor, die schulische und universitäre Ausbildung so zu verändern, dass sie im Falle eines Schulabbruchs um Berufsbildungsprogramme ergänzt werden können, die die Eingliederung in den Arbeitsmarkt erleichtern (7), mit dem Ziel, die durch soziale Ausgrenzung verursachten Schäden zu verhindern und zu beheben.

3.5

Der EWSA (8) hat zudem eine Stellungnahme verabschiedet, in der er die Mitteilung der Kommission zum Thema „Neue Kompetenzen für neue Beschäftigungen“ begrüßt. In den Schlussfolgerungen fordert er „die Steigerung des Kompetenzniveaus auf allen Ebenen [als] eine wesentliche Voraussetzung für eine kurzfristige Ankurbelung der Wirtschaft wie auch für eine langfristige Entwicklung, die Erhöhung der Produktivität, für Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung sowie für die Gewährleistung der Chancengleichheit und des sozialen Zusammenhalts.“

3.6

Auf jeden Fall erscheint es unvermeidlich, das unseren Überlegungen zugrunde liegende Konzept der inklusiven Bildung zu präzisieren, da es sowohl eine Strategie als auch ein Prozess ist, der uns nicht nur zu einer Überarbeitung der bildungs-, sondern auch der beschäftigungspolitischen Maßnahmen, der Erbringung hochwertiger öffentlicher Dienstleistungen und der Berücksichtigung der Vielfalt der Lernenden (Männer und Frauen, Kinder, Jugendliche und ältere Menschen, Migranten, Arbeitslose, Menschen mit Behinderungen oder mit HIV/Aids usw.) zwingt. Ziel der inklusiven Bildung ist es letztendlich, jegliche Art der Ausgrenzung infolge negativer Einstellungen oder mangelnder Wertschätzung der Vielfalt zu beseitigen. Dies kann in zahlreichen formalen und nichtformalen Zusammenhängen, in Familien und im Gemeinwesen erfolgen, ohne dass die gesamte Last den Schulen aufgebürdet wird.

3.7

Die „nichtformale Bildung“ ist eine Bildungsform, die in vielen Ländern in großem Maßstab über mehrere Generationen hinweg zur sozialen und beruflichen Integration von Menschen eingesetzt wurde. Hier sei Grundtvig (1782-1873) erwähnt, der Vater des skandinavischen Modells, das in zahlreichen Ländern übernommen wurde und dem EU-Erwachsenenbildungsprogramm sogar seinen Namen gab. Die nichtformale Bildung beruht sehr häufig auf nichthierarchischen und partizipativen Pädagogikformen und Arbeitsweisen. Sie ist eng verbunden mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, die für ihre Vermittlung zuständig sind. Es ist nahe liegend, dass sich die nichtformale Bildung auch aufgrund ihres Bottom-up-Ansatzes als wirksames Instrument zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung erwiesen hat. Daher unterstreicht der EWSA, dass die „nichtformale Bildung“ bei der Umsetzung der EU-2020-Strategie eine maßgebliche Rolle spielen kann.

3.8

Der Erfolg des lebenslangen Lernens wird durch die nicht-formale Bildung verstärkt, welche die formale Bildung ergänzt und unterstützt. Diese Verknüpfung kann beispielsweise eine wichtige Rolle dabei spielen, das Lernen für junge Menschen attraktiver zu machen und auf diese Weise Schulabbrüchen durch Einführung neuer Methoden vorzubeugen, die Übergänge zwischen formaler und nicht-formaler Bildung erleichtern und Fähigkeiten anerkennen (9).

3.9

Die OECD hat sich der informellen Bildung intensiv in verschiedenen Untersuchungen und Projekten gewidmet (10). Noch besteht generell wenig Einvernehmen darüber, inwieweit und auf welche Weise die über die „nichtformale Bildung“ oder sogar die „informelle Bildung“ erworbenen Kenntnisse anerkannt werden müssen. Dies setzt u.a. voraus, dass andere Gruppen und Personen, wie Organisationen der Zivilgesellschaft, die Lehrbefähigung außerhalb der formalen Bildung zugesprochen und Bewertungsstandards erstellt werden, mit denen die auf diesem Wege erworbenen Kompetenzen bewertet werden können. In einigen Mitgliedstaaten hat sich die Anerkennung der auf diese Weise erworbenen Kompetenzen und Fähigkeiten über die Bildungsstrategien für lebenslanges Lernen entwickelt; in anderen werden Verfahren zur legalen Anerkennung dieser Kompetenzen und Fähigkeiten durch bestehende nationale Qualifikationsrahmen analysiert, was den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Der EWSA hält es für zweckmäßig, dass die EU den Stand der Dinge auf der Ebene der EU-Mitgliedstaaten untersucht, und empfiehlt den Austausch erfolgreicher Erfahrungen und Beispiele zwischen den Mitgliedstaaten.

3.10

Ein großes Risiko, das es zu vermeiden gilt, besteht darin, diese Bildungsstrategien für Inklusion nur Armen, Immigranten und denjenigen zugänglich zu machen, die dem Schulsystem aus gleich welchen Gründen den Rücken gekehrt haben. Dies würde zu Isolation statt zu Integration und Inklusion der Beteiligten führen. Eine denkbare Alternative wäre, diese Systeme anderen Gruppen zu öffnen, die sie ggf. benötigen (11). Zudem ersetzt die nichtformale Bildung die formale Bildung nicht etwa: Dadurch, dass sie den Wert der auf diesem Wege erlangten Kenntnisse anerkennt, ergänzt sie diese insofern, als die Begünstigten dieser Maßnahmen in die Lage versetzt werden, sich - so sie dies wünschen und brauchen - in das „Curriculum“ der formalen Bildung wiedereinzugliedern.

3.11

Nach Ansicht des EWSA ist es von wesentlicher Bedeutung, dass allen von Ausgrenzung Betroffenen eine überwiegend öffentliche (12), hochwertige Bildung zuteil wird, die ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt eröffnet und eine menschenwürdige und gut bezahlte Arbeit ermöglicht. Ebenso wichtig ist, dass durch diese Bildung staatsbürgerliche Grundwerte, echte Gleichstellung zwischen Frauen und Männern und aktive demokratische Teilhabe vermittelt werden. Der EWSA setzt auf eine Bildung, die zur Herausbildung einer individuellen und sozialen Persönlichkeit beiträgt und nicht nur als bloße Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten erachtet wird (utilitaristisches Bildungskonzept) - eine Bildung, die offene, kritische Menschen hervorbringt, die zu einer aktiven Teilhabe an einer in zunehmendem Maße von sozialer Gerechtigkeit und politischer Reife charakterisierten Gesellschaft fähig ist.

3.12

Nach Ansicht des EWSA führt die Förderung der Inklusion im Bildungswesen zu einer Steigerung der kritischen Analysefähigkeit und trägt dazu bei, die bildungsspezifischen und sozialen Gegebenheiten der Lernenden zu verbessern, damit die neuen Anforderungen des Arbeitsmarktes und der Gesellschaft bewältigt werden können. Die Verknüpfung von Bildung und sozialer Inklusion setzt letztendlich voraus, dass sie an die sozialen und territorialen Entwicklungsziele gekoppelt werden. Auf diese Weise wird die Bildung als Instrument zur schrittweisen Beseitigung der Armut dienen.

3.13

Zusammenfassend sprechen für eine inklusive Bildung:

bildungspolitische Gründe: Die Forderung, dass das Bildungssystem allen zugute kommen soll („Ziel Bildung für alle 2015“), setzt voraus, dass sich dieses System der Vielfalt der Lernenden öffnet;

sozialpolitische Gründe: Die Bildung kann und muss einen Mentalitätswandel bewirken und den Aufbau einer diskriminierungs- und vorurteilsfreien Gesellschaft fördern, in der alle Bürger ihre Grundrechte ausüben können;

wirtschaftspolitische Gründe: Eine inklusive Bildung wird angesichts der neuen wirtschaftlichen Herausforderungen zur Steigerung der tatsächlichen Wettbewerbsfähigkeit der Gesellschaft beitragen: einer Wettbewerbsfähigkeit, die auf korrektem Verhalten und nicht auf unlauterem Wettbewerb beruht. Inklusion und Qualität verstärken sich gegenseitig.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1

Mit dem Europäischen Jahr zur Bekämpfung der Armut werden folgende vier Zielsetzungen verfolgt:

—   Anerkennung: die Anerkennung des Rechts der von Armut und sozialer Ausgrenzung Betroffenen auf ein Leben in Würde und auf umfassende Teilhabe an der Gesellschaft.

—   Identifizierung: verstärkte Identifizierung der Öffentlichkeit mit Strategien und Maßnahmen zur Förderung der sozialen Eingliederung durch Betonung der Verantwortung, die jeder Einzelne im Kampf gegen Armut und Marginalisierung trägt.

—   Zusammenhalt: Förderung eines stärkeren sozialen Zusammenhalts durch Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Vorteile, die für jeden mit einer Gesellschaft verbunden sind, in der es keine Armut mehr gibt und in der niemand an den Rand gedrängt wird.

—   Engagement: Bekräftigung des starken politischen Engagements der EU für die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung und Förderung dieses Engagements auf allen Entscheidungsebenen.

4.2

Kernthemen des Europäischen Jahres sind

a)

Kinderarmut und „Vererbung“ von Armut;

b)

integrativer Arbeitsmarkt;

c)

eingeschränkter Zugang zur allgemeinen und beruflichen Bildung;

d)

geschlechtsspezifische Dimension der Armut;

e)

Zugang zu Grundversorgung;

f)

Beseitigung von Diskriminierung. Förderung der Integration von Zuwanderern und soziale und berufliche Eingliederung ethnischer Minderheiten;

g)

Eingehen auf die Bedürfnisse behinderter Menschen und sonstiger gefährdeter Gruppen.

4.3

Das Jahr 2010 ist daher in Europa eine einzigartige Gelegenheit, eine sehr breite und vielfältige Öffentlichkeit für die Armutsbekämpfung und die Rolle der Bildung bei der Armutsbeseitigung zu sensibilisieren und zu mobilisieren. Ein solch ehrgeiziges Vorhaben lässt sich nur verwirklichen, wenn die Botschaft stark und eindeutig und nicht mehrdeutig und schwammig ist. Deshalb schlägt der EWSA vor, die Aktivitäten an einem zentralen Schwerpunkt zu orientieren: „Bildung für Integration: Wirksames Instrument zur Armutsbekämpfung. Für ein Europa ohne soziale Ausgrenzung“.

4.4

Während des ersten Halbjahres 2010 hatte Spanien den EU-Ratsvorsitz inne. Spanien hat in den vergangenen Jahren besonderes Interesse an der Armutsbekämpfung, der Beseitigung der sozialen Ausgrenzung und der inklusiven Bildung gezeigt. Das dieser Thematik gewidmete Europäische Jahr wurde unter spanischem Ratsvorsitz am 21. Januar 2010 in Madrid eröffnet. Ende Juni findet der gewöhnliche EU-Gipfel statt, bei dem Spanien turnusgemäß den Vorsitz an Belgien übergibt. Das Interesse und Engagement, das Spanien dem Thema Bildung für alle entgegenbringt, scheint eine ausgezeichnete Gelegenheit zu sein, um vielfältige Aktivitäten zu entwickeln, mit denen das Europäische Jahr lebendige Spuren hinterlässt, nämlich politische Beschlüsse, die uns dem angestrebten Ziel, nämlich der Beseitigung von Armut und sozialer Ausgrenzung, näher bringen.

Brüssel, den 28. April 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Siehe Leitlinien der UNESCO zur Integration im Bildungswesen (Policy Guidelines on Inclusion in Education), Paris 2009.

(2)  Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000). Die EU-Mitgliedstaaten haben alle internationalen Verträge zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert, insbesondere die UN-Kinderrechtskonvention (1989) und die Internationalen Pakte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und über bürgerliche und politische Rechte (1966).

(3)  ABl. C 224 vom 30.8.2008, S. 106.

(4)  KOM(2009) 647 endg. vom 24.11.2009„Arbeitsdokument der Kommission - Konsultation über die künftige EU-Strategie bis 2020“.

(5)  Schlüsselzahlen zum Bildungswesen in Europa 2009 (Bericht der Europäischen Kommission), http://eacea.ec.europa.eu/education/eurydice/documents/key_data_series/105DE.pdf.

(6)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 10.

(7)  ABl. C 256 vom 27.10.2007, S. 93.

(8)  ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 74.

(9)  ABl. C 151 vom 17.6.2008, S. 45ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 113.

(10)  Z.B. „Recognition of non-formal and informal learning in OECD countries: A very good idea in jeopardy?“ Lifelong Learning in Europe, Patrick WERQUIN, Paris, 2008.

(11)  OECD, Beyond Rhetoric: Adult Learning Policies and Practices, Paris, 2003, und Promoting Adult Learning, Paris, 2005.

(12)  Siehe die Leitlinien der UNESCO zur Integration im Bildungswesen (Policy Guidelines on Inclusion in Education), Paris 2009.


ANHANG

zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der Stimmen:

Neue Ziffer 1.5

„“

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen

:

44

Nein-Stimmen

:

61

Stimmenthaltungen

:

14

Ziffer 3.7

Die nichtformale Bildung beruht sehr häufig auf nichthierarchischen und partizipativen Pädagogikformen und Arbeitsweisen. Sie ist eng verbunden mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, die für ihre Vermittlung zuständig sind. Es ist nahe liegend, dass sich die nichtformale Bildung auch aufgrund ihres Bottom-up-Ansatzes als wirksames Instrument zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung erwiesen hat. Daher unterstreicht der EWSA, dass die nichtformale Bildung bei der Umsetzung der EU-2020-Strategie eine maßgebliche Rolle spielen kann.“

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen

:

37

Nein-Stimmen

:

73

Stimmenthaltungen

:

10