22.9.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 255/10


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Realwirtschaft“

(Initiativstellungnahme)

(2010/C 255/02)

Berichterstatter: Carmelo CEDRONE

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 26. Februar 2009 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Realwirtschaft“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 13. November 2009 an. Berichterstatter war Carmelo CEDRONE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 458. Plenartagung am 16./17. Dezember 2009 (Sitzung vom 16. Dezember) mit 122 gegen 75 Stimmen bei 33 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Vorschläge

1.1   Nach Auffassung des Ausschusses ist angesichts einer Krise des gegenwärtigen Ausmaßes ein großer gemeinsamer Wille zur Koordinierung der Maßnahmen im Rahmen gemeinsamer Anstrengungen erforderlich, die der schwierigen Lage angemessen sind. Dabei sollen sowohl kurz- als auch langfristige Maßnahmen vorgeschlagen werden, durch die die wirtschaftliche Erholung unterstützt und eine Wiederholung der für die gegenwärtigen Störungen verantwortlichen Ereignisse verhindert wird.

1.2    Internationales Finanzsystem : Auf der Grundlage der bereits vom EWSA dargelegten Anhaltspunkte muss in jedem Fall schnell ein Regelwerk angenommen werden, das den freien Kapitalverkehr ermöglicht, aber parallel dazu ein geeignetes Überwachungs- und Sanktionsinstrumentarium schafft, durch das verhindert wird, dass sich die negativen Folgen einer fehlenden Kontrolle des Systems wiederholen. Diese Regeln müssen die Schaffung eines einheitlicheren und transparenteren Marktes ermöglichen, was auch durch die Beseitigung von Steueroasen, des Bankgeheimnisses und einiger äußerst fragwürdiger Praktiken der Vergangenheit im Zusammenhang mit spekulativen Wertpapieren erleichtert wird. Man muss zur Unterscheidung zwischen Handels- und Investmentbanken zurückkehren.

1.3    Europäisches Finanzsystem : Der europäische Finanzbinnenmarkt muss verwirklicht werden, um nicht nur mehr Transparenz, Erleichterungen bei den Transaktionen sowie die angemessene Information aller Wirtschaftsteilnehmer zu gewährleisten, sondern auch, um ein Aufsichtssystem in der Zuständigkeit der EZB und des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB-EZB) zu schaffen, das die Aufgaben im Zusammenhang mit der internationalen Ausrichtung und Koordinierung der Überwachungsmaßnahmen wahrnimmt. Die nationalen Aufsichtsbehörden hingegen können mit der laufenden Verwaltung, Kontrolle und Überwachung der Finanzmärkte in den einzelnen Mitgliedstaaten betraut werden (1).

1.4    Währungssystem : Der EWSA hält es für sinnvoll und notwendig, die Frage des internationalen Währungssystems zu vertiefen, um die Devisenmärkte zu stabilisieren und unlauteren Wettbewerb im internationalen Handel im Rahmen der WHO zu vermeiden.

1.5    Unterstützung der Realwirtschaft und der Unternehmen : Wirtschaftliche Governance

Es wäre ein massiveres europäisches Konjunkturprogramm im Hinblick auf die Mittel und die Ausrichtung der in den einzelnen Mitgliedstaaten und Ländern zu ergreifenden Maßnahmen, auch mittels Strukturreformen, erforderlich, oder zumindest - als nächstbeste Lösung - ein gut abgestimmtes Programm, um an die europäischen Unternehmen und Bürger ein positives Signal bezüglich des Mehrwerts und der Qualität der europäischen Integration zu senden;

die Politik in den in die Zuständigkeit der EU fallenden Bereichen (Strukturfonds, Zusammenhalt, GAP, Umwelt, Aus- und Weiterbildung, Forschung, Lissabon-Strategie usw.) muss ausgehend von der Vereinfachung der Verfahren und Vorschriften radikal geändert werden;

für die Finanzierung europäischer Netze (Energie, Verkehr und Kommunikation) müssen Gemeinschaftsanleihen aufgelegt und die Entwicklung einer öffentlich-privaten Partnerschaft unterstützt werden;

es muss eine gemeinsame Linie gegenüber den europäischen Banken vereinbart werden, um diese dazu zu bewegen, wieder zu einer normalen Kreditvergabe an die Unternehmen mit speziellen Modalitäten für die KMU zurückzukehren, z.B. mittels einer Verlängerung des Kredits, die Aktivierung von Garantiefonds mittels Direktfinanzierung durch die Staaten oder die EIB;

sofern dies nicht bereits der Fall ist, müssen die Arbeitnehmer der KMU Zugang zu Maßnahmen zur sozialen Abfederung und zu Unterstützungsmaßnahmen bei Arbeitslosigkeit erhalten;

es müssen steuerpolitische Maßnahmen vereinbart werden, um - zusammen mit makroökonomischen und geldpolitischen Anreizen - die Nachfrage, die wirtschaftliche Erholung und die Beschäftigung zu beleben;

der heute viel zu stark parzellierte Arbeitsmarkt muss „europäischer“, d.h. nach dem Prinzip kommunizierender Röhren stärker integriert werden, wobei Hindernisse sowohl innerhalb als auch zwischen den Ländern beseitigt werden müssen. Wir brauchen einen integrativeren Arbeitsmarkt, auf dem es nicht nur für Kurz- und Langzeitarbeitslose, sondern auch für diejenigen, die nie in Arbeit waren (ca. 100 Mio. Europäer und Europäerinnen), Beschäftigung gibt. Dabei sind natürlich die sozialen und wirtschaftlichen Standards für die Arbeitnehmer des Bestimmungslandes einzuhalten;

es müssen Schritte unternommen werden, um Investitionen in die Industrie - einschließlich interner Investitionen - anzuziehen, indem dafür gesorgt wird, dass Europa hinsichtlich des Wettbewerbsrechts, beschäftigungsfördernder Regelungen, der Produktivität und der Steuerregelungen gegenüber anderen Regionen Vorteile bietet. An der Arbeitslosenquote lässt sich ablesen, inwieweit die Humankapazitäten der EU von Unternehmen und der internationalen Wirtschaft ignoriert werden.

1.6    Hilfe für die europäischen Bürger : Zusammenhalt und soziale Governance

Es muss eine Vereinbarung zwischen allen interessierten Parteien geschlossen werden, ein „europäischer Pakt für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“, mit dem der Mensch wieder in den Mittelpunkt des Wirtschaftssystems gerückt und verhindert wird, dass die Krise gravierende Folgen für die Bürger und Arbeitnehmer hat;

Formen der Beteiligung der Arbeitnehmer am Leben der Unternehmen zur Schaffung und/oder Ausdehnung der „Wirtschaftsdemokratie“ sind vorzusehen; außerdem muss der soziale Dialog verbessert und ausgeweitet werden;

mittels Investitionen zur Verbesserung der Qualität und Verfügbarkeit von Dienstleistungen ist ein Wandel in der „Verbraucherpolitik“ sowohl in Bezug auf den privaten als auch den kollektiven Verbrauch z.B. der großen Netze herbeizuführen;

die Mittel des Globalisierungsfonds müssen aufgestockt werden; für Jugendliche, die ein Unternehmen gründen wollen, sowie für entlassene Arbeitnehmer, die sich selbstständig machen wollen, muss (gemeinsam mit den Hochschulen) ein Programm aufgelegt werden, wobei auch die Unternehmen der Sozialwirtschaft als Alternative genutzt werden sollten;

es müssen Maßnahmen zur Senkung der Steuerlast auf Arbeitseinkommen vereinbart werden;

das Erasmus-Programm muss schrittweise auf alle interessierten Hochschulstudenten ausgeweitet werden;

alle Gemeinschaftsverfahren müssen so weit wie möglich VEREINFACHT werden;

die Vereinbarung muss auf die nationale und internationale Wirtschaft und auf Unternehmer ausgedehnt werden, damit diese Investitionen in den Mitgliedstaaten anstatt anderswo tätigen und auf diese Weise allmählich Arbeitsplätze für die überschüssigen Humanressourcen der EU geschaffen werden.

Aufbau eines politischen und bürgernahen Europas : Politische Governance (auf lange Sicht)

1.7.1   Auf lange Sicht muss verhindert werden, dass die Bürger weiterhin den Preis für ein FEHLENDES Europa zahlen müssen, wie die Grenzen eines gemeinschaftlichen Handelns zur Bewältigung der Krise nur allzu deutlich zeigen, Grenzen, die nicht auf zu viel Europa, sondern im Gegenteil auf zu wenig Europa zurückzuführen sind. Der Vertrag von Lissabon ist ein beachtlicher Schritt in diese Richtung. Der EWSA wird die neuen institutionellen Möglichkeiten nutzen und der neuen Kommission und dem neu gewählten Europäischen Parlament seine Standpunkte im Rahmen seiner im Vertrag verankerten neuen Kompetenzen zukommen lassen.

1.7.2   Die EU muss die Frage des „Demokratiedefizits“ und der Demokratie in ihren Institutionen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen rücken, auch durch neue Formen der unmittelbaren Beteiligung der Bürger und der Zivilgesellschaft, die angesichts neuer Ungerechtigkeiten und neuer Machtverhältnisse nicht gleichgültig bleiben darf.

1.7.3   Daher muss der EU eine wirksame Vertretung nach außen gegeben und ein „europäischer Politikraum“ errichtet werden, der über die erforderlichen Instrumente verfügt, um ein Gegengewicht zu den neuen Machtkonstellationen zu bilden, die infolge der Krise weltweit auf wirtschaftlicher und politischer Ebene entstehen und die Bürger nicht nur ärmer machen, sondern darüber hinaus auch ihre Rechte zu schwächen drohen. Wie bereits ausgeführt, wird der EWSA die Arbeit der neuen Hohen Beauftragten für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU unterstützen und sich bei Fragen zur Zivilgesellschaft auf der internationalen Bühne zu Wort melden.

2.   Einleitung

2.1   Der EWSA hält es in seiner Eigenschaft als Vertreter der Realwirtschaft und der organisierten Zivilgesellschaft für angebracht, in dieser Initiativstellungnahme ein Gesamtbild der Krise zu skizzieren und Vorschläge an die Adresse von Rat und Kommission zu unterbreiten, insbesondere was die Wiederherstellung der Kreditversorgung der Unternehmen sowie Wachstum und Beschäftigung angeht.

2.2   Seit Jahren sehen wir uns mit den Folgen einer allgemeinen Euphorie (Samuelson) konfrontiert, verursacht durch eine ungenaue Informationspolitik, die vornehmlich auf die Meinung der „Experten“ setzte, die für die „Sinnhaftigkeit“ der Entwicklung, die Überlegenheit des vorherrschenden Modells bürgten und behaupteten, dass der Markt früher oder später alles regeln und die „Exzesse“ ausmerzen würde.

2.3   Der EWSA ist davon überzeugt, dass trotz alledem durch die aufgrund ihrer wirtschaftlichen und sozialen Verantwortung unternommenen Anstrengungen der Unternehmen und der Arbeitnehmer der Krise eine positive Wende gegeben werden kann, wenn diese von den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union gebührend unterstützt werden.

3.   Wo stehen wir? Die internationale Finanzkrise

Ursprünge : Die Ursprünge der Krise sind sattsam bekannt und müssen nicht erneut untersucht werden. Der EWSA hält es jedoch für nützlich, zumindest an zwei Elemente zu erinnern, die den Boden für die Krise bereitet haben: die internationale Finanzwirtschaft hat im Zuge ihrer Entwicklung, unterstützt durch die ultraliberale Wirtschaftskultur, letztlich mehr Geld in den eigenen Kreislauf gepumpt als in die Realwirtschaft und dadurch eine enorme Aufblähung der Geldmenge verursacht. Und das alles geschah mit wenigen, unzureichenden und kaum beachteten Regeln: der zweite Wegbereiter der Krise. Die bestehenden Regeln haben versagt bzw. wurden von den Aufsichtsbehörden und Ratingagenturen nicht angewandt, deren Verhalten die Transparenz der Märkte beeinträchtigt hat (2).

3.1.1   Es steht nun fest, dass zur Zeit der Finanzblase Bankmitarbeiter entweder bewusst oder unbewusst ausgesprochen risikoträchtige Geschäfte tätigten, für die die Vorschriften und Sicherheitsmechanismen vollkommen unzureichend waren. Im Privatkundengeschäft wurden zur Erreichung eines möglichst hohen Volumens in unvorsichtiger Weise Kredite in Form von Hypotheken und Kreditkarten gewährt. Im Investmentbanking wurden diese Kredite und anderes wie z.B. fremdfinanzierte Unternehmensübernahmen gebündelt und zu komplexen Derivaten umgeformt und ohne die notwendige Sorgfaltspflicht oder ausreichende Reserven in den Handel gebracht. Es ist eindeutig, dass es für die Verantwortlichen und Angestellten der Banken, deren Tätigkeit Auswirkungen auf das Risikoprofil der Bank hatte, unangemessene Anreize gab, und dass als Folge dieser Anreize der persönliche Gewinn Vorrang hatte vor dem Interesse des Großteils der Anteilseigner des Bankensystems und der ahnungslosen Bürger, die Anteile erworben hatten. Diese Voraussetzungen rechtfertigen jedoch nicht die missbräuchlichen Methoden und die skrupellosen Praktiken, die zu beobachten waren und die die gesamte Finanzbranche in Verruf gebracht haben.

3.2    Ursachen : Sie liegen in einer außer Kontrolle geratenen Situation, ermöglicht durch das Fehlen angemessenen politischen Handelns, durch Versäumnisse und Fehler auch seitens der Regierungen, und zwar nicht nur im Finanzwesen, sondern auch im makroökonomischen und monetären Bereich. Auf weltweiter Ebene wurde diese Situation z.B. durch die lasche Haushaltspolitik der USA herbeigeführt, wobei die EU über keine ausreichenden Handlungsmöglichkeiten verfügt und ihr Wirtschafts- und Sozialmodell von allen Seiten attackiert wurde, als ob es die Ursache allen Übels sei. Die internationalen Organisationen waren zu schwach, um intervenieren zu können. Dieser Zustand dauerte viel zu lange an. Die Politik hat sich häufig hinter der Globalisierung verschanzt und diese für alles verantwortlich gemacht, wodurch sie eine große Mitschuld an den Ursachen der Krise auf sich geladen hat (1).

Konsequenzen : Die Auswirkungen waren verheerend, aber man darf nicht in Pessimismus versinken. Leider wurde ein Teil der Finanzwirtschaft von Euphorie, Gier, Spekulation und weitverbreiteter Unverantwortlichkeit geleitet. Auch die hohe Bankenkonzentration (sodass man sich einredete, die Banken seien zu groß, als dass man sie pleite gehen lassen könne) und das Versagen beim Risikomanagement führte - mittels eines unaufhaltsamen Schneeballprinzips - unweigerlich zu den derzeitigen Auswirkungen. So hat die Finanzkrise, um die es sich ursprünglich handelte, die Gestalt einer makroökonomischen Krise angenommen und auf die Realwirtschaft übergegriffen. Daher sehen wir uns heute mit einer Finanzkrise konfrontiert, die auf die Produktionssektoren durchgeschlagen und eine Wirtschafts-, Währungs-, Handels- und Sozialkrise und damit eine Vertrauenskrise ausgelöst hat.

3.3.1   Der Wahrheit zuliebe muss allerdings berücksichtigt werden, dass in den letzten dreißig Jahren ein bis dahin beispielloses weltweites Wirtschaftswachstum - insbesondere in den Entwicklungsländern - festzustellen war. Dieses Wachstum wurde auch durch die Entwicklung der Finanzmärkte ermöglicht, von der viele profitierten und die die Illusion vermittelte, dieses Wachstum werde sich ungehindert fortsetzen.

3.3.2   Sicherlich wird die Krise Auswirkungen auf die Neuverteilung der Kräfteverhältnisse auf globaler und nationaler Ebene haben, wie der G-20-Gipfel in Pittsburgh bereits gezeigt hat. Nach der Krise wird eine neue wirtschaftliche und politische „Landschaft“ entstanden sein. Somit wird die ursprünglich finanzielle Krise zu einer gesamtwirtschaftlichen Krise, die auf die Realwirtschaft übergreift und einen Einbruch des BIP sowie einen dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit nach sich zieht. In diesem Zusammenhang setzt sich der EWSA mit der derzeitigen Position und der erforderlichen künftigen Rolle der EU auseinander.

4.   Was ist zu tun? Die Instrumente für Interventionen und für die Krisenbewältigung

4.1   Neuordnung des Finanzsystems

Der EWSA betrachtet die Ergebnisse des G-20-Gipfels von London und des G-8-Gipfels von L'Aquila insofern als befriedigend, als sie über die im Vorfeld geäußerten pessimistischen Prognosen hinausgegangen sind und gezeigt haben, dass die Weltwirtschaft und das Weltfinanzsystem gemeinsam gesteuert werden müssen oder sich ansonsten nicht steuern lassen. Es ist das Prinzip der „Weltordnungspolitik“ auf den Plan getreten, das der Politik wieder den ihr gebührenden Raum zuweist. Es steht zu hoffen, dass auch die europäischen Regierungen die erforderlichen Konsequenzen ziehen (siehe Ziffer 4.4). Die Ergebnisse müssen sich jedoch über die Änderungen von Basel-II hinaus mittels eines Basel-III-Abkommens konkret und wirkungsvoll in einer Neuordnung und Reform der internationalen Organisationen niederschlagen.

4.1.1.1   Sicherlich wäre es wünschenswert gewesen, auf dem darauf folgenden G-20-Gipfel in Pittsburgh den guten Absichten Taten folgen zu lassen. Es wurde jedoch vermieden, die echten anstehenden Fragen in Angriff zu nehmen: die Regeln und Reformen des Finanzsystems (1), die Ungleichgewichte im Handel zwischen den USA und China, die Struktur der Aktiengesellschaft, den Anstieg der Arbeitslosigkeit usw. Wenn nichts unternommen wird, droht daher weiterhin die Gefahr, dass bestimmte Vertreter finanzieller Interessen die Krise als einen belanglosen Zwischenfall abtun und daher meinen, sie dürften wieder so weitermachen wie zuvor  (3).

4.1.2   Der EWSA vertritt den Standpunkt, dass die Rolle der Aufsichtsbehörden zwar gestärkt werden muss (4), aber vor allen Dingen müssen sie funktionsfähig sein, von der Politik unabhängig werden und über die Möglichkeit zur Verhängung von Sanktionen verfügen. Steueroasen müssen offen- und/oder trockengelegt werden, um ihre Nutzung für die Geldwäsche und Steuerhinterziehung zu unterbinden. Das Hauptproblem ist die fehlende Transparenz. Die tatsächlichen Fakten in Bezug auf die Darlehen, Aktiva, Reserven und Risikoprofile der Banken müssen allgemein bekannt sein.

4.1.3   Der EWSA hofft, dass die (wenigen!) Leitlinien und Beschlüsse, auf die man sich in London, L'Aquila und Pittsburgh verständigt hat, helfen werden, innerhalb eines glaubwürdigen Zeitraums eine Wende zu bewirken und zu einer weniger ideologischen und transparenteren Wirtschafts- und Marktkultur (zurück) zu finden. Außerdem muss man vorsichtig sein, im Finanzmarkt von Moral oder Ethik zu sprechen, wie dies einige gerne tun würden: diejenigen, die die Krise teuer zu stehen kommt, könnten den Eindruck bekommen, dass man sich über sie lustig macht. Es ist besser, von Rechten und Sanktionen und von Regeln und Instrumenten für ihre Umsetzung zu sprechen.

4.1.4   Das ist die überzeugendste und wirkungsvollste Methode, um das Vertrauen der Verbraucher wiederherzustellen und dadurch die Nachfrage wiederzubeleben. Gebraucht wird ein neuer Wirtschaftsdiskurs, bei dem von Realwirtschaft, Investitionen, Arbeit, Risiken, Rechten, Pflichten und Aufrechterhaltung des Wettbewerbs die Rede ist.

4.1.5   Der EWSA ist der Ansicht, dass sich die Akteure der Realwirtschaft, die Unternehmen und die Arbeitnehmer deutlicher zu Wort melden und ihre Argumente darlegen müssen, dass sie wieder ihre Rolle übernehmen müssen, die entscheidend wichtig ist, um wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Wettbewerbsfähigkeit, Innovation sowie Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Es wäre wünschenswert, dass dies auch seitens der Politik geschieht.

Auch das internationale Währungssystem sollte auf den Prüfstand. Auf den Treffen der G-20 in London, der G-8 in L'Aquila und der G-20 in Pittsburgh wurde das Funktionieren und die Reform des internationalen Währungssystems - abgesehen von der Quotenverteilung im IWF - nicht als eine der zentralen Prioritäten für die Neuausrichtung der Weltwirtschaft auf ein nachhaltiges Wachstum behandelt. Jedoch könnten einige der von den G-20 und G-8 eingegangenen Verpflichtungen - wenn sie denn erfüllt werden - starke Auswirkungen auf den Devisenmarkt und damit auf das Funktionieren dieses Systems haben.

4.1.6.1   Die Entscheidungen, die Entwicklungsländer und insbesondere Afrika zu unterstützen, die Ressourcen des Internationalen Währungsfonds zu verdreifachen (auf 750 Mrd. Dollar) und weitere 250 Mrd. Sonderziehungsrechte (SZR) für die finanzielle Unterstützung der am stärksten von der Krise betroffenen Länder bereitzustellen, sind ein erster Denkanstoß hinsichtlich der ungeheuren Dollarmengen, die in Umlauf gebracht werden, um Länder mit hohen Leistungsbilanzdefiziten zu unterstützen.

4.1.6.2   Als zweites Element wird der für die nächsten drei Jahre vorhergesagte Anstieg der Staatsverschuldung der Vereinigten Staaten (auf eine Gesamtverschuldung von 100 % des BIP), begünstigt durch die neue Politik des „deficit spending“, mit der Präsident Obama das Land aus der Rezession herauszuführen versucht, ein weiterer Stimulus sein, um gewaltige Dollarmengen auf den Markt zu werfen, was erhebliche Konsequenzen für das internationale Wirtschaftssystem haben wird. Dies ist eine Situation, die bereits ab der zweiten Hälfte der 60er Jahre zu beobachten war und mit der Abwertung des Dollars und dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems fester Wechselkurse im Jahr 1971 endete.

4.1.6.3   Am meisten beunruhigt diese Situation die Chinesen, deren Fremdwährungsreserven während der letzten zehn Jahre um mehr als 5 000 Mrd. Dollar gestiegen sind und in den nächsten Jahren wahrscheinlich - wenn auch langsamer - weiter zunehmen werden. Sie beobachten mit Sorge die Schwächung des Dollars und den möglichen Wertverlust ihrer enormen Währungsreserven.

4.1.6.4   Der Euro, der in wenigen Jahren zur zweitwichtigsten internationalen Anlagewährung wurde, ist - auch wenn dies zweckmäßig und wünschenswert wäre - keine praktikable Alternative zum Dollar. Noch weniger denkbar ist eine - wie sich die chinesischen Währungsbehörden das vorstellen - „supranationale Reservewährung“ in Form der Sonderziehungsrechte, die nicht nur wie bisher zwischen den Regierungen und den internationalen Institutionen, sondern auch als Zahlungsinstrument bei internationalen Handels- und Finanztransaktionen verwendet wird. Die Emission neuer SZR ist sicher ein nützliches Instrument, um zusätzliche Reserven für Volkswirtschaften mit Leistungsbilanzdefiziten zu schaffen, jedoch keine langfristige Lösung für die gegenwärtige Krise.

4.1.6.5   Es ist ziemlich wahrscheinlich und auch wünschenswert, dass der Euro immer stärker die notwendigen Eigenschaften annimmt, um zu einer internationalen Reservewährung und einer Referenzwährung für die Bestimmung der Warenpreise auf den internationalen Märkten zu werden. Der EWSA hofft jedoch, dass auch die chinesische Währung, die für eine weltweit in immer stärkerem Maße ausschlaggebende Volkswirtschaft steht, aus dem Schutz der chinesischen Behörden entlassen wird. Zehn Jahre lang war der Renminbi Yuan fest an den Dollar gebunden, erst seit 2005 ist sein Wert an einen Währungskorb gekoppelt, der andere Währungen enthält. Der Renminbi Yuan muss zu einer auf den internationalen Märkten frei konvertierbaren Währung werden.

4.1.6.6   Nach Ansicht des EWSA ist mehr Engagement auf internationaler Ebene erforderlich; China kann nicht wie in der Vergangenheit auch weiterhin auf ein anhaltendes Exportwachstum setzen und Leistungsbilanzüberschüsse anhäufen, aber von den andern verlangen, sich um die Wechselkursprobleme auf internationaler Ebene zu kümmern, zu denen es selbst mit einer Geld- und Steuerpolitik beiträgt, die die Anhäufung von Ersparnissen begünstigt und die Inlandsausgaben bremst.

4.1.6.7   Das auf frei schwankenden Wechselkursen basierende internationale Währungssystem ist gekennzeichnet durch unablässige und ausgeprägte Wechselkursfluktuationen aufgrund von Spekulation. Dieser Situation, die äußerst negative Auswirkungen auf die Weltwirtschaft hat, könnte durch den Abschluss eines politischen Abkommens zwischen den Zentralbanken der wichtigsten Industrieländer abgeholfen werden. Diese würden sich in diesem Rahmen dazu verpflichten, gemeinsam zu intervenieren, wenn eine Währung zu starken Pressionen nach oben oder nach unten ausgesetzt ist, um somit die Volatilität der Wechselkurse in angemessenen Grenzen zu halten.

4.1.7   Europäische Finanzregeln schaffen - einen europäischen Finanzbinnenmarkt verwirklichen (5). Trotz der auf europäischer Ebene geltenden Vorschriften und trotz des Euro sind wir noch weit von diesem Ziel entfernt, selbst in der Eurozone. Die Krise hat gezeigt, dass mit Hilfe geeigneter Reformen im Einklang mit den Empfehlungen des de-Larosière-Berichts und den Vorschlägen der Kommission unverzüglich weitere Maßnahmen in dieser Richtung ergriffen werden müssen, die weit über die bereits unternommenen Anstrengungen hinausgehen. Dies würde auch der EZB ein rascheres und flexibleres Handeln ermöglichen. Es darf nicht vergessen werden, dass das vorrangige Ziel des Finanzsystems darin besteht, die Unternehmen zu unterstützen und unternehmerische Initiative, Wachstum und Beschäftigung zu stimulieren: Diese Aufgabe könnte durch einen reformierten, stärker wettbewerbsorientierten, transparenten und in seinen verschiedenen Aspekten stärker integrierten Finanzmarkt erleichtert werden.

4.2   Unterstützung der Realwirtschaft

4.2.1   In der Mitteilung der Kommission, die für die Frühjahrstagung 2009 des Europäischen Rates vorgelegt wurde und den ehrgeizigen Titel „Impulse für den Aufschwung in Europa (6) trägt, wird unter den Maßnahmen zur Überwindung der gegenwärtigen Krise die Wiederherstellung des Vertrauens der Bürger und der Wirtschaftsteilnehmer an erster Stelle genannt, um die Nachfrage zu beleben und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen dürfen nicht nur wohlgemeinte Absichtsbekundungen bleiben, sondern müssen konkrete Ergebnisse zeitigen.

4.2.2   Nach Auffassung des EWSA muss insbesondere das zentrale Problem der Beschäftigung und des Liquiditätsmangels für die Unternehmen angegangen werden (7). Nach jüngsten Schätzungen der ILO sind seit Beginn der Krise im Dezember 2007 ca. 40 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen (davon 7 Millionen allein in den OECD-Ländern), und die Prognosen für die Zukunft sind ziemlich düster. Dieser soziale Notstand kann nur durch die Wiederherstellung des Vertrauens in das Funktionieren der Märkte und durch Interventionen der öffentlichen Hand zur Förderung von Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Beschäftigung überwunden werden. Europa braucht eine Wirtschaftspolitik sowie ein Programm, das die Unternehmen anzieht und dabei unterstützt, zu wachsen und Arbeitsplätze zu schaffen.

4.2.3   Der EWSA stimmt der Zielsetzung der Kommission uneingeschränkt zu. Die in der Mitteilung beschriebenen Maßnahmen sind zu begrüßen, da sie Sofortmaßnahmen für den Banken- und Finanzsektor, für die Unterstützung der Realwirtschaft und für die Aufwertung des europäischen Binnenmarktes betreffen. Sie lassen jedoch einen konventionellen und sicher nicht innovativen Ansatz erkennen, dessen Schwerpunkt auf einem wirkungsvolleren Einsatz sektorspezifischer wirtschaftspolitischer Maßnahmen liegt, die von der Europäischen Kommission direkt durchgeführt und/oder koordiniert werden.

4.2.4   Die Wiederherstellung des Vertrauens der europäischen Wirtschaftsakteure und Bürger in die Fähigkeit der Gemeinschaftsinstitutionen und der nationalen Behörden, die Krise zu meistern, setzt das Eingeständnis voraus, dass die Krise nicht allein irgendwelchen - wenn auch dramatischen - konjunkturellen Phänomenen oder einer Schwäche bzw. einem Versagen des Marktes anzulasten ist.

4.2.5   Die Besonderheit der Krise, die die Weltwirtschaft und nicht nur die europäische Wirtschaft durchmacht, besteht darin, dass sie eine tiefer liegende und eher systemische Ursache hat, die die ethischen und moralischen Werte (Verantwortungsbewusstsein, Rechtmäßigkeit, soziale Gerechtigkeit) betrifft, die die Grundlage der modernen Gesellschaft bilden und ihr Handeln in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Lebens leiten. Das Bemühen um die Wiederherstellung des Vertrauens darf sich nicht darauf beschränken, etwas an den „Mechanismen“ des Marktes zu verändern, die versagt haben, sondern muss auf makro- und mikroökonomische Maßnahmen der Gemeinschaft setzen.

4.2.6   Diese Herangehensweise an die gegenwärtigen Probleme wird zwar nicht in Frage gestellt, aber die Lösungen, die die Kommission in ihrer Mitteilung vorschlägt, erscheinen unzureichend oder jedenfalls wenig wirkungsvoll angesichts der Veränderungen, die nicht nur in den verschiedenen nationalen Produktionssystemen, sondern auch auf Ebene der europäischen und internationalen Politik herbeigeführt werden müssten, um das Wirtschaftswachstum in den Mitgliedstaaten anzuregen. Und dies zu einem Zeitpunkt, da die negativen Auswirkungen in Europa (mit einem niedrigeren BIP) stärker zu spüren sind als in den USA, die indes mit einem starken und einheitlichen Programm sowie massiveren und wirksameren öffentlichen Interventionen reagiert haben. Die EU sollte die Durchführung von harmonisierten Maßnahmen der Mitgliedstaaten fördern. Es wäre daher wünschenswert, dass die EU ein zweites Konjunkturprogramm auflegt, das wirkungsvoller und homogener als das erste ist.

4.2.7   In Bezug auf die kurz- und mittelfristigen Maßnahmen zur Erholung der europäischen Wirtschaft ist der EWSA der Auffassung, dass sich die Aufmerksamkeit und die Finanzmittel der EU und der Mitgliedstaaten vorrangig auf eine begrenzte Anzahl von Interventionen konzentrieren müssen, die jedoch sehr starke Auswirkungen auf die verschiedenen Märkte und die verschiedenen Wirtschaftsakteure generell haben. Diese Interventionen müssen folgende Aspekte betreffen: die Wiederherstellung des Vertrauens in das Finanzsystem, Verbesserungen des europäischen Konjunkturprogramms, die notwendigen Änderungen an den wichtigsten Interventionsmaßnahmen der Union und die Unterstützung der von der Krise am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten, angefangen bei den osteuropäischen Ländern.

Wiederherstellung des Vertrauens in das Funktionieren des Finanzsystems. Eine Erholung der europäischen Wirtschaft ist möglich, wenn die Stabilität und Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte wiederhergestellt wird, wobei neue Regeln einzuhalten und neue Systeme der Aufsicht auf Makro- und Mikroebene zu beachten sind, die ihr geordnetes und verantwortliches Funktionieren auf internationaler Ebene garantieren. Das Finanzwesen muss zu seiner traditionellen und unersetzlichen Rolle für die Förderung des Wirtschaftswachstums zurückkehren: zur Finanzierung der realen Tätigkeiten der Akteure (Unternehmen, Haushalte, Netze und Dienstleistungen, Infrastrukturen, Umwelt und Energie).

4.2.8.1   Gleichwohl ungelöst bleibt das Problem schwerwiegender Eingriffe der Staaten zur Stützung des Bankensystems, die leider unvermeidlich sind. Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Situation nicht lange anhalten darf und dass eine „Ausstiegsstrategie“ für diese Eingriffe konzipiert werden muss, wobei den Banken nach einem systematischen Ansatz Verpflichtungen z.B. zu internen Umstrukturierungen und zur Verbesserung der Quantität und Qualität der in der Bilanz ausgewiesenen Reserven auferlegt werden. Mit dieser Strategie soll ein unabhängiger und transparenter Kredit- und internationaler Finanzmarkt wiederbelebt werden, um zu vermeiden, dass sich die jüngsten Ereignisse wiederholen.

4.2.8.2   Hinsichtlich der Forderung der Kommission nach einer verstärkten Kontrolle und Transparenz bei Finanztransaktionen, die von der Gruppe der G-20-Länder in London, der G-8-Länder in L'Aquila und der G-20-Länder in Pittsburgh bekräftigt wurde, und unter Berücksichtigung des von der Kommission und dem Rat angekündigten Vorschlags für die Reform des europäischen Finanzsystems wird der EWSA den diesbezüglichen Vorschlag bewerten. Er vertritt jedoch die Auffassung, dass in dem Fall, dass die Finanzaufsicht einem neuen autonomen europäischen Gremium übertragen wird, dieses echte Handlungsbefugnisse erhalten muss (8).

4.2.8.3   Ein solches Vorgehen würde den Prozess der Harmonisierung der unterschiedlichen Rechtsvorschriften, die in Europa im Bereich der Finanzaufsicht bestehen, fördern und zugleich die Sanktionsmöglichkeiten stärken.

4.2.9   Verbesserungen des Europäischen Konjunkturprogramms

4.2.9.1   Der EWSA hat unlängst in einer Stellungnahme (9) die Möglichkeit einer tiefgreifenden Überarbeitung des von der Kommission vorgelegten Konjunkturprogramms angesprochen, und zwar nicht nur in Bezug auf die Finanzmittel, die angesichts der gravierenden Krise für unzureichend befunden werden, sondern auch mit Blick auf eine unterschiedliche Ausgestaltung und Ausrichtung der Maßnahmen, die in den Mitgliedstaaten zur Konjunkturbelebung zu ergreifen sind.

4.2.9.2   Die Bedingungen des Zugangs zu diesen Maßnahmen müssen unabhängig von den heute als prioritär erachteten Sektoren (Automobilbranche, Bauwesen, KMU usw.) die Kohärenz und Einheitlichkeit dieser Maßnahmen sowie die vollständige Einhaltung der europäischen Binnenmarktvorschriften gewährleisten.

4.2.9.3   Es wäre nämlich nicht wünschenswert, dass einzelne Maßnahmen, die über das Konjunkturprogramm aus dem Gemeinschaftshaushalt oder den von den nationalen Regierungen bereitgestellten Mitteln für Notfallmaßnahmen in den Unternehmen in den von der Krise betroffenen Sektoren oder Ländern finanziert werden, in irgendeiner Weise zur Bevorzugung oder zum Schutz einiger Unternehmen oder Branchen zum Nachteil anderer führen würden.

4.2.9.4   Der Binnenmarkt ist einer der wichtigsten Impulsgeber für die europäische Wirtschaft, und seine Stärkung und Entwicklung ist die beste Garantie für das Gedeihen wirtschaftlicher Initiativen und die Entstehung neuer Arbeitsplätze. Die Koordinierung und Überwachung der im Rahmen des Konjunkturprogramms auf europäischer und nationaler Ebene vorgesehenen Maßnahmen müssen für die Unionsbürger sicherstellen, dass die Union in der Lage ist, die Finanzhilfen in Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht und im Interesse der Bürger und der Gebiete, die sich in der Krise als besonders hilfsbedürftig erwiesen haben, zu verwalten.

4.2.9.5   Nach Ansicht des EWSA muss bei diesen Maßnahmen zur Unterstützung produktiver Aktivitäten dem KMU-Bereich besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden (mittels eines besonderen Plans für Finanzierungserleichterungen und mit vereinfachten Verfahren; siehe z.B. den „Small Business Act“). Im europäischen Konjunkturprogramm werden die verschiedenen Arten von Maßnahmen zur wirtschaftlichen Unterstützung der KMU nicht deutlich genug dargestellt. Der EWSA ist bezüglich kleinerer Unternehmen, die für die Gesamtbeschäftigung in der EU von enormer Bedeutung sind, der Ansicht, dass die Initiativen in einen makroökonomischen Bezugsrahmen eingeordnet werden müssen, der folgenden Faktoren Rechnung trägt: nationale und lokale Besonderheiten, unterschiedlicher Spezialisierungsgrad der Branchen, Bedarf in puncto neue Kompetenzen, innovative Technologien und Infrastrukturen zur Unterstützung der Unternehmen.

4.2.9.6   Ohne einen angemessenen europäischen und nationalen Bezugsrahmen für die Wachstumsaussichten der KMU besteht die Gefahr der Fragmentierung und Zersplitterung der Maßnahmen, so wie dies in der Vergangenheit der Fall war. Das Ergebnis ist dann, dass zwar alle unterstützt werden, aber niemandem wirklich dabei geholfen wird, zu expandieren und die Qualität der Produkte und Dienstleistungen zu verbessern.

4.2.9.7   Der EWSA ist ferner der Auffassung, dass eine stärkere Einbeziehung der Unternehmen und der Organisationen der Sozialwirtschaft mit Hilfe des sozialen Dialogs und der Konzertierung zur Überwindung der Krise beitragen kann.

4.2.10   Änderungen der maßgeblichen Gemeinschaftspolitiken

4.2.10.1   Der EWSA ist der Auffassung, dass für die Wiederherstellung des Vertrauens der europäischen Wirtschaftsakteure auch eine tiefgreifende Veränderung der Arbeitsweisen der Europäischen Kommission bei der Steuerung der Gemeinschaftspolitiken in wichtigen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen - insbesondere der Kohäsionspolitik - erforderlich ist. Der EWSA hat sich hierzu bereits in einer Stellungnahme geäußert (10), in der zahlreiche Veränderungen vorgeschlagen wurden.

4.2.10.2   Die schwere Wirtschaftskrise, von der gegenwärtig alle europäischen Länder betroffen sind und die voraussichtlich auch im Jahr 2010 anhält, macht eine radikale Reform der Verwaltung der Strukturfonds (EFRE und ESF) sowie eine Überarbeitung der für den Programmplanungszeitraum 2007-2013 vorgesehenen Maßnahmen erforderlich. Die Kommission erarbeitet zwar derzeit einige Vorschläge, um die Verfahren zu vereinfachen, die Zahlungen zu beschleunigen und die Interventionsbereiche für einige sektorspezifische Maßnahmen neu zu definieren, die jedoch noch nicht ausreichend sind. Diese Maßnahmen wurden notwendig, um den gegenwärtig durch die Krise bedrohten Zusammenhalt der EU zu erhalten.

4.2.10.3   Das Engagement, das der EWSA von der Kommission bei der Anpassung der vorgesehenen Maßnahmen an die neuen Realitäten aufgrund der weltweiten Krise fordert, muss viel größer sein und macht es jedenfalls erforderlich, diese Politiken umfassend zu überdenken. Ferner ist das Konfliktpotenzial, das sich zwischen den zentralstaatlichen und den regionalen Verwaltungen beim Management der Strukturfondsressourcen zur Bewältigung von Notfällen ergibt, ein weiteres Element, das beim Überdenken der Finanzhilfen für die am stärksten benachteiligten Gebiete der EU berücksichtigt werden muss.

4.2.10.4   Der EWSA ist auch bezüglich der Kohäsionspolitik der Ansicht, dass für jedes Land, das solche Mittel erhält, lokale und sektorspezifische Prioritäten festgelegt werden müssen, um die gemeinschaftlichen und einzelstaatlichen Mittel auf Programme und Projekte mit der voraussichtlich größten wirtschaftlichen und sozialen Wirkung zu konzentrieren. Die Neuausrichtung der Kohäsionspolitik sollte sich an folgenden Grundsätzen orientieren: Kohärenz bei der Auswahl der Maßnahmen, Koordinierung auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene bei den Maßnahmen zur Unterstützung der Unternehmen sowie gemeinsame Programme für die Fachausbildung und die Entwicklung neuer Kompetenzen.

4.2.10.5   Kurzum, die Krise sollte für die EU nicht nur Anlass dazu sein, die gemeinschaftspolitischen Instrumente, über die sie bereits verfügt, besser zu nutzen, sondern auch neue zu konzipieren, wie z.B. Verbesserung der Infrastrukturen und Lancieren eines Plans für die Umwelt, die Schaffung neuer europäischer Netze für Energie und Kommunikation (wie Breitband), die durch öffentliche europäische Mittel finanziert werden (möglicherweise Eurobonds). Das wäre ein außerordentlicher Impuls für die Konjunkturbelebung.

4.2.10.6   Der EWSA ist der Ansicht, dass dies eine außerordentliche Gelegenheit zum gründlichen Überdenken des derzeitigen Gemeinschaftshaushalts in qualitativer und quantitativer Hinsicht darstellt. Außerdem könnte - vielleicht im Rahmen einer Expertengruppe - die Steuerpolitik angegangen werden, eine für Wachstum und Entwicklung entscheidende Frage, die auf europäischer Ebene nicht länger ausgespart und zu Sozial- und Umweltdumping eingesetzt werden darf.

4.2.11   Unterstützung der von der Wirtschaftskrise am härtesten getroffenen Länder, angefangen bei den östlichen EU-Mitgliedstaaten

4.2.11.1   Der EWSA ist der Auffassung, dass die Kommission, wenn schon kein Ad-hoc-Fonds für die von der Krise am stärksten getroffenen Länder geschaffen wird (dieser Vorschlag wurde von den einflussreichsten EU-Staaten abgelehnt), so doch ein Paket von Finanzmaßnahmen - u.a. auch über die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) - für Initiativen zur Stabilisierung der schwächsten Volkswirtschaften in der EU schnüren sollte, wie dies nun in Angriff genommen wird. Besondere Aufmerksamkeit ist in diesem Zusammenhang den osteuropäischen Mitgliedstaaten zu widmen, und folglich müssen dafür besondere Finanzhilfen bereitgestellt werden. Zahlreiche Gründe stehen hinter den Forderungen nach besonderen Hilfen für diese Länder. Ansonsten fällt, zusammen mit dem Binnenmarkt, der zweite Pfeiler der Integration, nämlich die Erweiterung.

4.2.11.2   Die EU muss sich in den nächsten Monaten und Jahren mit schwer lösbaren Problemen auseinandersetzen: Die Wirtschafts- und Beschäftigungskrise, soziale Konflikte, die anzugehenden institutionellen Reformen, die internen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten: all das in einem Rahmen einer zunehmenden Europaskepsis auf Ebene der Parteien, der Regierungen vieler EU-Mitgliedstaaten und einer öffentlichen Meinung, die mit den auf europäischer Ebene getroffenen Entscheidungen ziemlich unzufrieden ist.

4.2.11.3   Das Vertrauen in das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell und in seine Fähigkeit, angemessene, im Interesse aller Mitgliedstaaten liegende Lösungen zu finden, kann wieder hergestellt werden, wenn die EU die Probleme der schwächsten Mitgliedstaaten aufgreift und diesen Ländern beim Überwinden ihrer Schwierigkeiten hilft.

4.2.11.4   Die Krise, die das Kreditwesen, die Finanzdienstleistungen und das verarbeitende Gewerbe vieler osteuropäischer Staaten getroffen hat, ist nicht von solchen Ausmaßen, dass sie für die EU ein unlösbares Problem wäre. Viele dieser Wirtschaftstätigkeiten sind mit der Unterstützung durch Finanzhilfen und Direktinvestitionen aus den Staaten der EU-15 entstanden. Es ist jetzt kaum nachvollziehbar, dass nach dem Annäherungsprozess, der diesen Ländern auferlegt wurde, um Mitglieder der EU zu werden, nun eine Politik vereinzelter, minimaler wirtschaftlicher Eingriffe mit geringer Schlagkraft betrieben wird. Dies ist ein kurz- und mittelfristig nicht reparabler strategischer und wirtschaftlicher Fehler und Ausdruck einer gravierenden politischen Kurzsichtigkeit, die die Zukunft der europäischen Integration beeinträchtigen könnte.

4.3   Den Unionsbürgern helfen

4.3.1   Nach der Krise „wird sich ein neues Gleichgewicht einstellen, aber auf einem anderen Niveau als zuvor: wir werden es schaffen müssen, auf einem niedrigeren Niveau zu leben“. Sollte sich diese Prognose (11) bewahrheiten, so ist das einzige, was sicher ist, die Gewissheit derer, die - hoffentlich nur für kurze Zeit - auf einem noch niedrigeren Niveau leben müssen.

4.3.2   Es muss verhindert werden, dass wiederum die Unternehmen und die Erwerbstätigen die Zeche für die Rettung des Marktes zahlen, während das Kapital weiterhin auf sicherere Märkte ausweicht und sich auch weiterhin dem Fiskus entzieht. Wir könnten sonst Zeugen einer weiteren Aushöhlung des Arbeitseinkommens werden, die sogar zu einem Verlust der sozialen Legitimation der Marktwirtschaft führen könnte. Wenn dieses Risiko vermieden werden soll, muss das europäische Modell der sozialen Marktwirtschaft gestärkt und ausgebaut und die Menschen wieder in den Mittelpunkt des Wirtschaftssystems gerückt werden.

4.3.3   Aus diesen Gründen muss nach Auffassung des EWSA auch der Steuerpolitik größere Aufmerksamkeit seitens der Regierungen und der Union geschenkt werden, und die Bemühungen in Richtung einer stärkeren Koordinierung müssen fortgesetzt werden, um Ungleichheiten, die im Widerspruch zum Binnenmarkt stehen, zu vermeiden. Zugleich sollten diejenigen Reformen bevorzugt werden, durch die statt einer Erhöhung der Steuerquoten die Besteuerungsgrundlage verbreitert wird und stärker die Vermögenswerte als die Wirtschaftstätigkeit der Unternehmen und die Arbeitsleistung berücksichtigt werden.

4.3.4   Außerdem muss verhindert werden, dass die Finanzkrise mit gravierenden Folgen auf die Rentensysteme der Mitgliedstaaten durchschlägt, wie dies in den USA geschehen ist. Dort haben einige Rententräger durch die Krise der Hedgefonds hohe Verluste eingefahren, mit entsprechenden Wertverlusten für die Ersparnisse der Arbeitnehmer, die die betreffenden Rentenpläne abgeschlossen hatten. Nach Auffassung des EWSA muss auf Rechtsrahmen und Rentenmodelle zum Schutz der Interessen der europäischen Bürger und Arbeitnehmer hingearbeitet werden.

4.3.5   Die zunehmende Ungerechtigkeit und Ungleichheit haben bereits die Räume der Freiheit eingeschränkt, und werden dies weiter tun. Dies ist eine Gefahr für die Demokratie in den europäischen Ländern und insbesondere in der EU, die noch ein enormes „Demokratiedefizit“ abbauen muss, und verringert jedenfalls den Konsens der neuen Armen für die Maßnahmen zur Krisenbewältigung und zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung.

4.3.6   Der EWSA ist der Auffassung, dass sich gerade jetzt für die EU eine wichtige Gelegenheit bietet, mit konkreten und für die von der Krise am stärksten betroffenen Bürger, Unternehmen und Arbeitnehmer spürbaren Initiativen ihre Bürgernähe unter Beweis zu stellen.

Dies muss im Rahmen von Maßnahmen geschehen, die auf den Schutz von Rechten abzielen: Deshalb muss die EU eigene Initiativen im Bereich der Sozialpolitik ergreifen. Die soziale Frage muss in dem weiter unten in Ziffer 4.4.3 genannten strategischen Pakt umfassend berücksichtigt werden. Maßnahmen müssen auch im Bereich der Wirtschaftspolitik (u.a. außerordentliche Mittel für die Lissabon-Strategie) und der Unterstützung für die am stärksten gefährdeten Unternehmen ergriffen werden, die die EU gemeinsam mit den Mitgliedstaaten auf den Weg bringen muss (siehe Ziffer 4.2).

4.3.7.1   Strukturmaßnahmen auf dem Arbeitsmarkt, der durchlässiger und integrativer werden muss, mit auf europäischer Ebene abgestimmten Regeln und unter Verwendung des ESF mit vereinfachten Verfahren und vorgezogenen Zahlungen.

4.3.7.2   Förderung von Maßnahmen zugunsten derjenigen Unternehmen, die sich zur Umsetzung und Wahrung des Grundsatzes der sozialen Verantwortung in Europa und des Grundsatzes der Sozialklausel in Drittstaaten verpflichten.

4.3.8   Der EWSA erhofft und fordert von der Kommission, dass sie gemeinsam mit den europäischen Sozialpartnern alle Hebel in Bewegung setzt, um - auch mittels finanzieller Anreize z.B. über die Strukturfonds - Vereinbarungen und/oder Lösungen zu fördern, mit denen die Auswirkungen der Krise auf die Unternehmen und die Arbeitnehmer abgefedert werden. Dafür sollten auch die in einigen Ländern zu beobachtenden bewährten Verfahren verbreitet werden.

4.3.9   Der EWSA fordert den Rat auf, die notwendigen Maßnahmen für den Erlass eines europäischen Ethikkodexes zu ergreifen, um den Handlungsrahmen abzustecken, die Einkommensschere zu verringern und für eine neue Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen, und zwar nicht nur in der Finanzbranche. Die Einkommensunterschiede haben zu einer maßlosen und völlig ungerechtfertigten Zunahme der Ungleichheit geführt. Es wäre wünschenswert, eine europäische Vereinbarung zu treffen, an der alle Seiten beteiligt sind.

4.4   Hin zu einer politischen und bürgernahen EU

4.4.1   Nach Auffassung des EWSA benötigt die EU zur Bewältigung der Krise Beschlussfassungsinstrumente, über die sie derzeit nicht verfügt. Dies ist die Hauptursache für ihre Untätigkeit, die die Gefahr birgt, dass sie gegenüber den Machtzentren China und USA marginalisiert wird. Aus diesem Grunde ist der EWSA der Auffassung, dass die EU konkrete Handlungsfähigkeit erlangen muss, auch mittels provisorischer Instrumente, um nicht die Arbeit und das Engagement in dieser Zeit tiefgreifender Veränderungen zunichte zu machen.

Politische Governance “: Der EWSA ist der Auffassung, dass eine der Hauptursachen der gegenwärtigen Krise in den Trennlinien und Fehlern „der Politik“ zu suchen ist. Die Politik ist - ohne eine einheitliche Sicht der Dinge - unfähig gewesen, zu handeln und verzichtete schließlich sowohl auf weltweiter als auch auf europäischer Ebene auf ihre Leitfunktion. Das Ergebnis liegt auf der Hand.

4.4.2.1   „ Internationale Governance “: Die EU verfügt bislang weder über eine gemeinsame Außenpolitik noch eigene Befugnisse für die Bewältigung der Krise. Dabei wäre es notwendig, dass die EU - zumindest für die Eurozone - auf internationaler Bühne und insbesondere in den Gremien, zu deren Reform wir uns gerade anschicken, mit einer Stimme spricht und ein Gegengewicht zum Einfluss der anderen wirtschaftlichen und politischen Blöcke bildet. Die EU ist der weltweit größte Waren- und Dienstleistungsmarkt und der Hauptgeldgeber für die öffentliche Entwicklungshilfe zugunsten der ärmsten Länder. Und unsere Währung, der Euro, ist die zweitwichtigste internationale Reservewährung. Europa ist also ein „wirtschaftlicher Riese“. Was jedoch die Möglichkeiten der EU angeht, auf internationaler Ebene Einfluss auf die Entscheidungen zu nehmen, ist sie ein „politischer Zwerg“. Ein echtes Paradoxon, das für die europäischen Bürger unbegreiflich ist. Dabei muss doch die Weltpolitik stärker durch europäische Vorschläge und Wertvorstellungen beeinflusst werden.

4.4.2.2   Die Staats- oder Regierungschefs müssen folglich den Mut aufbringen, diese Beschränkung einzugestehen und sich deren Beseitigung zum Ziel zu setzen; gegenwärtig agieren sie wie eine Fußballmannschaft ohne Kapitän und zahlen dafür einen hohen finanziellen und politischen Preis. Um sich davon zu überzeugen, muss man gar nicht erst die Historiker und/oder Gründungsväter bemühen („Wäre jemals ein vereintes Europa imstande, sich das gemeinsame Erbe zu teilen, dann genössen seine drei- oder vierhundert Millionen Einwohner Glück, Wohlstand und Ehre in unbegrenztem Ausmaße“, W. Churchill, 1946). Es sollte rasch eine bindende Vereinbarung zur Bewältigung der Krise getroffen werden, die dann zur Gemeinschaftsmethode werden könnte, und nicht umgekehrt, wie dies derzeit der Fall ist.

4.4.3   „ Wirtschaftliche Governance “: Das Hauptziel muss sein, der EU die notwendigen Instrumente an die Hand zu geben, um gemeinsame makroökonomische und branchenspezifische Leitvorgaben festzulegen und zu entwickeln (zumindest für die Eurozone, mit positiven Auswirkungen für alle 27 Mitgliedstaaten); der gemeinsamen europäischen Währungspolitik sollte angefangen bei der Eurozone eine gemeinsame Wirtschaftspolitik zur Seite gestellt werden, die nicht allein auf das Streben nach Koordinierung beschränkt bleiben darf und Interventionen in den für die europäischen Interessen strategisch wichtigen Bereichen vorsieht (Umwelt, Energie, Innovation, Zuwanderung, Beschäftigung, Zusammenhalt usw.). Es muss ein neuer Pakt für Wachstum, nachhaltige Entwicklung, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung erarbeitet werden - ein Pakt, der insbesondere die soziale und umweltgerechte Marktwirtschaft aufwertet und auf die Vollendung des Binnenmarktes abzielt, wie dies in der Lissabon-Strategie vorgesehen ist.

4.4.4   „ Soziale Governance “: Zu den vorrangigen Zielen eines solchen europäischen Pakts muss auch die Sozial- und Kohäsionspolitik gehören. Die EU sollte über mehr Eingriffsmöglichkeit im Bereich der Sozialpolitik verfügen (12), um einen Grundstock oder Mindestanforderungen in puncto sozialer Grundrechte zu definieren. All diese Gründe machen ein handlungsfähigeres Europa erforderlich. Der EWSA muss daran erinnern, dass die EU als Wirtschaftsprojekt (EGKS, EWG und Euro) mit politischen Zielsetzungen entstanden ist.

4.4.5   Der EWSA erachtet es deshalb in diesen Zeiten für notwendig, die Teilhabe der Bürger - insbesondere der Jugendlichen - am europäischen Integrationsprozess auszubauen und neue Formen der Bürgerbeteiligung zu erproben. Dies ist eine Frage, die nicht dem Zufall überlassen bleiben darf. Es wäre von großer Wirkung in der Öffentlichkeit, wenn die EU z.B. einen wirkungsvollen und bedeutsamen Vorschlag machen würde, bei dem die Bürger im Zentrum stehen würden, und in dem neue partizipative Verfahren bei der Entscheidungsfindung in den wichtigsten Bereichen der europäischen Politik vorgeschlagen würden. Dies wäre ein hervorragender Weg, eine tragfähige Beziehung zwischen den Unionsbürgern und ihren Institutionen aufzubauen, und würde zur Verringerung des Demokratiedefizits in der EU beitragen. Dies ist eine entscheidende Frage für die Zukunft der Union, die nicht weiter aufgeschoben werden darf, obgleich der Vertrag von Lissabon ein kleiner Schritt vorwärts ist.

4.4.6   Einen wichtigen Beitrag in dieser Richtung kann die „europäische Zivilgesellschaft“ leisten. Sie darf nicht nur Beiwerk bleiben, als ein isolierter Bereich betrachtet werden oder nur als Feigenblatt dienen. Das ist eine Herausforderung für den EWSA, „Ein Programm für Europa“.

Brüssel, den 16. Dezember 2009

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  Vgl. Stellungnahme des EWSA zu dem „Bericht der de-Larosière-Gruppe“, ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 57.

(2)  Vgl. die Stellungnahmen des EWSA zu dem „Bericht der de-Larosière-Gruppe“, ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 57, und zum Thema „Europäisches Konjunkturprogramm“, ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 71.

(3)  „Situation of the financial and banking system“ - Gemeinsamer Artikel von Christine LAGARDE, französische Ministerin für Wirtschaft, Industrie und Beschäftigung, Anders BORG, schwedischer Finanzminister, Wouter BOS, niederländischer Finanzminister, Jean-Claude JUNCKER, luxemburgischer Finanzminister, Elena SALGADO MENDEZ, spanische Finanzministerin, Peer STEINBRÜCK, Bundesminister der Finanzen, und Giulio TREMONTI, italienischer Finanzminister. Der Artikel wurde am 4. September 2009 in verschiedenen europäischen Zeitungen veröffentlicht.

(4)  „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die gemeinschaftliche Finanzaufsicht auf Makroebene und zur Einsetzung eines Europäischen Ausschusses für Systemrisiken“ - KOM(2009) 499 endg. vom 23.9.2009; „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung einer Europäischen Bankaufsichtsbehörde“ - KOM(2009) 501 endg. vom 23.9.2009; „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung“ - KOM(2009) 502 endg. vom 23.9.2009; „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung einer Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde“ - KOM(2009) 503 endg. vom 23.9.2009.

(5)  Siehe Fußnote 3.

(6)  KOM(2009) 114 endg., „Impulse für den Aufschwung in Europa“, 4.3.2009.

(7)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ergebnisse des Beschäftigungsgipfels“, ABl. C 306 vom 16.12.2009, S. 70.

(8)  Vgl. Stellungnahme des EWSA zu dem „Bericht der de-Larosière-Gruppe“, ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 57. José Manuel BARROSO vertrat am 30. September 2009 in seiner Rede auf der EWSA-Plenartagung einen ähnlichen Standpunkt.

(9)  Vgl. Stellungnahme des EWSA zum „Europäischen Konjunkturprogramm“, ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 71.

(10)  Vgl. Stellungnahme des EWSA zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zu den Ergebnissen der Verhandlungen über kohäsionspolitische Strategien und Programme im Programmplanungszeitraum 2007-2013“, ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 141.

(11)  John NASH, Nobelpreisträger für Wirtschaft, Oktober 2008.

(12)  José Manuel BARROSO vertrat am 30. September 2009 in seiner Rede auf der EWSA-Plenartagung einen ähnlichen Standpunkt.