23.2.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

CE 45/92


Russland: Angriffe auf Menschenrechtsaktivisten und das Verfahren wegen der Ermordung von Anna Politkowskaja

P6_TA(2008)0642

Entschließung des Europäischen Parlaments vom 18. Dezember 2008 zu den Angriffen gegen Menschenrechtsaktivisten in Russland und dem Mordprozess im Fall Anna Politkowskaja

(2010/C 45 E/17)

Das Europäische Parlament,

unter Hinweis auf seine früheren Entschließungen zu Russland, insbesondere seine Entschließung vom 25. Oktober 2006 zur Ermordung der russischen Journalistin Anna Politkowskaja (1) und seine Entschließung vom 19. Juni 2008 zum Gipfeltreffen EU-Russland in Chanty-Mansijsk am 26. und 27. Juni 2008 (2),

unter Hinweis auf das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation, das 1997 in Kraft trat und bis zum Inkrafttreten eines neuen Abkommen verlängert wurde,

unter Hinweis auf die laufenden Verhandlungen für ein neues Abkommen, das einen neuen, umfassenden Rahmen für die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland darstellen soll, sowie unter Hinweis auf die Wiederaufnahme dieser Verhandlungen während des letzten Gipfeltreffens EU-Russland am 14. November 2008 in Nizza,

in Kenntnis der Erklärung des Vorsitzes im Namen der Europäischen Union zu der Durchsuchung der Büros der Organisation „Memorial“ am 4. Dezember 2008 in St. Petersburg,

in Kenntnis des Berichts für das Jahr 2008 des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) über Menschenrechtsaktivisten,

gestützt auf Artikel 115 Absatz 5 seiner Geschäftsordnung,

A.

in der Erwägung, dass sich Russland als Mitgliedstaat des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verpflichtet hat, die Menschenrechte und die Bürgerrechte uneingeschränkt zu achten,

B.

in der Erwägung, dass die Lage von Menschenrechtsaktivisten und die Probleme von nichtstaatlichen Organisationen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, Anlass zu großer Besorgnis geben,

C.

in der Erwägung, dass beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zahlreiche Beschwerden russischer Staatsbürger eingegangen sind und dass die Urteile des Gerichtshofs beweisen, dass bei einer Reihe von Fällen schwere Menschenrechtsverletzungen sowie Willkür der russischen Staatsorgane vorliegen,

D.

in der Erwägung, dass am 28. Oktober 2008 Otto Messmer, Oberer des russischen Jesuitenordens, und Victor Betancourt, ein ecuadorianischer Priester, in ihrer Wohnung in Moskau brutal ermordet wurden,

E.

in der Erwägung, dass Mitte Oktober 2008 auf eine führende russische Anwältin für Menschenrechte, Karinna Moskalenko, die 30 russische Staatsbürger vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg erfolgreich vertreten hat, ein Giftanschlag verübt wurde, indem jemand in ihrem Auto in Straßburg Quecksilber ausbrachte,

F.

in der Erwägung, dass am 31. August 2008 Magomed Jewlojew, Besitzer einer unabhängigen inguschetischen Website, getötet wurde, während er sich in Polizeigewahrsam befand,

G.

in der Erwägung, dass zwischen Juli und Oktober 2008 mehrere Anschläge gegen Menschenrechtsaktivisten verübt wurden, unter anderem gegen den inguschetischen Oppositionsführer Ahmed Kotiew, den Menschenrechtsaktivisten Zurab Tsechoev aus Inguschetien, den Menschenrechtsaktivisten Dimitri Krajuchin aus der Stadt Orel und den Menschenrechtsaktivisten Stanislav Dmitrievsky aus Nischni Nowgorod,

H.

in der Erwägung, dass am 4. Dezember 2008 die Büros des Forschungs- und Informationszentrums „Memorial“, das seit 20 Jahren die stalinistische Unterdrückung in der Sowjetunion untersucht, in St. Petersburg von maskierten Vertretern der russischen Staatsanwaltschaft gestürmt wurden; in der Erwägung, dass bei diesem Überfall Festplatten und CDs entwendet wurden, auf denen sämtliche Daten über Tausende von Opfern gespeichert sind; in der Erwägung, dass es kein Verzeichnis der beschlagnahmten Unterlagen gibt; in der Erwägung, dass die Anwälte von „Memorial“ daran gehindert wurden, die Büros zu betreten,

I.

in der Erwägung, dass die strafrechtlichen Ermittlungen und das Gerichtsverfahren im Anschluss an den Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja ernsthafte Bedenken in Bezug auf Transparenz und die Achtung der Rechtsstaatlichkeit aufkommen lassen; in der Erwägung, dass die Ermittlungen in diesem brutalen Mord noch nicht vollständig abgeschlossen sind und der Fall noch nicht zufriedenstellend gelöst ist,

J.

in der Erwägung, dass die russischen Behörden im Zusammenhang mit den Ermittlungen im Mordfall Alexander Litwinenko, der in London mit radioaktivem Polonium vergiftet wurde, nach wie vor keine Kooperationsbereitschaft zeigen,

K.

in der Erwägung, dass die Polizei eine gegen den Kreml gerichtete Protestkundgebung, die von der Oppositionspartei „Anderes Russland“ von Garri Kasparow am 14. Dezember 2008 in Moskau veranstaltet wurde, brutal auflöste, indem sie Demonstranten festnahm und in Lkw zerrte; in der Erwägung, dass dabei rund 100 Demonstranten festgenommen wurden,

L.

in der Erwägung, dass am 3. Dezember 2008 17 russische Menschenrechtsgruppen die Europäische Union in Wien aufforderten, nicht nur die Rolle der Menschenrechtskonsultationen zwischen der Europäischen Union und Russland dringend weiter auszubauen, sondern auch die dringendsten Fälle auf den Gipfeltreffen zwischen der Europäischen Union und Russland zur Sprache zu bringen,

1.   verurteilt die Angriffe auf Verteidiger der Menschenrechte in Russland, einschließlich auf Rechtsanwälte, die die Rechte der Bürger vertreten, entschieden und fordert die russischen Behörden auf allen Ebenen auf, die körperliche Unversehrtheit dieser Personen zu schützen und zu gewährleisten;

2.   weist darauf hin, dass Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch weiterhin zentrale Themen für den weiteren Ausbau der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland sein müssen; unterstreicht die Bedeutung eines fortgesetzten Meinungsaustauschs über Menschenrechtsfragen mit Russland als Teil der Konsultationen zwischen der Europäischen Union und Russland über Menschenrechtsthemen und fordert, das Format dieser Treffen zu verbessern, indem auch die zuständigen Ministerien, die Justiz und Vertreter der russischen Bürgergesellschaft einbezogen werden;

3.   ist der Ansicht, dass die Achtung der Menschenrechte sowie von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit integraler Bestandteil des neuen Rahmenabkommens sein sollte, das derzeit ausgehandelt wird;

4.   fordert die russischen Behörden auf, allen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nachzukommen und das Protokoll zur Reform des Gerichtshofs unverzüglich zu ratifizieren; fordert die Russische Föderation ferner auf, das 14. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention zu ratifizieren;

5.   verurteilt die Durchsuchung der Büros des Forschungs- und Informationszentrums „Memorial“ in St. Petersburg am 4. Dezember 2008; fordert die russischen Behörden und die Staatsanwaltschaft von St. Petersburg auf, der Organisation „Memorial“ unverzüglich die elf Festplatten und die CDs zurückzugeben, die am 4. Dezember 2008 im Zuge einer Polizeirazzia beschlagnahmt worden waren und die unwiederbringliche Daten über mehr als 50 000 Opfer von Repressionen während der Stalin-Ära enthalten;

6.   weist darauf hin, dass Gewalt immer stärker um sich greift, was, wie das Moskauer Büro für Menschenrechte darlegt, dazu geführt hat, dass im Jahr 2008 mehr als 100 Menschen aufgrund ihrer Rasse, ihrer Staatsangehörigkeit, ihrer Religion oder ihrer sexuellen Ausrichtung getötet wurden, und weist ferner darauf hin, dass derartige durch Hass motivierte Verbrechen von den russischen Behörden nicht effizient verfolgt werden;

7.   nimmt mit Besorgnis seit kurzem zu beobachtende Bestrebungen zur Kenntnis, das stalinistische Regime zu rehabilitieren, und hebt hervor, dass Russland nur dann eine wahrhaftig demokratische Kultur aufbauen kann, wenn es seine tragische Vergangenheit aufarbeitet;

8.   ist beunruhigt über den im Oktober 2008 erfolgten Mordversuch an der Anwältin für Menschenrechte Karinna Moskalenko und ihrer Familie und ersucht sowohl die französischen als auch die russischen Behörden dringend, die Täter und ihre Motive ausfindig zu machen;

9.   ist davon überzeugt, dass Anwälte, die sich für die Menschenrechte einsetzen, in Fällen, bei denen es um mutmaßliche Verstöße gegen die Menschenrechte geht, bei der fortgesetzten Wahrnehmung ihrer Aufgaben große persönliche Risiken eingehen müssen und ihrer Tätigkeit daher größter Respekt gezollt werden sollte und diese Anwälte vom Staat geschützt und von der Staatengemeinschaft unterstützt werden sollten;

10.   ist nach wie vor äußerst besorgt über die Rechtsvorschriften über Extremismus, die Auswirkungen auf den freien Informationsfluss haben und dem russischen Staat Anlass geben könnten, das Recht von Menschenrechtsaktivisten auf freie Meinungsäußerung weiter zu beschränken;

11.   stellt fest, dass seit der Ermordung der unabhängigen russischen Journalistin Anna Politkowskaja, die zu einem Symbol für Pressefreiheit geworden ist, zwei Jahre vergangen sind; verweist auf seine oben genannte Entschließung vom 25. Oktober 2006 und würdigt den Mut und den Einsatz dieses Symbols für Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit, dessen Lebenswerk der weiteren Unterstützung und Anerkennung bedarf;

12.   äußert sich bestürzt darüber, dass nur eine begrenzte Anzahl an Journalisten das Gerichtsverfahren begleiten dürfen und Fernsehjournalisten nicht zugelassen sind; fordert das Gericht auf, die Entscheidung der Geschworenen uneingeschränkt zu respektieren und es allen Journalisten und Medien zu gestatten, dem Prozess beizuwohnen; erwartet, dass im Zuge des Gerichtsverfahrens nicht nur festgestellt wird, wer den Mord an Anna Politkowskaja begangen und Beihilfe dazu geleistet hat, sondern auch, wer ihn angeordnet hat;

13.   begrüßt, dass im Jahr 2006 die Anlaufstelle des BDIMR für Verteidiger der Menschenrechte eingerichtet wurde, die die Situation der Menschenrechtsverteidiger innerhalb der OSZE überwacht; ermutigt die Organe der EU mit Nachdruck, ihre Unterstützung für Menschenrechtsverteidiger in die Praxis umzusetzen, indem in allen drei Organen eine zentrale Anlaufstelle für Menschenrechtsverteidiger geschaffen wird, um auf diese Weise ihre Maßnahmen besser mit den anderen internationalen und europäischen Organisationen zu koordinieren;

14.   äußert seine Besorgnis über die fortgesetzten, massiven Übergriffe gegen Wehrpflichtige in den russischen Streitkräften und fordert die russischen Behörden auf, die Verantwortlichen auszuforschen und strafrechtlich zu verfolgen und missbräuchliche Praktiken innerhalb der Streitkräfte auszumerzen sowie Entschlossenheit zu zeigen, das herrschende Klima zu modernisieren;

15.   beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten, der Regierung und dem Parlament der Russischen Föderation sowie der OSZE und dem Europarat zu übermitteln.


(1)  ABl. C 313 E vom 20.12.2006, S. 271.

(2)  Angenommene Texte P6_TA(2008)0309.