30.4.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 100/84


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die ethische und soziale Dimension der europäischen Finanzinstitute“

2009/C 100/14

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 25. September 2007, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die ethische und soziale Dimension der europäischen Finanzinstitute“ (Initiativstellungnahme).

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 2. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr IOZIA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 (Sitzung vom 23. Oktober) mit 122 gegen 23 Stimmen bei 45 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.

1.   Zusammenfassung und Empfehlungen

1.1   Die unvorhersehbaren und unerwarteten jüngsten Entwicklungen der Finanzkrise im Hinblick auf den gewaltigen Umfang der Verluste und das offenkundige Versagen der zum Schutz des Marktes und damit zum Schutz der Sparer, Unternehmen und Investoren vorgesehenen ordnungspolitischen Mittel machen weitere Überlegungen zum Inhalt der Stellungnahme notwendig. Die weltweit zu beobachtenden Konkurse sowie die Rettungsaktionen für anscheinend solide Banken und Versicherungen haben bei Millionen von Bürgern Angst und Sorge hervorgerufen.

1.1.1   Der Europäische Rat hat sich auf seiner Tagung am 15./16. Oktober hauptsächlich mit der Finanzkrise beschäftigt und seine Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, konzertiert und global vorzugehen, um das europäische Finanzsystem und die Sparer zu schützen. Nach den Ländern des Euro-Währungsgebiets bekräftigte der Rat in seiner Gesamtheit die am 12. Oktober in Paris festgelegten Grundsätze mit dem Ziel, die Stabilität des Finanzsystems zu wahren, die Aufsicht über den europäischen Finanzsektor, insbesondere über die multinationalen Konzerne, zu verstärken und die Koordinierung der Aufsicht auf europäischer Ebene zu verbessern, sowie außerdem die wichtigen Finanzinstitute zu unterstützen, Konkurse zu vermeiden und die Sicherung der Spareinlagen zu gewährleisten.

1.1.2   Überdies drängte der Rat auf die Beschleunigung der Arbeiten im Zusammenhang mit den Vorschriften über die Tätigkeit der Rating-Agenturen und über die Einlagensicherung und appellierte an die Mitgliedstaaten, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass die Zuteilung von Aktienoptionen und die Vergütung der Manager, insbesondere im Finanzsektor, nicht zu einer übermäßigen Risikobereitschaft oder einer extremen Konzentration auf kurzfristige Gewinne führt.

1.1.3   Der Europäische Rat unterstrich die Notwendigkeit, Maßnahmen zur Unterstützung von Wachstum und Beschäftigung zu treffen sowie auf eine echte und umfassende Reform des internationalen Finanzsystems hinzuarbeiten, die auf den Grundsätzen der Transparenz, der Solidität der Banken, der Verantwortung, der Integrität und der globalen Ordnungspolitik gründet, und Interessenkonflikte zu vermeiden.

1.1.4   Der EWSA hatte bereits seit langem vergebens auf Maßnahmen zur Stärkung der ordnungspolitischen Instrumente sowie auf die Zusammenarbeit zwischen den Aufsichtsbehörden und die Koordinierung und Harmonisierung der Aufsichtmaßnahmen gedrängt; er hatte die übermäßige Risikobereitschaft des europäischen und internationalen Bankensystems angeprangert, die durch überzogene, an kurzfristige Ergebnisse gekoppelte Gehälter geschürt wird, wodurch die Akteure in diesem Sektor gezwungen sind, wahllos Verkaufskampagnen für hochriskante Produkte durchzuführen.

1.1.5   Trotz der auch in Europa aufgetretenen Finanzskandale wurden keine konkreten Maßnahmen ergriffen, und erst jetzt, wo das Ausmaß der Krise dramatische Folgen für die gesamte Wirtschaft zu haben droht, wird man sich dessen bewusst, dass die Verheißungen eines ungebremsten und unverantwortlichen Kapitalismus und eines maß- und grenzenlosen Wachstums falsch waren und in eine tiefe Krise geführt haben.

1.1.6   Das Modell ist unwiederbringlich am Ende. Der EWSA hofft, dass sich die politischen Entscheidungsträger endlich ihrer Verantwortung stellen und:

die Ziele und den Tätigkeitsbereich der Aufsichtsbehörden stärken;

die Möglichkeit untersagen, nicht in der Bilanz ausgewiesene Mittel, Darlehen und Wertpapiere zu halten;

die Aktivitäten der nationalen Regulierungsbehörden ausweiten und harmonisieren;

in Bezug auf die Aktivitäten von Hegde-Fonds, Investitionsbanken, strukturierten Offshore-Instrumenten für Finanztätigkeiten, Staatsfonds und Aktienfonds angemessenere und transparentere Standards einführen, sie der Aufsicht der Behörden unterstellen und im Einklang mit der Forderung des Europäischen Parlaments den Charakter und ihre Qualität als „Unternehmen“ festlegen, auf die die geltenden Vorschriften Anwendung finden;

das Steuersystem ändern und bei großen Risiken bzw. überhöhten Verschuldungen von Anreizen bzw. Ermäßigungen absehen;

eine europäische Rating-Agentur schaffen;

im Einklang mit der derzeitigen Forderung des Rates das System der Löhne der Topmanager und der Anreize für den Verkauf von unangemessenen Finanzprodukten an die Finanzmarktakteure regeln;

nicht geregelte Märkte überwachen und

die Kapitalanforderungen für komplexe Finanzprodukte und für Derivate anpassen.

1.1.7   Der EWSA ist der Auffassung, dass angesichts der überaus gravierenden Finanzkrise und des erhofften endgültigen Scheiterns des Casino-Kapitalismus zweckmäßigere Maßnahmen zu ergreifen sind, um das Finanzsystem in Zukunft zu schützen und gleichzeitig die Wirtschaft anzukurbeln. Es müssen alle erdenklichen Anstrengungen unternommen werden, um die Gefahr abzuwenden, dass das in der Finanzwelt ausgebrochene Virus auf die gesamte Realwirtschaft übergreift. Investitionen in Infrastrukturen, „grüne Investitionen“, beispielsweise in die Energieeffizienz, erneuerbare Energieträger, Innovation und Forschung können zur Förderung der Nachfrage beitragen. Mithilfe eines neuen von den Mitgliedstaaten besicherten Europäischen Fonds, der von der EIB verwaltet werden könnte, ließe sich das Problem der Finanzklemme für die Wirtschaft lösen, insbesondere für solche wirtschaftlichen Vorhaben, für die mittel- und langfristige Investitionen erforderlich sind.

1.1.8   Der EWSA begrüßt die bisherigen Maßnahmen der Mitgliedstaaten, der Europäischen Zentralbank und des Rates und fordert alle europäischen Institutionen auf, in dieser für die Bürger, die Arbeitnehmer und die Unternehmen so dramatischen Situation geschlossen und schnell zu handeln, um baldmöglichst das ordnungsgemäße Funktionieren des europäischen und weltweiten Finanzsystems wiederherzustellen.

1.1.9   Überdies spricht sich der EWSA dafür aus, dass neben den erforderlichen Maßnahmen finanzieller Art für dieses vorrangige Ziel alle erdenklichen Anstrengungen unternommen werden, um die daraus resultierende Wirtschaftskrise in Schach zu halten.

1.1.10   Hunderte Milliarden von Euro wurden zur Bankenrettung bereitgestellt. Der EWSA spricht sich dafür aus, dass mit demselben Einsatz und derselben Bereitschaft ein Rettungspaket auch für die Unternehmen, insbesondere die KMU, geschnürt und die Nachfrage auch durch eine Erhöhung der Gehälter und Rentenzahlungen angekurbelt wird, um zu verhindern, dass die Rezession bald in eine Depression übergeht.

1.2   Der Reichtum und die Vielfalt des Angebots im Bereich der Finanzdienstleistungen sind mit dem Reichtum der Natur vergleichbar. Die Notwendigkeit des Schutzes der natürlichen Artenvielfalt ist inzwischen ins Bewusstsein der Bürger gedrungen. Die Artenvielfalt der Erbringer von Finanzdienstleistungen gehört auch zum kulturellen und sozialen Erbe Europas, das aufgrund seiner großen gesellschaftlichen Bedeutung nicht verloren gehen darf und geschützt und gefördert werden muss. Die ethische und soziale Dimension des europäischen Finanzsystems muss gestärkt und bewahrt werden.

1.3   Laut Artikel 2 Absatz 3 des Vertrags von Lissabon „wirkt (die Union) auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und tech-nischen Fortschritt. Sie wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas.“

1.4   Die europäischen Institutionen und die Mitgliedstaaten müssen sich nicht nur für die Förderung und Unterstützung der Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch der ethischen und sozialen Dimension des Finanzmarkts einsetzen. „Soziale Marktwirtschaft bedeutet auch sozial gerechte Marktwirtschaft (1), und weiter: „Die soziale Marktwirtschaft ermöglicht der Wirtschaft, ihr höchstes Ziel zu erreichen, d. h. Wohlstand und Wohlergehen des ganzen Volkes, indem sie es vor der Bedürftigkeit schützt“  (2).

1.5   Jacques Delors erklärte bei der Lancierung seines Vorschlags, einen hochrangigen europäischen Ausschuss zur Beilegung der Finanzmarktkrise einzusetzen, neue Regelungen zu suchen und die „verrückte Finanz zu bekämpfen, die uns nicht regieren darf“, dass die gegenwärtige Krise Ausdruck des Versagens kaum oder schlecht regulierter Märkte sei und ein weiteres Mal belege, dass diese sich nicht selbst regulieren können.

1.6   Die jüngste Krise verdeutlicht, dass der Pluralismus und die Artenvielfalt des europäischen Finanzsystems nicht nur Teil des kulturellen und historischen Erbes Europas, sondern auch für Initiativen ethisch/sozialen Charakters notwendig sind und wichtige Faktoren für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und die systematische Senkung der Krisenanfälligkeit der Finanzsysteme darstellen.

1.7   Wirtschaftswachstum, das gewisse Grenzen übersteigt, ohne andere Bedürfnisse befriedigen zu können, führt nicht zu einer Steigerung des Glücks der Menschen. Die Dominanz der spekulativen Finanz gegenüber der Realwirtschaft muss eingeschränkt und wieder in vernünftigere, sozial nachhaltigere und ethisch vertretbarere Bahnen gelenkt werden.

1.8   Die Rolle der ethischen und gemeinwohlorientierten Finanzdienstleister muss aufgewertet werden. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss schickt voraus, dass ein dirigistischer Ansatz nicht der richtige Weg ist, denn die Erfahrung zeigt, dass es am besten ist, wenn Initiativen mit stark sozialer und ethischer Komponente spontan im Kleinen entstehen.

1.9   Die ethische Dimension beschränkt sich nicht nur auf einen bestimmten Geschäftsbereich. Die nachgewiesenermaßen wichtige Rolle der Sparkassen und der verschiedenen Genossen-schaftsbewegungen bei der Förderung ethisch/sozialer Aktivitäten und der lokalen Entwick-lung bedarf besonderer Beachtung. Trotz ihrer Anerkennung im Vertrag zur Gründung der europäischen Gemeinschaft werden sie in einigen Mitgliedstaaten immer noch nicht explizit anerkannt und geschützt. Es ist notwendig, sich für eine systematischere und breitere Anerkennung dieses Geschäftsmodells einzusetzen. Unlängst bei der Europäischen Kommission eingeleitete Schritte gegen die Genossenschaftsbewegung in Italien, Spanien, Frankreich und Norwegen belegen angesichts einer fehlenden einschlägigen europäischen Regelung diese Notwendigkeit.

1.10   Der EWSA ist der Auffassung, dass der Rechtsrahmen in Bezug auf das Verhalten von juristischen und natürlichen Personen niemals neutral ist. Auf der Grundlage dieser Überlegungen ist der Ausschuss der Auffassung, dass die Schaffung eines systematischen und allgemeinen Kompensationssystems für ethisch/soziale Initiativen — in einem System, das bereits bestimm—te Verhaltensweisen fördert — den Kriterien der Gerechtigkeit und der Zweckmäßigkeit des öffentlichen Handelns in Wirtschaft und Gesellschaft entspricht.

1.11   Sobald belegt werden kann, dass eine Organisation — zumindest partiell, aber auf strukturelle und dauerhafte Art und Weise — auf das Kriterium der Gewinnmaximierung verzichtet, um Initiativen ethischer oder sozialer Art zu fördern, müssen steuerliche und gesetzliche Bestimmungen greifen, die sich — unter Ausnahme der grundlegenden aufsichtsrechtlichen Bestimmungen — zumindest teilweise von der allgemeinen Regelung unterscheiden. In einigen Mitgliedstaaten werden bereits die strikt nach ethischen Grundsätzen handelnden Investoren von der Bankenrichtlinie ausgenommen. Es gilt sich dafür einzusetzen, dies in allen Mitgliedstaaten so zu handhaben.

1.12   Der Ausschuss fragt sich, ob als ethisch/sozial deklarierte Initiativen von Organisationen mit eindeutiger Gewinnorientierung in den Genuss von reglementarischen oder steuerlichen Vorteilen kommen dürfen. Eine gewinnorientierte Organisation startet eine Initiative, die von ihren üblichen Geschäftsaktivitäten strukturell getrennt ist: In diesem Fall dürften keine Zweifel an der Zweckmäßigkeit bestehen, einen Ausgleich gegenüber der gewöhnlichen Behandlung zu gewähren. Können die Initiativen jedoch strukturell nicht von den üblichen Geschäftsaktivitäten getrennt werden, muss die Diskussion vertieft und die Zweckmäßigkeit der Einführung eines Kompensationssystems bewertet werden.

1.13   In zahlreichen Marktsegmenten wird der sozialen Dimension keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das Konzept der sozialen Verantwortung der Unternehmen (CSR) propa-giert ein konstantes Wachstum, das mit der Würde des Menschen und der Umwelt vereinbar ist und diesen gerecht wird. Prämiensysteme hingegen, die sich ausschließlich nach der Menge der verkauften Produkte richten, anstatt die Qualität der Leistungen zu berücksichtigen, führen zu hoher Unzufriedenheit sowohl bei den Kunden als auch bei den Bediensteten, die dem Stress von Ertragszielen ausgesetzt sind, d. h. unter einem ständigen Vertriebsdruck stehen.

1.14   Der EWSA ist der Auffassung, dass der sogenannte „Verhältnismäßigkeitsgrundsatz“ systematisch und gezielt angewendet werden muss. Diesem zufolge kann ein kleiner Intermediär mit einfachem Geschäftsbetrieb nicht der gleichen Belastung durch Vorschriften ausgesetzt werden wie ein komplexer multinationaler Konzern, wobei natürlich die gleichen Markt-garantien gewährt werden müssen. Die Regelungen haben den Zweck, den Markt zu schützen.

1.15   Die Europäische Kommission kann zur Gewährleistung der Vielfalt des Angebots an Finanz-, Bank- und Versicherungsdienstleistungen beitragen, indem sie wettbewerbsverzerrende Maß-nahmen der Mitgliedstaaten verhindert. Die staatlichen Beihilferegelungen sollten diese Aspekte berücksichtigen.

1.16   Casino- und Turbokapitalismus haben wichtige Industrieunternehmen und Finanzinstitute ins Visier genommen, sie zerlegt und verkauft und zu einem Schatten ihrer selbst reduziert. Die Zerstörung von Sachwerten auf dem Rücken von Tausenden von Arbeitnehmern, privaten Haushalten, Aktionären und der Wirtschaft im Allgemeinen hinterließ eine Trümmerlandschaft.

1.17   Mit dieser Stellungnahme bekräftigt der EWSA erneut, dass die Wirtschaft wieder in den Dienst des Menschen gestellt werden muss, wie dies auch ein berühmter Wirtschaftswissen-schaftler forderte: „Die größte Gefahr besteht in der Unterordnung der Überzeugungen unter die Notwendigkeiten des modernen Industriesystems. […] Dessen Ziele und Werte bestehen darin, dass Technologie immer gut ist, dass Wirtschaftswachstum immer gut ist, dass Unter-nehmen ständig expandieren müssen, dass Warenkonsum glücklich macht, dass Faulheit schlecht ist, dass die Priorität, die wir der Technik, dem Wachstum und der Steigerung des Verbrauchs einräumen, durch nichts in Frage gestellt werden darf (3).

2.   Einleitung

2.1   Die ethische und die soziale Dimension

2.1.1   Das Gedankengut der griechischen Antike, das die solide Grundlage der abendländischen Kultur bildet, soll herangezogen werden, um zunächst die Begriffe „Ethik“ und „Soziales“ zu definieren.

2.1.2   Nach Aristoteles ist das Gute des Menschen Gegenstand der Ethik, wobei dieses Gute nicht abstrakt, sondern als das höchste Gut, das sich durch Handeln erlangen und verwirklichen lässt, verstanden wird. Das höchste Gut, nach dem jeder Mensch strebt, ist die Glückseligkeit, und tugendhaftes Handeln stellt die höchste Form der Glückseligkeit dar.

2.1.3   Die Glückseligkeit (ist) das Beste, Schönste und Genussreichste zugleich, und diese Dinge liegen nicht auseinander, wie die Aufschrift zu Delos will:

„a)

Schönstes ist was Gerechtestes ist,

b)

das Beste Gesundsein,

c)

aber das Süßeste ist, wenn man erlangt was man liebt.

d)

Denn dieses alles kommt den besten Tätigkeiten zugleich zu. In diesen aber oder der besten ihrer liegt nach uns die Glückseligkeit.“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1. Buch, Neuntes Kapitel, in der Übersetzung von E. Rolfes).

2.1.4   Die Philosophie hilft uns zu verstehen, dass neben der absoluten Wirklichkeit der Ethik auch relative Wirklichkeiten bestehen, die — kleinen oder größeren — gesellschaftlichen Gruppen entsprechen, die die gleiche Auffassung von Glückseligkeit haben und sich in ihrem Streben zusammenschließen.

2.1.5   Ethik und pluralistische Werte existieren nebeneinander, kennzeichnen die vielgestaltige Entwicklung der Menschheit in ihren verschiedenen Ausdrucksformen und schließen auch das Phänomen mit ein, das seit kurzem als „Ökonomie des Glücks“ bezeichnet wird: dabei werden die Beschaffenheit des Glücks und mögliche Wege zum Glück auf empirischer Grundlage systematisch untersucht.

2.1.6   Es ist erwiesen, dass wirtschaftliches Wachstum ohne entsprechendes Wachstum anderer Zufriedenheitsfaktoren nicht zu einer Steigerung des Glücks der Menschen führt. Vielmehr „führt wirtschaftliches Wachstum ab einem bestimmten Punkt nicht zu mehr Glück. Eine unbegrenzte Zunahme des Konsums führt zu einem unbegrenzten Mehraufwand an Arbeit für seine Finanzierung und zu mehr Zeit, die für die Erwerbstätigkeit aufgebracht werden muss und dann nicht mehr für zwischenmenschliche Beziehungen zur Verfügung steht. Aber genau diese sind die Hauptquelle des Glücks (4).

2.1.7   Aus verschiedenen Untersuchungen von Eurostat geht hervor, dass in den vergangenen 25 Jahren das Pro-Kopf-Einkommen in Europa zwar kontinuierlich gestiegen, das Glücksempfinden aber im Wesentlichen unverändert geblieben ist. Ähnliche Ergebnisse charakterisieren auch die Lage in den USA.

2.2   Die Finanzkrise 2007/2008 und ihre Folgen

2.2.1   Die turbulenten Ereignisse, die seit Februar 2007 die Finanzmärkte beunruhigen und auch Finanzinstitute und Banken von erstem Rang betreffen, beschäftigen in zunehmendem Maße die internationale politische Debatte.

2.2.2   Die Folgen der US-Kreditkrise wurden dadurch ausgedehnt und verschlimmert, dass zahlreiche als „subprime“ eingestufte, notleidende Forderungen ohne jedwede Transparenz bezüglich Umfang und Größenordnung des Phänomens im Rahmen der Verbriefung umfassenderen „Paketen“ beigemischt worden sind, weshalb die Finanzakteure jetzt unsichere und abgewertete Titel besitzen.

2.2.3   Diese Unsicherheit hat zu einem weiteren Vertrauensverlust gegenüber dem Finanzsystem geführt mit ausgesprochen negativen Auswirkungen auf alle Geschäftsaktivitäten, die auf einen kontinuierlichen Strom günstiger Kredite angewiesen sind.

2.2.4   Die Hedge-Fonds oder Spekulationsfonds, auch die großer Geschäftsbanken, waren die ersten Opfer der Finanzkrise. Zahlreiche europäische Banken mussten feststellen, dass sich in ihren Portfolios ein großer Anteil von US-Subprime-Krediten befand. Einige deutsche Banken, die eigentlich für ihre Vorsicht bekannt sind, waren stark betroffen, aber auch nicht unmittelbar betroffene Finanzinstitute wurden vom Hypothekenstrudel erfasst, da die Refinanzierungskosten unverhältnismäßig stark anstiegen. Dies war die Ursache dafür, dass die Northern-Rock-Bank in Schieflage geraten war.

2.2.5   Der Fall der Société Générale (SocGen) ist teils mit der im letzten Herbst ausgebrochenen Finanzkrise, teils mit einer gewissen Neigung verbunden, die Finanzmarktakteure zum Eingehen exzessiver Risiken anzuhalten, die sowohl zu bedeutenden Gewinnen als auch — im Falle unvorsichtiger Entscheidungen — zu gigantischen Verlusten führen können. Dies macht die dramatische Unzulänglichkeit der internen Kontrollverfahren dieses Finanzinstituts deutlich und lässt Zweifel an den diesbezüglichen Verfahren im gesamten Bankensystem aufkommen.

2.2.6   Das ist Casino-Kapitalismus, bei dem für die gesprengte Bank leider vor allem die den schwächsten Gruppen zugehörigen Sparer — die ohne eigene Schuld auf die eine oder andere Weise die Zeche bezahlen müssen —, die Arbeitnehmer — bislang über 100 000 Entlassungen in der Finanzbranche, weitere werden folgen (5) — sowie die Bürger aufkommen müssen, die ihre Sicherheit schwinden sehen und sich fragen, ob das Finanzsystem noch glaubwürdig ist.

2.2.7   Die bislang erklärten Verluste belaufen sich auf 400 Mrd. Dollar und dürften nach Schätzungen einschlägiger Kreise die Marke von 1,2 Billionen Dollar erreichen (6). Darunter leiden natürlich die großen institutionellen Anleger und die Pensionsfonds, aber das gesamte Wirtschaftssystem hat unter gravierenden Beeinträchtigungen zu leiden: Der Anstieg der Finan-zierungskosten und die verringerte Verfügbarkeit des Geldes führen zum Anstieg der Preise, heizen die Inflation an und dämpfen die Wirtschaftsentwicklung. Sämtliche Wirtschaftsaktivitäten werden von diesem Teufelskreis erfasst. In einigen Mitgliedstaaten ist bereits von Rezession die Rede.

2.2.8   Sicherlich ist das europäische Finanzsystem, von einzelnen begrenzten Fällen abgesehen, eher als Opfer denn als Täter zu bezeichnen. Sicher ist allerdings auch, dass die „Finanzialisie-rung“ der Wirtschaft, die Suche nach immer komplizierteren Mitteln und Wegen zur Mehrung der Gewinnmöglichkeiten, das immer aggressivere Auftreten von Spekulationsfonds und der Auftritt staatlicher Investmentfonds mit schier unerschöpflichen Mitteln die reale Wirtschaft immer mehr ins Abseits drängen. Dadurch wurden auch die Mängel der nationalen Kontrollsysteme, die Ineffizienz der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Behörden und die beunruhigende Rolle der Ratingagenturen — auch derjenigen, die sich mit dem sogenannten ethischen Rating befassen und Unternehmen wie Parmalat mit einem wunderschönen Verhaltenskodex positiv bewertet haben — vor Augen geführt.

2.2.9   Diese Krise hat alle Marktakteure erfasst, ganz unabhängig von ihrer — hohen, niedrigen oder inexistenten — Spekulationsneigung. Die Integration der Märkte hat ein Stadium erlangt, in dem niemand mehr vor negativen Auswirkungen gefeit ist. Das Problem besteht darin, dass nur die Verluste mit den anderen geteilt werden, die Gewinne hingegen fest in der Hand der Spekulanten bleiben.

3.   Das europäische Finanzsystem

3.1   Die Banken

3.1.1   Unter den Finanzintermediären spielen die Banken eine zentrale Rolle. In einigen Ländern üben sie eine wichtige Kontrolle über die reale Wirtschaft aus und besitzen nicht nur wirt-schaftliche Macht, sondern beeinflussen auch die Entwicklung von Gebieten und Unternehmen und vervielfachen ihre Gewinnmöglichkeiten.

3.1.2   Wenngleich alle Kreditinstitute im Marktumfeld operieren und im Wesentlichen alle dieselben Dienstleistungen anbieten — von den Routineleistungen bis zu hochspezialisierten Ange-boten — haben sie doch sehr verschiedene Ursprünge, die sie bis heute kennzeichnen.

3.1.3   Neben den Handels- und Investitionsbanken, die eine Führungsposition auf dem Markt haben, sind die Sparkassen zu nennen, die sich durch Gemeinwohlorientierung auszeichnen. Sie sind entstanden, um lokalen Gemeinschaften und insbesondere ärmeren Bevölkerungskreisen in Krisenzeiten Rückhalt zu bieten. Die Bezeichnung geht auch in anderen Ländern auf die ersten Sparkassen zurück, die in Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts gegründet wurden. Vielfach handelt es sich aber auch um ältere Leihhäuser aus dem 15. Jahrhundert, die einfach ihren Namen geändert haben. Mit 160 Mio. Kunden und 980 000 Angestellten haben diese heute einen Anteil am Privatkundenmarkt von über einem Drittel. Beispiele für integrative Maßnahmen der Sparkassen sind die „Zweite Sparkasse“ in Österreich und „Parcours con-fiance“ in Frankreich.

3.1.4   In einigen abgelegenen und ländlichen Gebieten entwickelte sich die Bewegung der Raiffeisenkassen und Handwerkergenossenschaften. Ihr Gründungsvater war Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der 1864 zur Bekämpfung der Wucherei den ersten Darlehnskassenverein gründete. Die Volksbanken, die ebenfalls zu den Genossenschaftsbanken gehören, gehen zurück auf das Gedankengut von Franz Hermann SchulzeDelitzsch, der 1850 den ersten Vorschussverein (Volksbank) gründete. Aus diesen beiden Vorläufern entwickelte sich die große Bewegung der Genossenschafts- und Volksbanken, die heute in der EU mit über 140 Mio. Kunden, 47 Mio. Mitgliedern und 730 000 Angestellten über einen Marktanteil von mehr als 20 % verfügt.

3.1.5   Dieser historische Abriss verdeutlicht, dass die Zivilgesellschaft den Banken immer schon eine Rolle im Wirtschaftssystem zugewiesen hat, die sich — zumindest teilweise — von der anderer Unternehmen unterscheidet. Von ihnen wurde immer schon erwartet, dass sie — neben dem Gewinnstreben — auch ethische und soziale Zielsetzungen haben.

3.1.6   Ein wichtiges Thema, mit dem sich die Finanzbranche befassen muss, ist die möglichst breite Zugänglichkeit von Finanzdienstleistungen. Während in den Entwicklungsländern nur 20 % der Bevölkerung Zugang zu Krediten hat, liegt diese Zahl in Europa bei beruhigenden 90 %. Aber das reicht noch nicht aus, weil 10 % Opfer einer tatsächlich gravierenden Diskrimi-nierung sein können.

3.2   Die Versicherungen

3.2.1   Entstanden die ersten modernen Banken Anfang des 15. Jahrhunderts in Italien (Banco di San Giorgio, 1406), von denen einige heute noch bestehen (Monte dei Paschi di Siena, 1472), so haben die Versicherungen viel ältere Wurzeln. Die ersten Arten von Versicherungen gehen auf das 3. und 2. Jahrtausend vor Christus in China und Babylonien zurück. Die Griechen und Römer führten erstmals das Konzept der Lebens- und Gesundheitsversicherung im Rahmen von „Wohltätigkeitsvereinen“ ein, die für medizinische Behandlungen, Unterstützung für die Familie und selbst für Begräbnisse aufkamen. Die Zünfte des Mittelalters verfolgten das gleiche Ziel. In Genua wurde hingegen im 14. Jahrhundert (1347) der von einer Investition unabhängige Versicherungsvertrag erfunden, der den Erfolg von Edward Lloyd begründete. Dieser eröffnete 1688 in der Tower Street in London ein von Reedern, Händlern und Schiffskapitänen besuchtes Kaffeehaus, ein idealer Ort der Begegnung für Personen, die Schiff und Ladung versichern wollten und Personen, die sich an dem Unterfangen finanziell zu beteiligen gedachten. In den gleichen Jahren, nach dem großen Brand von London im Jahr 1666, bei dem 13 200 Häuser in Flammen aufgingen, gründete Nicholas Barbon die erste Feuerversicherung, „The Fire Office“.

3.2.2   Im Gefolge der Erfahrung Lloyds' (der im technischen Sinne keine Versicherungsgesellschaft gründete) verbreitete sich dieses Versicherungsmodell in ganz Europa, und neue Gesell-schaften entstanden. Die Entwicklung der modernen Versicherungsgesellschaften ist mit der Entstehung der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie verbunden, deren Vorläufer Pacal und de Fermat, aber auch Galileo sind. Ein weiteres Modell in diesem Bereich sind Versicherungen auf Gegenseitigkeit, die sich nicht im Eigentum von Kapitalgebern, sondern der Versicherungsnehmer — also in unmittelbarem Eigentum der Kunden selbst befinden. Im letzten Jahrhundert entstanden Versicherungsgenossenschaften, die sich in mehreren Ländern aufgrund ihres großen Angebots an Qualitätsprodukten für den gesamten Markt durchgesetzt haben. Wie die Genossenschaftsbanken und Versicherungen auf Gegenseitigkeit sind sie eng mit den lokalen Wirtschaftssystemen verbunden und tragen in erheblichem Maße zu deren Entwicklung bei, auch mittels Reinvestition eines großen Teils ihres erwirtschafteten Mehrwerts.

3.3   Ethische Banken und Versicherungen

3.3.1   Seit einigen Jahren haben ethische Banken und Versicherungen den Betrieb aufgenommen. Sie beschränken ihre Geschäftsbeziehungen und ihre finanzielle Unterstützung ausschließlich auf diejenigen Vorhaben und Betriebe, die strikten Voraussetzungen in puncto Werte entsprechen, die von der gesamten Gemeinschaft, die hinter der Gründung dieser Banken und Versicherungen stehen, geteilt werden. Beispiele für solche Werte, die für diesen Bereich paradigmatische Bezugspunkte bilden, sind: ökologische Nachhaltigkeit, eine kompromisslose Haltung gegenüber Waffengeschäften und ein beständiges Engagement gegen jede Form der Diskriminierung.

3.3.2   Die ethische Finanz und die Mikrofinanz

3.3.2.1   Unter „ethischer Finanz“ verstehen sich Aktivitäten im Finanzbereich zur Förderung menschlicher, sozialer und ökologischer Initiativen im Lichte einer ethischen und ökonomischen Beurteilung ihrer Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft mit dem primären Ziel, die betroffenen Aktivitäten finanziell zu unterstützen oder auch Mikrokredite für Einzelpersonen zu gewähren.

3.3.2.2   Die Mikrofinanz, die aus Banken besteht, die sich auf — vom traditionellen Bankensystem ausgeschlossene — ärmere Bevölkerungsgruppen und Kleinstbeträge spezialisieren, ist insbe-sondere für ihre Präsenz in der Dritten Welt bekannt. Es darf aber nicht vergessen werden, dass auch die westlichen Länder über eine bedeutsame Tradition der Kleinstersparnisse verfügen (während Kleinstkredite von marginaler Bedeutung waren, so gab es einst z. B. Pfand-leihhäuser): Beispiele für Kleinstersparnisse sind mehrjährige Anlagen mit geringem Kostenaufwand.

3.3.2.3   Ethische Finanzaktivitäten werden nach folgenden Grundsätzen durchgeführt (7):

a)

der Nichtdiskriminierung der Kreditnehmer, weder aufgrund ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Herkunft oder Religionszugehörigkeit, noch aufgrund ihres Besitzstands, gemäß der Auffassung vom Darlehen in all seinen Formen als Menschenrecht;

b)

des Erreichens der Benachteiligsten durch die Gleichstellung von Formen persönlicher, gruppenspezifischer oder gemeinschaftlicher Sicherheiten mit materiellen Sicherheitsleistungen;

c)

der Effizienz, aufgrund derer sich die ethische Finanz nicht als Wohltätigkeit, sondern als wichtige und gesellschaftlich sinnvolle Wirtschaftstätigkeit auszeichnet;

d)

der Beteiligung des Einlegers an den Entscheidungen des Unternehmens, das die Einlagen sammelt, sowohl mittels Angabe von Präferenzen für die Verwendung der Mittel, als auch durch Verfahren der demokratischen Teilhabe an den Entscheidungen;

e)

der vollständigen Transparenz und Zugänglichkeit der Informationen für alle, weshalb die Identität der Einleger bekannt sein muss und der Kunde das Recht hat, die Funktionsprinzipien des Finanzinstituts und seine Entscheidungen bezüglich Mittelverwendung und Investitionen zu kennen;

f)

der Ablehnung der Bereicherung allein auf der Grundlage des Besitzes und des Austausches von Geld. Deshalb muss der — auf der Grundlage nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch sozialer und ethischer Erwägungen ermittelte — Zinssatz so fair wie möglich sein;

g)

des Ausschlusses von Finanzbeziehungen mit jenen Akteuren und wirtschaftlichen Akti-vitäten, die die menschliche Entwicklung behindern die Grundrechte der Menschen ver-letzen, wie z. B. die Herstellung von und der Handel mit Waffen, gesundheits- und umweltschädliche Produkte sowie Aktivitäten, die auf der Ausbeutung von Jugendlichen oder der Unterdrückung der bürgerlichen Freiheitsrechte basieren.

3.3.2.4   Unter „ethischer Versicherung“ versteht sich die nach folgenden Gesichtspunkten ausgeübte Versicherungstätigkeit (8):

a)

Gegenseitigkeit, verstanden in der ursprünglichen Bedeutung von Versicherung als Mittel der Solidarität zwischen Personen, die nicht geschädigt wurden, und Personen, die geschädigt wurden und der Entschädigung bedürfen;

b)

Versicherungsfähigkeit, die als Gewährleistung des Versicherungsschutzes für jedes Individuum als Vorbeugung gegen einen eventuellen Schaden — ohne ungerechtfertigte Unterscheidungen nach Alter, eventuellen Behinderungen oder anderen sozialen Beeinträchtigungen — verstanden wird;

c)

Transparenz, die als vertragliche Klarheit und als Nachprüfbarkeit der Kriterien zur Ermittlung der Versicherungsprämie verstanden wird;

d)

Schaffung eines Nutzens für das betreffende Gebiet;

e)

Gleichberechtigung der vertragsschließenden Parteien.

3.3.3   Ethische Investitionen

3.3.3.1   Ethische Investitionen dienen der Finanzierung von Initiativen im Bereich des Umweltschutzes, der nachhaltigen Entwicklung, der Sozialdienste, der Kultur und der internationalen Zusammenarbeit. Die Auswahl der Papiere beschränkt sich nicht auf die Anwendung herkömmlicher Finanzkriterien, sondern auch auf Kriterien wie soziale Verantwortung, Qualität der Arbeitsbeziehungen, Umweltschutz und Transparenz.

4.   Die soziale Verantwortung der Unternehmen

4.1   Die GD Unternehmen und die GD Soziales der Kommission arbeiten in einigen thematischen Bereichen mit den Unternehmensverbänden zusammen. Einer dieser Bereiche ist die korrekte Unterrichtung von Anlegern und Sparern, um ihnen ein besseres Verständnis der Funktionsweise der Finanzmärkte und der verfügbaren Produkte zu ermöglichen. Bildungsinitiativen in Finanzfragen sind ein wirkungsvolles und sozial verantwortliches Mittel, damit Sparer Investitionen in Produkte, die ihren Erwartungen und Risikoprofilen nicht entsprechen, vermeiden können.

4.2   Die Teilhabe der Interessenvertreter an den CSR-Initiativen ist noch auf sehr wenige Unternehmen sowie teilweise auf Aktivitäten, die auf die Gesamtheit der Interessenvertreter abzielen, beschränkt und es gibt noch viel zu tun. Doch ganze Geschäftsbereiche wie Volksbanken, Genossenschaften, Sparkassen, genossenschaftliche Versicherungen und Versicherungen auf Gegenseitigkeit wollen die Entwicklung weiter voranbringen und optimieren.

4.3   Ein unlängst aufgetauchtes Problem betrifft die Formen der Prämien und Anreize für Topmanager und Investmentbanker: sie sollten überarbeitet, auf ein vernünftiges Maß reduziert und zu den Gewinnen und Ergebnissen der Unternehmen korrekt in Beziehung gesetzt werden. Arbeitnehmer und Verbraucher, die von der Krise betroffen sind, missbilligen die überzogenen Gehälter von Topmanagern, die zur Verschärfung ihrer Schwierigkeiten beitragen. Diese Gehälter sind häufig unabhängig vom Erfolg oder Misserfolg extrem hoch.

4.4   Die neuen Betriebsmodelle der Finanzunternehmen, die aufgrund vierteljährlicher Leistungsbewertungen auf sehr kurzfristige Gewinnmaximierung ausgerichtet sind, führen zu mitunter verantwortungslosen Verhaltensweisen, wie die jüngsten Finanzskandale in einigen Ländern der EU belegen. Die soziale Verantwortung zielt hingegen auf die Möglichkeit ab, den Gewinn im Zeitablauf konstant und dauerhaft zu halten und das materielle und immaterielle Kapital des Unternehmens aufzuwerten. Letzteres stellen im Falle der Finanzunternehmen ihre Arbeitnehmer und durch Vertrauen geprägte Beziehungen zu den Kunden dar.

4.5   Der EWSA hofft auf die verbreitete Annahme von Verhaltenskodizes, die an der sozialen Verantwortung der Unternehmen orientiert sind. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, dass solche Kodizes überprüfbar sind und überprüft werden, um die Wiederholung solcher Fälle zu vermeiden, dass Manager, die hunderttausende von Sparern betrogen haben, hervorragende Verhaltenskodizes unterschrieben und veröffentlichten, wie dies bei den schlimmsten Finanzskandalen der letzten Jahre der Fall war (9).

5.   Lokale Banken, lokale Wirtschaftsentwicklung und KMU

5.1   Die verschiedenen Typen von Banken sind Wettbewerber auf demselben Markt, die im Wesentlichen dieselbe Art von Dienstleistungen anbieten. Alle sind dem Gebot der Wirtschaftlichkeit verpflichtet. Die Aktiengesellschaften und Privatbanken sind mehr auf den Gewinn der Aktionäre ausgerichtet, die anderen Unternehmen haben mehr die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ihrer Bezugsgebiete im Blick, wobei den Problemen des Kreditzugangs von weniger wohlhabenden Kunden, der Entwicklung der KMU und der Unterstützung für sozial schwächere Gesellschaftsgruppen sowie für Gebiete in Randlage und in äußerster Randlage besondere Aufmerksamkeit zuteil wird.

5.2   Es ist zu beobachten, dass in Gebieten mit einem stärker entwickelten lokalen Bankensystem „die Wachstumsrate der lokalen Wirtschaften wesentlich höher ist“. Ferner ist zu betonen, dass lokale Banken in vielen Ländern in erster Linie als Sparkassen und als genossenschaftliche Unternehmen betrieben werden, die einen Großteil ihrer Gewinne vor Ort reinvestieren.

5.3   „Das Bankensystem trägt eine doppelte Verantwortung: auf Unternehmensebene im Sinne vermehrter betrieblicher Effizienz der Kreditinstitute, was sich nicht nur auf die Rentabilität (‚Gewinn erzielen‘), sondern auch auf die Innovationsfähigkeit und die Qualität des eingesetzten Humankapitals auswirkt; auf territorialer Ebene in der Verantwortung, zur lokalen Entwicklung beizutragen (‚Entwicklung anschieben‘), was sich nicht nur quantitativ an der Höhe der Kreditvergabe ablesen lässt, sondern auch an den Kapazitäten für Investitionen in die Auswahl der Projekte und die Bewertung der Möglichkeiten von Unternehmern und Unternehmen, was als regionale Effizienz definiert werden kann. Die betriebliche Effizienz ist in den Dienst der regionalen Effizienz zu stellen: es hat keinen Sinn, über effiziente Banken zu verfügen, wenn sie nicht zur lokalen Entwicklung beitragen“ (10).

5.4   Die KMU haben in den — auch auf europäischer Ebene organisierten — Bürgschaftsorganisationen und Garantiefonds ein sinnvolles Instrument für den erleichterten Kreditzugang ihrer Mitglieder gefunden. Sie versorgen KMU, denen die nötige, von den Banken geforderte Sicherheit fehlt, um eine stabile Geschäftsbeziehung aufzubauen, mit einfacherem Zugang zu Investitionskrediten.

6.   Die Rolle der politischen Entscheidungsträger

6.1   Der EWSA schickt voraus, dass ein dirigistischer Ansatz in diesem Bereich als falsch anzusehen ist. Denn die Erfahrung belegt, dass Initiativen mit stark sozialer und ethischer Ausrichtung am besten spontan an der Basis entstehen. Jeder aktive Eingriff läuft Gefahr, die Spontaneität — die maßgebliche Gewähr für die „Artenvielfalt“ des Wirtschafts- und Finanzsystems — zu beeinträchtigen. Gleichzeitig sollten die politischen Entscheidungsträger jedoch nach Auffassung des Ausschusses so agieren, dass bereits bestehende Initiativen oder die spontane Entstehung neuer Initiativen nicht beeinträchtigt werden.

6.2   Der EWSA fragt sich, ob als ethisch/sozial deklarierte Initiativen von Organisationen mit eindeutiger Gewinnorientierung in den Genuss von reglementarischen oder steuerlichen Vorteilen kommen dürfen. Diesbezüglich ist es sinnvoll, zwischen zwei verschiedenen Situationen zu unterscheiden.

6.2.1   Eine gewinnorientierte Organisation startet eine Initiative, die von ihren üblichen Geschäfts-aktivitäten strukturell getrennt ist (siehe z. B. den Fall der Schuldnerbetreuung „Point Passerelle“ des Crédit Agricole). In diesem Fall dürften keine Zweifel an der Zweckmäßigkeit bestehen, einen Ausgleich gegenüber der gewöhnlichen Behandlung zu gewähren.

6.2.2   Eine gewinnorientierte Organisation startet eine Initiative, die von ihren üblichen Geschäftsaktivitäten nicht strukturell getrennt ist. In diesem Falle ist es strittig, ob ein Ausgleichs-system vorgesehen werden soll. Die Befürworter eines steuerlichen, finanziellen oder reglementarischen Ausgleichs sind der Auffassung, dass dies aufgrund der von der Initiative erzielten externen Vorteile gerechtfertigt ist. Die Gegner stützen sich vor allem auf zwei Überlegungen: Nur wirtschaftlich selbsttragende Initiativen (d. h. die in der Lage sind, einen angemessenen Gewinn sicherzustellen) können auf die Dauer überleben. Ferner darf wirklich ethisch/soziales Handeln keine wirtschaftlichen Interessen verfolgen und nicht durch rechtliche, finanzielle oder steuerliche Vorteile geleitet werden. Ethisch/soziales Handeln belohnt sich nämlich von selbst: Gutes tun ist schlechthin eine Befriedigung für die so Handelnden.

6.2.3   Nach Auffassung des EWSA wird bereits in der Praxis in allen Systemen ein Ausgleich für ethisch/soziale Initiativen anerkannt. Die Steuervorschriften gestatten den Abzug von Kosten nur dann, wenn diese mit der Schaffung des Einkommens verbunden sind. Dieses Abhängigkeitsprinzip wird allerdings (natürlich innerhalb bestimmter Grenzen) außer Kraft gesetzt, wenn es sich bei den Kosten um Spenden an wohltätige Einrichtungen oder gemeinnützige Organisationen handelt. In diesem Falle ist der Abzug von dem zu versteuernden Einkommen möglich, auch wenn die Kosten nicht unmittelbar mit der Schaffung des Einkommens verbunden sind.

6.2.4   Nach Ansicht des EWSA ist der Rechtsrahmen in Bezug auf das Verhalten von juristischen und natürlichen Personen niemals neutral. Auf der Grundlage dieser Überlegungen ist der EWSA der Auffassung, dass die Schaffung eines systematischen und allgemeinen Kompensationssystems für ethisch/soziale Initiativen — in einem System, das bereits bestimmte Verhaltensweisen fördert — den Kriterien der Gerechtigkeit und der Zweckmäßigkeit des öffentlichen Handelns in Wirtschaft und Gesellschaft entspricht.

6.2.5   Gemäß dem vom EWSA vorgeschlagenen Verfahren würde der Ausgleich nicht den entsprechenden Finanzeinrichtungen direkt zukommen, sondern vielmehr ihren ethisch/so-zialen Initiativen. Der EWSA hält dies im Grunde nicht für verwerflich: Ethik und Wirtschaft können nicht unter allen Umständen voneinander getrennt und es kann nicht gefordert werden, dass nur diejenigen Aktivitäten, die keinerlei wirtschaftlichen Nutzen erbringen, auch als wirklich ethisch zu betrachten sind, denn sonst wären ethische Initiativen letztlich nur mit Wohltätigkeit oder Freigebigkeit gleichzusetzen.

7.   Finanzieller Ausgleich und Steuern

7.1   Der EWSA begrüßt diesbezügliche Initiativen. Dafür gibt es auch eine wirtschaftliche Recht-fertigung. Aus unterschiedlichen Gründen im Zusammenhang mit politischen Entscheidungen, aufgrund von Haushaltszwängen oder der Ausrichtung auf Wirtschaftlichkeit war in den letzten 10—20 Jahren ein Abbau des Sozialstaats festzustellen. Wenn ein übermäßiges Absinken des Wohlstands der Bevölkerung vermieden werden soll, darf man sich beim Streben nach finanzieller und sozialer Absicherung nicht ausschließlich auf das Wirtschaftswachstum verlassen. Vielmehr muss der Boden für Initiativen von unten bereitet werden.

7.2   Ein Beispiel für Regelungen, die eine Zusammenarbeit des öffentlichen und des privaten Sektors zur Gewährleistung weiterhin hoher Sozialstaatstandards fördern, stellt die Strukturie-rung des Bereichs der Gesundheitsversicherung in den Niederlanden dar. Auf der einen Seite sind die Versicherungen verpflichtet, allen Bürgern Versicherungsschutz zu gewähren, auf der anderen Seite können sie für größere Risiken, die sie deshalb übernehmen müssen, von der öffentlichen Hand Ausgleichsleistungen erhalten. Auf dem niederländischen Markt wurden zudem beispielhafte Initiativen entwickelt, um HIV-Positiven den Zugang zu Lebensversicherungen zu erleichtern.

7.3   Ein weiteres interessantes Beispiel ist der finanzielle Ausgleich für die Förderung des Zugangs zu den grundlegenden Finanzdienstleistungen in Belgien. Dafür wurde ein Banken-fonds für Ausgleichszahlungen an Intermediäre eingerichtet, die einen leichteren Zugang zu den Dienstleistungen bieten. Auf diese Weise zahlen die Institute mit den strikten Bedin-gungen in den Fonds ein, aus dem die weniger restriktiven Institute Mittel erhalten.

7.4   In Bezug auf Steuererleichterungen besteht bereits ein weit verbreitetes System zur Förderung von Genossenschaften, die als Hilfskassen auf Gegenseitigkeit tätig sind.

7.5   Ein Beispiel für eine Regelung, die Organisationen mit eindeutig sozialer Zielsetzung Steuererleichterungen gewährt, ist das italienische ONLUS-Gesetz („Organizzazioni Non Lucrative di Utilità Sociale“, nicht gewinnorientierte gemeinnützige Organisationen).

8.   Rechtsvorschriften

8.1   Die Regelungen gehen mit Kosten und Bestimmungen einher, die Belastungen für die Unternehmen und Intermediäre darstellen. Ein Ansatz, der die Maßnahmen in den letzten 20 Jahren anleitete, war der der „gleichen Ausgangsbedingungen“. Wenn alle vergleichbaren Akteure gleichberechtigt sind (z. B. Banken, Versicherungen usw.), dienen die Vorschriften der Steige-rung des Wettbewerbs und der Wirtschaftlichkeit. Wird dieses Prinzip jedoch zu strikt und ohne entsprechende Korrekturen angewandt, ist es ein unüberwindbares Hindernis für das Entstehen und Überleben ethischer und sozialer Initiativen. Diese Gefahr kann durch eine systematische und gezielte Anwendung des sogenannten „Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ eingedämmt werden. Diesem zufolge kann ein kleiner Intermediär mit einfachem Geschäftsbetrieb nicht der gleichen Belastung durch Vorschriften ausgesetzt werden wie ein komplexer multinationaler Konzern.

8.2   Sobald belegt werden kann, dass eine Organisation — zumindest partiell, aber auf strukturelle und dauerhafte Art und Weise — auf das Kriterium der Gewinnmaximierung verzichtet, um Initiativen ethischer oder sozialer Art zu fördern, müssen steuerliche und gesetzliche Bestimmungen greifen, die sich zumindest teilweise von der allgemeinen Regelung unterscheiden. In einigen Mitgliedstaaten werden bereits die strikt nach ethischen Grundsätzen handelnden Investoren von der Bankenrichtlinie ausgenommen. Es gilt sich dafür einzusetzen, dies in allen Mitgliedstaaten so zu handhaben.

8.3   Trotz ihrer Anerkennung im Vertrag zur Gründung der europäischen Gemeinschaft werden die Genossenschaftsbewegungen in einigen Mitgliedstaaten immer noch nicht explizit anerkannt und geschützt. Es ist notwendig, sich für eine systematische und breite Anerkennung dieses Geschäftsmodells einzusetzen.

8.4   Die Europäische Kommission kann zur Gewährleistung der Vielfalt des Angebots an Finanz-, Bank- und Versicherungsdienstleistungen beitragen, indem sie wettbewerbsverzerrende Maßnahmen der Mitgliedstaaten verhindert. Die staatlichen Beihilferegelungen sollten diese Aspekte berücksichtigen.

Brüssel, den 23. Oktober 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  A.F. Utz, Etica economica, (San Paolo), Cinisello Balsamo, 1999.

(2)  Konrad Adenauer, Memoiren 1945—1953, DVA, Stuttgart 1965.

(3)  John Kenneth Galbraith, Liberty, Happiness … and the Economy, in: The Atlantic Monthly, Juni 1967.

(4)  Luca de Biase, Economia della felicità, Feltrinelli 2007.

(5)  Quelle: UNI United Network International, Genf 2008.

(6)  Mitteilungen der Banca d'Italia, Bollettino Economico Nr. 52 April 2008.

(7)  Partizipative Demokratie: Definitionen einer vom Haushaltsressort der Region Latium/Italien in Auftrag gegebenen Untersuchung.

(8)  Ebenda.

(9)  Einer solchen Person wurde z. B. mit folgender Begründung die Ehrendoktorwürde verliehen: „Engagiert auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene bei der Führung der Unternehmensgeschäfte, wobei er sich durch Mut, Ausdauer, Erfindungsgabe, hervorragender beruflicher Qualifikation und klarer Auffassung der Sachlage auszeichnet. Sein Handeln ist von ethischen Gesichtspunkten nicht zu trennen, wobei er die — ausgesprochen wenigen — Personen Lügen straft, die davon ausgehen, dass Ethik und Wirtschaft fast unvereinbare Begriffe sind“.

(10)  Alessandrini, P. (2003), Le banche tra efficienza gestionale ed efficienza territoriale: alcune riflessioni, („Die Banken zwischen verwaltungsspezifischer und regionaler Effizienz: Einige Überlegungen“).