30.4.2009 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 100/53 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Jenseits des BIP - Messgrößen für nachhaltige Entwicklung“
2009/C 100/09
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 16./17. Januar 2008 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:
„Jenseits des BIP - Messgrößen für nachhaltige Entwicklung“.
Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz (in diesem Fall die Beobachtungsstelle für nachhaltige Entwicklung) nahm ihre Stellungnahme am 8. Oktober 2008 an. Berichterstatter war Herr SIECKER.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 448. Plenartagung am 22./23. Oktober 2008 (Sitzung vom 22. Oktober) mit 114 gegen 2 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1 Das BIP ist ein wichtiger Indikator für das wirtschaftliche Wachstum, es kann allerdings nicht als Richtschnur für eine Politik dienen, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden will. Dazu sind andere, zusätzliche Indikatoren erforderlich. Zu diesem Schluss kamen sowohl die Konferenz der Europäischen Kommission am 19./20. November 2007 in Brüssel zum Thema „Jenseits des BIP“, als auch eine am 10. Januar 2008 in Tilburg veranstaltete Konferenz unter dem Titel „Eine bequeme Wahrheit“.
1.2 Das BIP ist nützlich, um das Tempo der Wirtschaft zu ermitteln. Es gibt an, wieviel Geld insgesamt verdient wird, unabhängig davon, ob nützliche Produkte erzeugt und nützliche Dienstleistungen geboten werden oder ob dadurch den Menschen und der Umwelt Schaden zugefügt wird. In erster Linie ist so etwas wie ein Höhenmesser erforderlich, der anzeigt, wie weit wir noch von einer nachhaltigen und solidarischen Wirtschaft entfernt sind.
1.3 Da es um zwei verschiedene Dinge geht — Nachhaltigkeit und Wohlfahrt — sind eigentlich zwei Höhenmesser erforderlich. Bei der Nachhaltigkeit geht es um eine gesunde Umwelt für uns und unsere Nachkommen, um Solidarität zwischen den Generationen — sie ist eine Vorbedingung. Wohlfahrt dagegen sagt etwas über die soziale Entwicklung aus und ist eine Zielvariable. Nachhaltigkeit ist gegeben, wenn gewährleistet werden kann, dass längerfristig weltweit die Lebensführung gesichert ist. Wenn dieses Kriterium erfüllt ist, besteht kein weiterer Grund, noch mehr Nachhaltigkeit anzustreben. Bei der Wohlfahrt liegen die Dinge anders: Mehr Wohlfahrt ist immer besser als weniger Wohlfahrt, also ist es sinnvoll, nach immer mehr Wohlfahrt zu streben.
1.4 Es gibt einen Indikator, um die Nachhaltigkeit und ihre Entwicklung zu messen, nämlich den ökologischen Fußabdruck, der trotz seiner Mängel der beste zur Verfügung stehende globale Indikator für die nachhaltige Entwicklung im Umweltbereich ist.
1.5 Der ökologische Fußabdruck ist von hoher Aussagekraft und einer der wenigen, wenn nicht der einzige Indikator, bei dem die ökologischen Auswirkungen unserer Verbrauchs- und Produktionsmuster (Ein- und Ausfuhren) auf andere Länder berücksichtigt werden. Er kann weiter verfeinert oder, wenn in Zukunft eine bessere Messgröße gefunden wird, auch ersetzt werden.
1.6 Die Herausforderung besteht darin, einen Indikator für die soziale Entwicklung festzulegen, der die einzelnen Aspekte der Lebensqualität auf eine Weise misst, die ein realistisches Bild der Gegebenheiten liefert. Ein derartiger Indikator für die Lebensqualität soll im Mittelpunkt dieser Stellungnahme stehen, da es ein politisches Instrument dieser Art mit guten Funktionseigenschaften (noch) nicht gibt.
1.7 Ein praxistauglicher und wissenschaftlich zuverlässiger Indikator für die Lebensqualität deckt die im Allgemeinen als unentbehrlich für die Lebensqualität geltenden Lebensbereiche ab und genügt folgenden Kriterien:
— |
er besteht aus objektiven Faktoren, die die Leistungsfähigkeit der Menschen bestimmen; |
— |
er reagiert empfindlich auf politische Einflüsse; |
— |
die Daten sind rechtzeitig abrufbar; |
— |
er erlaubt den Vergleich zwischen den einzelnen Staaten; |
— |
er erlaubt den Vergleich zwischen verschiedenen Zeiträumen; |
— |
er ist für die breite Öffentlichkeit nachvollziehbar. |
1.8 Die folgenden sechs Bereiche werden im Allgemeinen als grundlegend für die Lebensqualität angesehen:
— |
körperliche Unversehrtheit und Gesundheit; |
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materieller Wohlstand; |
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Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen; |
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gesellschaftliche Teilhabe und Integration von Zuwanderern; |
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Freizeit; |
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Qualität des Lebensumfelds. |
Die grundlegenden, zur Messung der Entwicklung in diesen Bereichen erforderlichen Daten sind in den EU-Mitgliedstaaten verfügbar. Diese Daten müssen jedoch noch verfeinert werden (Häufigkeit, Erhebung, Verarbeitung).
1.9 Der vorstehend beschriebene Indikator ist nicht unfehlbar. Er ist auch nicht als Blaupause gedacht, sondern soll einen Beitrag zur laufenden Diskussion über dieses Thema liefern. Messen ist ein dynamischer Prozess, es werden ja schließlich die Veränderungen in einer Gesellschaft gemessen. Die Veränderungen können ihrerseits wieder den Bedarf an weiteren oder verfeinerten Indikatoren auslösen. Die Festlegung eines Indikators ist ebenfalls ein dynamischer Prozess und muss in einer demokratischen Gesellschaft die Folge eingehender Diskussionen sein.
1.10 Die Umstellung auf eine Politik, die nicht ausschließlich durch das Wirtschaftswachstum, sondern auch durch soziale und ökologische Faktoren bestimmt wird, kann zu einer nachhaltigeren und solidarischeren Wirtschaft führen. Dies ist kein kurzfristiges Unterfangen, dazu ist es zu vielschichtig. Um die Durchführbarkeit nicht zu gefährden, muss das Hauptaugenmerk auf die EU-Mitgliedstaaten gerichtet werden, eventuell unter Hinzuziehung der Kandidatenländer Kroatien und Türkei sowie einiger Staaten mit vergleichbarer wirtschaftlicher Entwicklung wie die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Neuseeland und Japan. Die großen Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung machen es unmöglich, die Entwicklungen sowohl in den Industriestaaten, als auch in den Entwicklungsländern mit nur einem Instrument, unter Einsatz nur einer Messskala zu erfassen und zu verdeutlichen.
2. Die Grenzen des BIP
2.1 Glück ist das Endziel, das alle Menschen anstreben. Die wichtigste Aufgabe des Staates besteht darin, optimale Voraussetzungen für das Streben der Menschen nach ihrem persönlichen Glück zu schaffen. Das bedeutet, dass der Staat ständig in Tuchfühlung mit der Gesellschaft bleiben muss, um zu erfahren, in welchem Zustand sie sich befindet. Messen ist Wissen — nur wenn bekannt ist, worüber in der Gesellschaft ein Gefühl der Unzufriedenheit herrscht und aus welchen Gründen man unzufrieden ist, kann versucht werden, Abhilfe zu schaffen.
2.2 Um ein Bild davon zu erhalten, wie es der Gesellschaft geht, wird in den meisten Staaten auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zurückgegriffen. Als Messinstrument eingeführt wurde das BIP im vorigen Jahrhundert nach der Weltwirtschaftskrise und dem darauf folgenden Zweiten Weltkrieg. Für die politischen Entscheidungsträger ist er die wichtigste, wenn nicht gar einzige Messgröße, um vor allem wirtschaftliche Leistungen und Aktivitäten zu messen. Es beruht auf einem international anerkannten System volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen, die auf die gleiche Weise erstellt werden. Zudem werden alle Leistungen in eine einheitliche Maßeinheit umgerechnet, und diese Maßeinheit heißt: Geld. Aus diesem Grunde ist das BIP international gut vergleichbar.
2.3 Es sagt zugleich nichts aus über das Wohlbefinden (Glück) der Menschen oder über die Frage, wie nachhaltig die Entwicklung der Gesellschaft ist. Das Pro-Kopf-BIP in den Vereinigten Staaten gehört zu den höchsten der Welt. Daraus kann indes nicht der Schluss gezogen werden, dass die Amerikaner glücklicher sind, als die Einwohner anderer Länder, und auch die Nachhaltigkeit der amerikanischen Gesellschaft ist durchaus in Frage zu stellen. Auf der ganzen Welt ist das Pro-Kopf-BIP etwas höher als vor 60 Jahren, doch hat das nicht zu einer nennenswerten Zunahme des Glücks geführt, denn zusätzlich zu den allenthalben zu hörenden Klagen, dass früher alles besser gewesen sei, leiden 2008 nicht weniger als 900 Mio. Menschen auf der Welt Hunger — so viel wie noch nie. Hunger aber macht einen Mensch jedenfalls nicht glücklich.
2.4 Die gegenwärtigen Entwicklungen in der Gesellschaft und die derzeitigen wirtschaftlichen Verhältnisse unterscheiden sich grundlegend von der Situation Mitte des vorigen Jahrhunderts. Es besteht — vor allem in den entwickelten Ländern — ein zunehmender Bedarf, auch Faktoren zu untersuchen, die nicht das Ergebnis von Markttransaktionen oder formellen wirtschaftlichen Prozessen sind. Viele dieser Aspekte und Nöte spiegeln sich im BIP nicht oder nur unzureichend wider.
2.5 Hinter einem wachsenden BIP kann sich ein beträchtlicher Verlust an Wohlfahrt und Wohlbefinden verbergen. Wenn beispielsweise ein Land hinginge und alle seine Wälder abholzen ließe, um das Holz zu verkaufen, wenn es alle Kinder arbeiten ließe, anstatt sie auf die Schule zu schicken, dann wäre dies für das BIP sehr positiv, da die wirtschaftlichen Wachstumszahlen eine Zunahme an materiellem Wohlstand erkennen lassen. Ein derartiges Vorgehen wäre jedoch in keiner Weise nachhaltig, und die Menschen, vor allem die Kinder, würden dadurch nicht glücklich(er) werden.
2.6 Auch Naturkatastrophen und politische Einbrüche können positive Auswirkungen auf das BIP haben. Der Wirbelsturm Katrina war ein Segen für das BIP des Bundesstaates Louisiana, da der Wiederaufbau gewaltige Anstrengungen und außerordentliche wirtschaftliche Aktivitäten erforderte. Gleiches gilt für das BIP einer Reihe von asiatischen und afrikanischen Ländern nach dem Tsunami sowie für das BIP nahezu aller europäischen Volkswirtschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. Abgesehen davon, dass längst nicht jeder in gleichem Maße an höherem Wohlstand teilhatte, trugen diese Katastrophen nicht gerade dazu bei, dass die Lebensumstände der Menschen sich verbesserten oder die Gesellschaft sich nachhaltiger entwickelte.
2.7 Doch auch weniger extreme Beispiele zeigen, dass das BIP als Messinstrument nicht ausreicht. Ein höherer materieller Wohlstand führt dazu, dass mehr Autos verkauft werden und das Straßennetz weiter ausgebaut wird. Dadurch steigen die Zahl der Unfälle sowie die Kosten (Ersatzteile/Reparatur der Autos, Kosten für die Versorgung von Verletzten/Invaliden, höhere Versicherungsprämien). Höherer Wohlstand kann auch zu Auswüchsen wie Waffenhandel oder zum Verkauf von Antidepressiva an Kinder führen. Alle diese Dinge tragen zu einem Anstieg des BIP bei, bringen jedoch den Menschen seinem eigentlichen Ziel, dem Glück, nicht näher. Ausnahmen sind vielleicht die wenigen, die ihr Geld mit derartigen Aktivitäten verdienen.
2.8 Die Dominanz des BIP wird vor allem dann deutlich, wenn es schrumpft: dann kommt es nämlich unmittelbar zu Panikreaktionen. Dazu besteht nicht per definitionem Anlass, denn es kann durchaus sein, dass das BIP als Folge einer positiven Entwicklung schrumpft. Wenn ein jeder morgen hingeht und seine alten Glühbirnen durch die neusten LED-Lampen ersetzt, führt dies zwar zu einmaligen hohen Ausgaben für neue Beleuchtungskörper, gleichzeitig aber auch zu einer wesentlichen Reduzierung des Energieverbrauchs — mithin zu einer Verringerung des BIP, da die Lampen im Vergleich zu traditionellen Glühbirnen nur einen Bruchteil an Elektrizität benötigen.
2.9 Das BIP ist also eine gute Messgröße, wenn es darum geht, wirtschaftliche Leistungen zu messen, doch es besteht kein direkter Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Wachstum und dem Fortschritt auf anderen Ebenen der Gesellschaft. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, sind Indikatoren erforderlich, die deutlich machen, wie es beispielsweise um die Entwicklung der sozialen und ökologischen Dimension bestellt ist.
3. Andere Wohlfahrtsindikatoren
3.1 Die Diskussion darüber, dass neben dem BIP weitere Messinstrumente erforderlich sind, erfolgt gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen. So fand neben der Konferenz „Beyond GDP — Jenseits des BIP“ der Europäischen Kommission vom 19. /20. November 2007 in Brüssel (1) am 10. Januar 2008 die Konferenz „Eine bequeme Wahrheit“ an der Universität Tilburg (2) statt. Es sind deutliche Parallelen in den Schlussfolgerungen beider Konferenzen festzustellen, deren Teilnehmer einhellig hervorheben, dass neben dem wirtschaftlichen Wachstum weitere Indikatoren erforderlich sind. Das BIP ist nützlich, um das Tempo der Wirtschaft zu ermitteln. Es gibt an, wieviel Geld verdient wird, unabhängig davon, ob nützliche Produkte erzeugt und nützliche Dienstleistungen geboten werden oder ob dadurch den Menschen und der Umwelt Schaden zugefügt wird. In erster Linie ist so etwas wie ein Höhenmesser erforderlich, der anzeigt, wie weit wir noch von einer nachhaltigen und solidarischen Wirtschaft entfernt sind. Namhafte Wirtschaftswissenschaftler wie Samuelson (3) haben sich bereits kurz nach Einführung des BIP dafür ausgesprochen, das Bruttoinlandsprodukt durch nichtmaterielle Aspekte wie Umwelt und Naturwerte zu erweitern, damit das BIP nicht auf rein wirtschaftliche Aspekte beschränkt bleibt. Diese Bemühungen haben jedoch nicht zu einer allgemein anerkannten Änderung der Definition des BIP geführt, so dass die Dominanz des traditionellen BIP bis zum heutigen Tag immer noch ungebrochen ist. Einige Wissenschaftler haben sich intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt. Ihre Ansichten werden im Folgenden kurz wiedergegeben.
3.2 Der britische Professor für Arbeitsökonomie, Richard Layard, stellt in seinem Buch „Happiness“ (4) fest, dass es dem Menschen in der westlichen Welt in den vergangenen 50 Jahren trotz eines starken Anstiegs des materiellen Wohlstands nicht gelungen ist, glücklicher zu werden. Die Ursache dafür liegt nach Layard in dem enormen Konkurrenzdruck, denn ein jeder legt es in erster Linie darauf an, mehr zu verdienen als die anderen. Diese einseitige Festlegung nur eines Ziels hat dazu geführt, dass andere Faktoren, die für das Wohlbefinden der Menschen wichtiger sind, zu kurz gekommen sind: stabile Familien, Freude an der Arbeit und Beziehungen zu Freunden und zur Gemeinschaft. Das geht aus den Statistiken über wachsende Scheidungsraten, die Zunahme von Stressfaktoren am Arbeitsplatz und höhere Kriminalitätsraten hervor. Um das Gleichgewicht wieder herzustellen, muss das Hauptaugenmerk eher darauf gerichtet werden, gleiche Chancen zum Einkommenserwerb zu bieten, als darauf, gleiches Einkommen zu erzielen.
3.3 In seiner Theorie über die Wohlfahrtsökonomie hebt der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen (5) mit besonderem Nachdruck hervor, dass es bei Wohlstand nicht um Güter geht, sondern um Aktivitäten, zu deren Ausübung die Güter angeschafft werden. Einkommen bieten den Menschen die Möglichkeit, Aktivitäten und damit sich selbst zu entfalten. Diese Möglichkeiten, von Sen „Kapazitäten“ genannt, sind auch von Faktoren wie Gesundheit und Lebensdauer abhängig. Vor allem in Entwicklungsländern sind Informationen über die Sterblichkeit von Bedeutung, da sie gute Indikatoren für soziale Ungleichheit und die Lebensqualität sind.
3.4 In ihrem neuesten Buch „Frontiers of Justice“ skizziert die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum (6) zehn soziale Mindestrechte, die grundlegend sind für ein menschenwürdiges Leben. Eine Gesellschaft, die diese Rechte und Freiheiten allen ihren Bürgern nicht bis zu einem bestimmten Niveau zu garantieren vermag, versagt ihrer Meinung nach und ist keine gänzlich gerechte Gesellschaft. Konkret geht es um die Möglichkeit, ein menschliches Leben normaler Länge zu führen, gesund zu sein, sich frei bewegen zu können, seinen Verstand zu gebrauchen, sein Herz an andere Dinge oder Menschen zu hängen, ein eigenes Verständnis über das Gute zu entwickeln, um ohne jegliche Diskriminierung mit anderen und für andere zu leben, ein Leben in Sorge um die Tiere und die Natur und in Beziehung zu ihnen zu führen, zu lachen und zu spielen, an politischen Entscheidungen teilzuhaben und in der Lage zu sein, Eigentum zu erwerben. Diese Liste ist nicht erschöpfend und kann weiter ergänzt werden.
4. Weitere Indikatoren
4.1 Es gibt verschiedene Initiativen, um neben dem BIP auch die anderen Faktoren zu messen, die wichtig sind, um sich ein Bild davon machen zu können, in welchem Zustand sich eine Gesellschaft befindet. Um einen Einblick zu erhalten, werden im Folgenden vier dieser Indikatoren aufgeführt und kurz beschrieben. Es gibt noch weitere Indikatoren, beispielsweise die Initiative des Föderalen Rates für Nachhaltige Entwicklung in Belgien (7), den kanadischen Index des Wohlbefindens (CIW) (8), das Bruttonationalglück in Bhutan (9), die Initiative QUARS in Italien (10) und die Stiglitz-Kommission in Frankreich (11), die OECD (12) hat ein weltweites Projekt ins Leben gerufen, um den Fortschritt zu messen, und auch bei Eurofound (13) sind Informationen darüber zu finden. Aus Platzgründen jedoch kann nicht auf alle diese Initiativen eingegangen werden.
4.2 Der Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index, HDI) (14) ist ein Instrument, um die Fortschritte der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Gruppen zu messen. Diese Methode wird seit 1993 vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme/UNDP) angewandt, um einen jährlichen Bericht über die Lage in den einzelnen Ländern zu erstellen. Neben dem Einkommen spielen Lebenserwartung, Alphabetisierungsrate und Bildungsniveau eine Rolle. Seit 1977 wird auch ein Armutsindex (Human Poverty Index, HPI) (15) veröffentlicht, in dem Zugang zur Bildung, zu sicheren Lebensmitteln und Wasser sowie zu Gesundheitseinrichtungen eine Rolle spielen. Der HDI basiert u.a. auf den Theorien von Sen. In den Entwicklungsländern ist der HDI zwar gut anwendbar, doch ist er leider weniger geeignet, den Fortschritt in entwickelten Ländern zu messen.
4.3 Beim Ökologischen Fußabdruck (16) geht man davon aus, dass Verbrauch umgerechnet werden kann in die Fläche, die erforderlich ist, um die konsumierten Güter zu produzieren. Auf diese Weise können die ökologischen Auswirkungen unterschiedlichen Konsumverhaltens (unterschiedliche Lebensstile) und verschiedener Bevölkerungsgruppen (Länder) miteinander verglichen werden. Pro Person stehen weltweit 1,8 Hektar Anbaufläche zur Verfügung, um den individuellen Konsum zu decken. Zur Zeit werden weltweit pro Person 2,2 Hektar gebraucht, so dass die Menschheit bereits mit großen Schritten an die Reserven der Erde geht. Die Unterschiede dabei sind jedoch sehr groß: In den Vereinigten Staaten beträgt der durchschnittliche ökologische Fußabdruck 9,6 Hektar pro Kopf, in Bangladesch 0,5 Hektar. Wenn hier keine politische Änderung stattfindet, werden diese Probleme noch zunehmen. Durch Erosion und die Ausbreitung der Wüsten verringert sich der Anteil der zur Verfügung stehenden Fläche zusehends. Durch die wachsende Weltbevölkerung müssen sich immer mehr Menschen diese geringere Fläche teilen, gleichzeitig aber wächst auch die Nachfrage, da die Menschen mit zunehmendem Wohlstand ihren Verbrauch steigern. Der ökologische Fußabdruck ist ein brauchbarer Indikator zur Messung der nachhaltigen Entwicklung. Der Nachteil besteht darin, dass er nichts über das Wohlbefinden der Menschen aussagt.
4.4 Der Index der Lebenssituation (Leefsituatie-Index) (17) bietet eine systematische Beschreibung und Analyse der Lebensbedingungen der Bevölkerung in den Niederlanden. Er wird auch „Soziale Lage in den Niederlanden“ (Sociale Staat van Nederland, SSN) genannt. Die SSN beschreibt die Entwicklungen der Lebenssituation über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren. Zu den Kriterien gehören Einkommen, Arbeit, Bildung, Gesundheit, Freizeitgestaltung, Mobilität, Kriminalität, Wohnen und Wohnumgebung. Zusätzlich zu den bereichsspezifischen Kapiteln gibt es einen zusammenfassenden Index der Lebensbedingungen. Des Weiteren werden Informationen vorgestellt, die sich auf die öffentliche Meinung über Politik und Staat beziehen. Die Untersuchung wird alle zwei Jahre vom niederländischen Sociaal Cultureel Planbureau veröffentlicht. Der Index der Lebenssituation hat in den Niederlanden nie größere Bedeutung erlangt, da er sich in erster Linie aus einem Gemisch von verschiedenartigen Elementen zusammensetzt und deswegen kein schlüssiges Bild des gesellschaftlichen Wohlbefindens liefert.
4.5 Professor Ruut Veenhoven von der Erasmus-Universität in Rotterdam beschäftigt sich bereits seit dreißig Jahren mit der Untersuchung des Glücksgefühls in der ganzen Welt. In seiner World Database of Happiness (18), der weltweiten Datenbank des Glücks, kommt er zu dem Schluss, dass die Wechselbeziehungen zwischen Geld und Glück außergewöhnlich schwach sind. Bei Menschen, die mehr Geld erhalten, ist eine kurzfristige Belebung festzustellen, doch nach einem Jahr ist dieses Extraglück verschwunden. Freiheit in der Zeitgestaltung und bei Wahlmöglichkeiten führen in der Regel zu einer tiefer empfundenen Glückserfahrung. Veenhoven unterscheidet übrigens wie auch Layard in dieser Hinsicht sehr deutlich zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern. In den Entwicklungsländern führt ein Einkommensanstieg zu einem größeren und dauerhafteren Glücksgefühl als in den entwickelten Ländern. Dieser Unterschied fällt weg, wenn das Pro-Kopf-BIP eine Einkommensgrenze von 20 000-25 000 Dollar überschreitet. Der Nachteil der World Database of Happiness besteht darin, dass sich unterschiedliche individuelle Prioritäten auf die Messung des Glücksgefühls auswirken können. Außerdem lassen sich Glückserfahrungen kaum durch die staatliche Politik beeinflussen.
5. Denkbare Anwendungen
5.1 Es gibt, vereinfacht gesagt, zwei Möglichkeiten, die vorherrschende Stellung des BIP in der Sozial- und Wirtschaftspolitik zu durchbrechen. Die erste besteht darin, neben dem BIP eine Reihe weiterer Indikatoren für die (Aspekte der) Nachhaltigkeit und des Wohlstands zu schaffen, die in der Politik den gleichen Stellenwert erhalten müssen, wie das BIP. Die zweite Möglichkeit wäre, das BIP durch einen neuen, übergeordneten Indikator zu ersetzen, in dem alle wichtigen Faktoren der Nachhaltigkeit und des Wohlstands zusammengefasst werden. Dieser neue Indikator müsste dann tonangebend in der Sozial- und Wirtschaftspolitik sein.
5.2 Die erste Möglichkeit — eine Reihe weiterer Indikatoren neben dem BIP — ist eigentlich bereits Realität, doch funktioniert sie nicht. Es gibt zahlreiche Indikatoren, mit denen die unterschiedlichen Aspekte der Nachhaltigkeit und des Wohlstands gemessen werden. Indikatoren für Demokratie, Glück und Lebenszufriedenheit, Gesundheit, Ausbildungsstand, Bildungsgrad, Meinungsfreiheit, Kriminalität, Qualität der Umwelt, CO2-Ausstoß, ökologischer Fußabdruck etc. Doch wird diesen Indikatoren weniger Gewicht beigemessen als dem BIP, das immer noch als der umfassendste und anerkannteste Indikator für den Wohlstand der Menschen gilt.
5.3 Die zweite Möglichkeit — ein umfassender Indikator anstelle des BIP — ist schwer zu bewerkstelligen, da es um zwei grundlegend verschiedene Dinge geht: Nachhaltigkeit und Wohlfahrt. Nachhaltigkeit ist eine Vorbedingung, Wohlfahrt dagegen ist eine Zielvariable. Nachhaltigkeit ist gegeben, wenn gewährleistet werden kann, dass längerfristig weltweit die Lebensführung gesichert ist. Wenn dieses Kriterium erfüllt ist, besteht kein weiterer Grund, noch mehr Nachhaltigkeit anzustreben. Bei der Wohlfahrt liegen die Dinge anders: Mehr Wohlfahrt ist immer besser als weniger Wohlfahrt, also ist es sinnvoll, nach immer mehr Wohlfahrt zu streben.
5.4 Da diese zwei grundlegend verschiedenen Dinge nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind, kommt eine dritte Möglichkeit ins Spiel: zwei Indikatoren zusätzlich zum BIP. Also ein Nachhaltigkeitsindikator und ein Indikator für die Lebensqualität. Es gibt einen Indikator, um die Nachhaltigkeit und ihre Entwicklung zu messen, nämlich den ökologischen Fußabdruck, der trotz seiner Mängel der beste zur Verfügung stehende globale Indikator für die nachhaltige Entwicklung im Umweltbereich ist. Der ökologische Fußabdruck ist von hoher Aussagekraft und einer der wenigen, wenn nicht der einzige Indikator, bei dem die ökologischen Auswirkungen unserer Verbrauchs- und Produktionsmuster (Ein- und Ausfuhren) auf andere Länder berücksichtigt werden. Er kann weiter verfeinert oder, wenn in Zukunft eine bessere Messgröße gefunden wird, auch ersetzt werden. Es gibt noch keinen gut funktionierenden Indikator für die soziale Entwicklung, der die einzelnen Aspekte der Lebensqualität auf eine Weise misst, die ein realistisches Bild der Gegebenheiten liefert. Ein derartiger Indikator für die Lebensqualität soll im Mittelpunkt dieser Stellungnahme stehen.
6. Indikator für die Lebensqualität
6.1 Ein praxistauglicher und wissenschaftlich zuverlässiger Indikator deckt die im Allgemeinen als unentbehrlich für die Lebensqualität geltenden Lebensbereiche ab und genügt folgenden Kriterien:
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er besteht aus objektiven Faktoren, die die Leistungsfähigkeit der Menschen bestimmen; |
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er reagiert empfindlich auf politische Einflüsse; |
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die Daten sind rechtzeitig abrufbar; |
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er erlaubt den Vergleich zwischen den einzelnen Staaten; |
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er erlaubt den Vergleich zwischen verschiedenen Zeiträumen; |
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er ist für die breite Öffentlichkeit nachvollziehbar. |
6.2 Die innerhalb der EU im Allgemeinen als grundlegend für die Lebensqualität angesehenen Bereiche, die diese Kriterien erfüllen, lauten wie folgt:
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Körperliche Unversehrtheit und Gesundheit. Durch diesen Indikator wird der Anteil der Bevölkerung ermittelt, der nicht physisch, sei es durch „interne“ (Krankheit, Behinderung) oder „externe“ Faktoren (Verbrechen und Gefangenschaft) daran gehindert wird, sein Leben nach den eigenen Wünschen zu gestalten. |
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Materieller Wohlstand. Hierbei handelt es sich um das standardisierte Durchschnittseinkommen in Kaufkraftparitäten, die weltweit beste Messgröße für die effektive Kaufkraft des Durchschnittsbürgers. Die Kaufkraft in verschiedenen Ländern wird durch die Korrekturparameter zur Berücksichtigung der Unterschiede im Preisniveau dieser Länder vergleichbar gemacht. |
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Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen. Anteil des BIP, der für die Gesundheitsversorgung, für Bildung, den öffentlichen Verkehr, Wohnen und Kultur aufgewendet wird. |
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Gesellschaftliche Teilhabe. Der Prozentsatz der 20- bis 65-Jährigen, die einer bezahlten Arbeit nachgehen, sowie der Prozentsatz der über 20-Jährigen, die eine ehrenamtliche Tätigkeit ausüben. In der Regel gilt die Ausübung einer Tätigkeit gegen Entgelt als eine der wichtigsten Formen der gesellschaftlichen Teilhabe und Integration. Darüber hinaus ist das Engagement in ehrenamtlichen Tätigkeiten wichtig, um soziale und gesellschaftliche Strukturen aufrechtzuerhalten. Dadurch wird die Dominanz des wirtschaftlichen Bereichs teilweise durchbrochen. Wegen der höheren Mobilität der Menschen ist es sehr wichtig, dass Zuwanderer freundlich aufgenommen werden und ihre kulturelle und soziale Integration in gewachsene Gemeinschaften gefördert wird. |
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Freizeit. Die durchschnittliche Zahl der Stunden, die 20- bis 65-Jährige nicht für den Bildungserwerb oder für bezahlte oder unbezahlte Arbeit (einschließlich Fahrtzeiten, Arbeiten im Haushalt und Pflegeaufgaben) aufwenden. Hiervon abzuziehen ist die freie Zeit in Folge unfreiwilliger Arbeitslosigkeit. Ausreichende Freizeit ist neben der bezahlten Arbeit von grundlegender Bedeutung, um das Leben den eigenen Vorstellungen entsprechend zu gestalten. |
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Qualität des Lebensumfelds. Die Größe der Naturflächen in Relation gesetzt zur Gesamtfläche des Landes sowie der Anteil der Bevölkerung, der keiner Luftverschmutzung ausgesetzt ist. Hier geht es nicht um den Anteil der Natur und Umwelt an der Nachhaltigkeit der sozioökonomischen Entwicklung (dazu gibt es den ökologischen Fußabdruck als eigenen Indikator), sondern um die Lebensqualität der Bürger. Der Indikator ist somit auf diese beiden Aspekte Natur und Umwelt beschränkt, die die Bürger unmittelbar als positiv oder negativ erfahren können. |
6.3 Diese sechs Bereiche werden in unterschiedlichen Einheiten gemessen. Um sie in einem übergreifenden Indikator zusammenfassen zu können, muss zunächst ihre Vergleichbarkeit gewährleistet sein. Am einfachsten — und auch effizientesten — geschieht dies, indem durch eine international anerkannte und vielfach verwendete statistische Methode aus jedem Teilindikator ein normalisierter Wert (Z-Wert, z-score) errechnet wird. Das ist eine Variable mit einem Mittelwert 0 und einer Standardabweichung von 1. Das bedeutet, dass etwa ein Drittel der Länder zwischen 0 und + 1 rangiert, ein Drittel zwischen 0 und - 1, ein Sechstel höher als + 1 und ein Sechstel niedriger als - 1. Der übergreifende Indikator kann dann als Mittelwert der Z-Werte für die sechs Bereiche errechnet werden.
6.4 Um zeitliche Veränderungen zu messen, können nicht jedes Jahr erneut die Z-Werte auf Grundlage des Mittelwertes und der Standardabweichung in dem jeweiligen Jahr berechnet werden. Dann wäre nämlich die durchschnittliche Lebensqualität per definitionem in jedem Jahr gleich. Aus diesem Grunde werden der Mittelwert und die Standardabweichung, wie sie im ersten Jahr der Anwendung dieses Indikators ermittelt wurden, auch bei der Berechung der Z-Werte der folgenden Jahre verwendet. Wenn der Mittelwert in einem Jahr höher ist als im Vorjahr, bedeutet dies demnach, dass die durchschnittliche Lebensqualität sich tatsächlich verbessert hat. Wenn dagegen der Mittelwert in einem Jahr niedriger ist als im Vorjahr, ist dies ein Hinweis auf eine tatsächliche Verschlechterung der durchschnittlichen Lebensqualität.
6.5 Für die breite Öffentlichkeit, die mit den mathematischen Begriffen der Statistik nicht vertraut ist, hat das Ergebnis dieser Berechnung nur wenig Aussagekraft. Um das sechste Kriterium zu erfüllen (Nachvollziehbarkeit durch die breite Öffentlichkeit), sollte auf Grundlage des statistischen Materials jedes Jahr eine Rangliste erstellt werden, so dass jeder auf Anhieb erkennen kann, auf welchem Platz sein eigenes Land im Vergleich zu anderen Ländern rangiert und wie sich sein Land im Vergleich zum Vorjahr entwickelt hat. Derartige Ranglisten sind in der Regel sehr anschaulich und können zur Verbreitung dieses Instruments beitragen und somit starke Impulse zur Verbesserung der Lebensqualität nach sich ziehen.
7. Mehr Ausgewogenheit in der Politik
7.1 Die zur Veranschaulichung der Entwicklung in diesen sechs Bereichen erforderlichen Daten sind in den EU-Mitgliedstaaten in der Regel verfügbar, wenn sie auch (noch) nicht in den gleichen Zeitabständen und in gleicher Qualität erhoben werden. Berichterstattungen über die Finanz- und Wirtschaftswelt sind seit langem schon gang und gäbe, und Informationen darüber sind täglich in Form von Börsenkursen abrufbar. Berichte über die Umwelt und die Lebensqualität sind dagegen eine verhältnismäßig junge Erscheinung, daher gibt es darüber auch viel weniger Informationen. Statistiken über die Bereiche Soziales und Umwelt sind häufig zwei bis drei Jahre alt. Eine der wichtigsten Bedingungen, um von einem vollwertigen und qualitativ hochstehenden Indikator sprechen zu können, besteht darin, die Qualität und Verfügbarkeit der Daten auf einen Nenner zu bringen. Das Fundament ist jedoch gelegt: Wenn sich die politischen Entscheidungsträger entsprechend verständigen, kann dieser Indikator im Prinzip in relativ kurzer Frist zum Einsatz gebracht werden. Einer der politisch attraktiven Faktoren eines derartigen Indikators kann darin bestehen, dass er - in der EU sicherlich in naher Zukunft - ein größeres Wachstumspotenzial aufweist als das BIP.
7.2 Messen allein reicht nicht aus, die Ergebnisse müssen in der Politikgestaltung auch Anwendung finden. Das 21. Jahrhundert konfrontiert uns mit einer Reihe von Problemen, für die es noch keine bewährten Lösungsansätze gibt, da sie verhältnismäßig neu sind. Rasches Handeln ist angesagt, da unser Planet durch fehlende strukturelle Lösungen ausgelaugt wird. Die Umstellung auf eine Politik, die nicht ausschließlich durch das Wirtschaftswachstum, sondern auch durch die nachhaltige Entwicklung auf wirtschaftlichem (Kontinuität der Wirtschaftsaktivitäten), sozialem (Menschen die Möglichkeit bieten, gesund zu leben und ein Einkommen zu erzielen; denjenigen, die dazu nicht in der Lage sind, ein ausreichendes Maß an sozialer Sicherheit gewährleisten) und ökologischem Gebiet (Bewahrung der biologischen Vielfalt, Umstellung auf Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch) bestimmt wird, können eine Reihe dringender Fragen (Beschäftigung, Ungleichheit, Ausbildung, Armut, Migration, Glück, Klimawandel, Ausbeutung der Erde) auf überschaubare Weise gelöst werden.
7.3 Der vorstehend beschriebene Indikator ist nicht unfehlbar. Er ist auch nicht als Blaupause gedacht, sondern soll einen Beitrag zur laufenden Diskussion über dieses Thema liefern. Vielleicht müssen einige der Bereiche noch ausgeweitet werden, vielleicht müssen die Kriterien, die die Bereiche erfüllen müssen, noch verfeinert werden. Ein derartiger Indikator ist nie ganz fertig. Messen ist ein dynamischer Prozess, es werden ja schließlich die Veränderungen in einer Gesellschaft gemessen. Die Veränderungen können ihrerseits wieder den Bedarf an weiteren oder verfeinerten Indikatoren auslösen. Die Festlegung eines Indikators ist ebenfalls ein dynamischer Prozess und muss in einer demokratischen Gesellschaft die Folge eingehender Diskussionen sein.
7.4 Dies ist kein kurzfristiges Unterfangen, dazu ist es zu vielschichtig. Um die Durchführbarkeit nicht zu gefährden, muss das Hauptaugenmerk auf die EU-Mitgliedstaaten gerichtet werden, eventuell unter Hinzuziehung der Kandidatenländer Kroatien und Türkei sowie einiger Staaten mit einem vergleichbaren politischen und wirtschaftlichen System wie die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Neuseeland und Japan. Die großen Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung machen es unmöglich, die Lebensqualität sowohl in den Industriestaaten, als auch in den Entwicklungsländern mit nur einem Instrument, unter Einsatz nur einer Messskala zu messen und einander gegenüberzustellen. Durch die Übereinstimmungen zwischen den politischen Systemen dieser Länder wurde der Teilindikator demokratische Freiheiten nicht zu den Bereichen gezählt, die für die Lebensqualität von entscheidender Bedeutung sind, denn demokratische Freiheiten werden in diesen Staaten als eine Selbstverständlichkeit angesehen.
7.5 Eine Politik, die nicht länger ausschließlich durch das einseitige Interesse an Wirtschaftswachstum, sondern auch durch soziale und ökologische Faktoren bestimmt wird, kann zu besseren und ausgewogeneren politischen Weichenstellungen und damit zu einer nachhaltigeren und solidarischeren Wirtschaft führen. Der Ausschuss erwartet von der Europäischen Kommission, dass sie sich in ihrem Zwischenbericht zur EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung, den sie im Juni 2009 vorlegen will, deutlich zu diesem Punkt äußert. Als Ziel des politischen Handelns könnte das europäische Sozialmodell, wie es in einer früheren Stellungnahme des EWSA (19) definiert wurde, ins Auge gefasst werden. Diesem Modell liegt die Vorstellung zugrunde, dass allen Unionsbürgern der Weg in ein demokratisches, umweltfreundliches, wettbewerbsfähiges, solidarisches, auf gesellschaftliche Integration ausgerichtetes und wohlfahrtsstaatliches Europa geebnet werden soll.
Brüssel, den 22. Oktober 2008
Der Präsident
des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Mario SEPI
(1) www.beyond-GDP.eu
(2) www.economischegroei.net
(3) Samuelson, P. (1950), „Evaluation of real national income“, Oxford Economic Papers 2, 1-29.
(4) Layard, R. (2005), Happiness: lessons from a new science, Penguin Books.
(5) Sen, A. (1985), Commodities and capabilities, Amsterdam North Holland.
(6) Nussbaum, M. (2005), Frontiers of justice, Harvard University Press.
(7) www.duurzameontwikkeling.be
(8) www.statcan.ca
(9) www.bhutanstudies.org.bt
(10) www.sbilanciamoci.org
(11) http://www.stiglitz-sen-fitoussi.fr/en/index.htm
(12) http://www.oecd.org/statsportal
(13) http://www.eurofound.europa.eu
(14) www.eurofound.europa.eu/
(15) http://hdr.undp.org/en/statistics/
(16) www.footprintnetwork.org
(17) http://hdr.undp.org/en/statistics/indices/hpi/
(18) http://worlddatabaseofhappiness.eur.nl
(19) ABl. C 309, 16. Dezember 2006, S. 119.