19.8.2008   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 211/77


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Vereinigungsfreiheit in den Mittelmeer-Partnerländern“

(2008/C 211/20)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Januar 2007 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Die Vereinigungsfreiheit in den Mittelmeer-Partnerländern“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 22. Februar 2008 an. Berichterstatter war Herr MORENO PRECIADO.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 444. Plenartagung am 22./23. April 2008 (Sitzung vom 22. April) mit 99 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Achtung der Vereinigungsfreiheit wird ausdrücklich als eine der Verpflichtungen der Staaten genannt, die im November 1995 die Barcelona-Erklärung unterzeichneten, mit der die Europa-Mittelmeer-Partnerschaft auf den Weg gebracht wurde.

Die Assoziierungsabkommen, die zwischen der EU und den einzelnen Mittelmeer-Partnerländern (1) geschlossen wurden, enthalten die Klausel: „Die Wahrung der Grundsätze der Demokratie und die Achtung der Menschenrechte […] sind wesentlicher Bestandteil dieses Abkommens“.

Die Aktionspläne, die die Europäische Union im Rahmen ihrer 2004 eingeleiteten Nachbarschaftspolitik mit den Mittelmeer-Partnerländern vereinbart, nehmen ebenfalls auf „eine gute Regierungsführung und die Förderung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten“ Bezug.

1.2

In der Praxis ist die Vereinigungsfreiheit in den Mittelmeer-Partnerländern (wenn auch in unterschiedlichem Maße) jedoch nicht gewährleistet, und die Entfaltung der Zivilgesellschaft wird durch politisch-administrative Hemmnisse, die in manchen Fällen von der Verweigerung der Erlaubnis zur Bildung einer Vereinigung bis zu deren Verbot oder vorübergehender Aufhebung reichen können, behindert.

Auch die behördlich anerkannten Vereinigungen sehen sich in ihrer normalen Arbeit behindert. Besonders gravierend sind hier die Verbote und Restriktionen, die die Behörden in Bezug auf den Zugang zu Finanzierungshilfen im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit erlassen.

1.3

Die freie Vereinigung gesellschaftlicher Gruppen der verschiedenen Bereiche der Zivilgesellschaft (Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Landwirte, Sozialwirtschaft, Frauen, Jugend, Verbraucher usw.) ist eine unerlässliche Voraussetzung für die Entwicklung der Demokratie in den Mittelmeer-Partnerländern. Die Europa-Mittelmeer-Partnerschaft, die im wirtschaftlichen Bereich durch die Assoziierungsabkommen zwischen der EU und den einzelnen Ländern fest verankert ist, muss durch soziale und demokratische Komponenten ergänzt werden. Dies macht die Einbindung der organisierten Zivilgesellschaft erforderlich.

1.4

Die Gewerkschaften stehen auf ihren einzelnen Organisationsebenen unter dem Einfluss der Politik, wodurch der Schutz der Arbeitnehmervertreter bei der Ausübung ihrer Rechte, insbesondere des Streikrechts, beeinträchtigt wird.

1.5

Als Defizite im Bereich der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerzusammenschlüsse sind der nur schwach entwickelte soziale Dialog und die soziale Konzertierung zu nennen. In den Nahostländern ist dieser zwei- oder dreiseitige Dialog weniger stark ausgeprägt als in den Maghreb-Ländern.

1.6

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die auf Demokratie-Förderung gerichteten Verpflichtungen der Partnerschaft Europa-Mittelmeer, der Assoziierungsabkommen und der Aktionspläne der Nachbarschaftspolitik einzuhalten und die betreffenden Regierungen klar darauf hinzuweisen, dass Vereinigungen nicht aufgelöst oder vorübergehend durch die Verwaltung aufgehoben werden sollen, es sei denn dies geschieht auf dem Wege eines ordnungsgemäßen Gerichtsverfahrens.

1.7

Des Weiteren sollte die Kommission nach Ansicht des EWSA Schritte unternehmen, damit die Regierungen der Mittelmeer-Partnerländer gewährleisten, dass Mitglieder und Verantwortliche von Vereinigungen nicht wegen der Ausübung rechtmäßiger Verbandsaufgaben ihrer Freiheit beraubt werden.

1.8

Der EWSA ersucht die Europäische Kommission, in die strategischen Länderberichte, die das Feld der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit im Rahmen der Aktionspläne abstecken, Angaben darüber aufzunehmen, inwieweit die Regierungen der Partnerländer die Vereinigungsfreiheit und die Menschenrechte achten.

Diese Forderung basiert auch auf dem Gemeinschaftlichen Aktionsprogramm 2005-2010 für den Mittelmeerraum, in dessen erstem Abschnitt (Politische Vereinigung und Sicherheit) folgende Hauptziele genannt werden: Förderung der Teilhabe der Bürger, Stärkung der Partizipation der Frau, bessere Gewährleistung der Meinungs- und der Vereinigungsfreiheit, Förderung der Rolle der Zivilgesellschaft und Umsetzung internationaler Übereinkommen.

1.9

Darüber hinaus sollte die Europäische Kommission auf die Einbeziehung der Zivilgesellschaft der Mittelmeer-Partnerländer in die Durchführung der Assoziierungsabkommen und Aktionspläne drängen.

1.10

Der EWSA wird der Parlamentarischen Versammlung Europa-Mittelmeer, in der er den Status eines Beobachters hat, vorschlagen, dass die Volksvertretungen der Partnerländer auf die Notwendigkeit hingewiesen werden, alle Rechtsvorschriften zu ändern, die die Vereinigungsfreiheit einschränken.

1.11

Der Ausschuss kann (in Zusammenarbeit mit den im Europa-Mittelmeer-Raum bestehenden Netzen der Arbeitgeber, der Gewerkschaften, der Sozialwirtschaft und anderer) regelmäßig detaillierte Berichte über die Situation im Hinblick auf die Vereinigungsfreiheit und die Menschenrechte in den Mittelmeer-Partnerländern erstellen, die er der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament übermitteln wird. Die vorliegende Stellungnahme soll auf dem kommenden Gipfeltreffen der Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbaren Einrichtungen 2008 in Marokko erörtert werden. Die im Rahmen dieses Gipfeltreffens gesammelten Beiträge und Informationen werden zu dieser Weiterbehandlung beitragen.

1.12

Der Ausschuss wird sich auch weiterhin dafür einsetzen, dass in den Mittelmeer-Partnerländern offizielle Organe (Wirtschafts- und Sozialräte oder vergleichbare Einrichtungen) für die Konsultation der Zivilgesellschaft gebildet und die im Libanon und in Jordanien bereits vorhandenen Einrichtungen wieder in Tätigkeit gesetzt werden. Außerdem wird er empfehlen, dass sich diese Organe aus repräsentativen Organisationen der verschiedenen Gesellschaftsbereiche zusammensetzen und sie über die nötigen Mittel verfügen sollten, die ihnen ein unabhängiges, wirkungsvolles Handeln ermöglichen.

1.13

Der Ausschuss unterstreicht, anknüpfend an die wichtigen Empfehlungen in seiner Stellungnahme zur „Förderung des Unternehmergeistes der Frauen im Europa-Mittelmeerraum“ (2), nochmals die Notwendigkeit, die Stellung der Frau in der Gesellschaft und insbesondere ihre Mitwirkung an Vereinigungen in den Partnerländern zu fördern.

In dieser Hinsicht hebt er ebenfalls die Bedeutung der Schlussfolgerungen der Euromed-Ministerkonferenz (3) hervor, in denen eine stärkere Vertretung und Mitwirkung von Frauen in wirtschaftlichen Beschlussfassungsorganen, insbesondere in Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und anderen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisationen, angemahnt wird.

1.14

Der EWSA wird das Zusammentreffen und den Dialog von Arbeitgebervereinigungen (UMCE) und Gewerkschaftsorganisationen (Gewerkschaftsforum) und ihre Entwicklung sowie die anderer Netze und Organisationen der Zivilgesellschaft im Raum Europa-Mittelmeer, wie z.B. des Europa-Mittelmeer-Netzes der Sozialwirtschaft (ESMED) oder der Frauenorganisationen, fördern.

2.   Grundlagen der Vereinigungsfreiheit im Hinblick auf die Verwirklichung der auf Demokratieförderung gerichteten Ziele des Barcelona-Prozesses

2.1

Die Notwendigkeit dieser Stellungnahme ergibt sich aus den Defiziten, die in den Schlussfolgerungen des ersten Euromed-Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs im November 2005 in Bezug auf die Rolle der Zivilgesellschaft festgestellt wurden, und ebenfalls aus dem Wunsch einer Weiterentwicklung der Schlusserklärungen der letzten Europa-Mittelmeer-Gipfeltreffen der Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbaren Einrichtungen (Amman, November 2005; Ljubljana, November 2006; Athen, Oktober 2007). Mit dieser Initiativstellungnahme will der Ausschuss dazu beitragen, dass das Vereinigungsrecht in den südlichen Mittelmeer-Partnerländern uneingeschränkt wahrgenommen werden kann.

2.2

Zu den Verpflichtungen, die die Unterzeichnerstaaten der Erklärung von Barcelona eingegangen sind, zählen insbesondere:

Das Handeln im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie mit sonstigen Verpflichtungen des Völkerrechts, insbesondere denen, die sich aus regionalen und internationalen Übereinkommen ergeben, die sie unterzeichnet haben.

Die Entwicklung des Rechtsstaats und der Demokratie in ihrer politischen Ordnung unter gleichzeitiger Anerkennung des Rechts jedes Staates, seine politische, soziokulturelle, wirtschaftliche und gerichtliche Ordnung selbst frei zu bestimmen und zu gestalten.

Die Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten und Gewährleistung der effektiven und legitimen Ausübung dieser Rechte und Freiheiten, einschließlich der Meinungsfreiheit, der Vereinigungsfreiheit zu friedlichen Zwecken und der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit des Einzelnen sowie unter den Mitgliedern einer Gruppe ohne Diskriminierung aus Gründen der Rasse, der Staatszugehörigkeit, der Sprache, der Religion oder des Geschlechts.

2.3

Das erste Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs Europa-Mittelmeer 2005 in Barcelona, das zur Bewertung der ersten zehn Jahre des Euromed-Prozesses einberufen worden war, wurde allgemein positiv beurteilt, weil es gegenüber der Erklärung von 1995 Fortschritte brachte und neue Bestimmungen hinsichtlich der Entwicklung der Rolle der Zivilgesellschaft enthielt. Fragen der Demokratie und der Menschenrechte waren aber nach wie vor ein Bereich, über den auf dem Gipfel ernste Besorgnis zum Ausdruck gebracht wurde.

2.4

Aus diesem Grund wurde auf dem Gipfeltreffen 2005 die Verpflichtung eingegangen, den politischen Pluralismus und die politische Partizipation auf alle Bürger, insbesondere Frauen und junge Leute, auszuweiten und einen konkurrenzfähigen politischen Rahmen, einschließlich fairer und freier Wahlen, sowie Schritte hin zu einer Dezentralisierung und einer verantwortungsvollen Staatsführung zu fördern.

2.5

Die Europäische Kommission hat indirekt die geringen Fortschritte in der Frage der Menschenrechte eingeräumt. In einer Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament (4) nannte sie unter den drei vorrangigen Themen, die für den Mittelmeerraum und auch für die Intensivierung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den Partnerländern vorrangig sind, als erstes Ziel die „Förderung von Menschenrechten und Demokratie“. Der EWSA teilt diese Ansicht der Kommission und hält es für unerlässlich, die Demokratisierungsprozesse in den Mittelmeer-Partnerländern zu öffnen und zu stärken.

2.6

Eine der Hauptempfehlungen des Berichts Nr. 2004 (5) des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) ist ein schrittweiser Übergang zu einer durch eine höhere Repräsentativität gekennzeichneten Regierungsführung, dessen erste Etappe es sein müsse, die Kräfte der Zivilgesellschaft freizusetzen und die Ausübung der drei Grundfreiheiten -Meinungsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit — zu ermöglichen.

Aus diesem Grund und um die Mitwirkung der Frauen an allen Aspekten des öffentlichen Lebens der Mittelmeer-Partnerländer zu fördern, sind Gesetzesänderungen notwendig, insbesondere der Vorschriften über den „personenstandsrechtlichen Status“, die es ihnen ermöglichen, in Ausübung der Grundfreiheiten freie Entscheidungen zu treffen.

2.7

In den Schlusserklärungen der letzten beiden Gipfeltreffen der Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbaren Einrichtungen wurden Gesichtspunkte angesprochen, die das Kernthema dieser Initiativstellungnahme betreffen.

2.8

Auf der Tagung 2006 in Ljubljana wurde die Notwendigkeit unterstrichen, den Dialog und die Kooperation zwischen Regierungen und nichtstaatlichen Organisationen, insbesondere Frauen- und Jugendorganisationen und berufsständischen Vereinigungen, im Europa-Mittelmeer-Gebiet zu stärken. In dieser Hinsicht enthielt die Schlusserklärung den Vorschlag, dass der slowenische Ratsvorsitz der Europäischen Union (im ersten Halbjahr 2008) eine Dreierkonferenz zu den Fortschritten im Bereich des sozialen Dialogs organisieren solle.

2.9

Die Schlusserklärung des jüngsten Gipfeltreffens der Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbaren Einrichtungen am 15./16. Oktober 2007 in Athen enthält mehrere wichtige Verweise: a) das Ersuchen um eine regelmäßige Einbindung der Zivilgesellschaft in die Ausarbeitung und Anwendung der nationalen Aktionspläne, für die die WSR (und vergleichbaren Einrichtungen) als Medium vorgeschlagen werden; b) die Forderung nach Ressourcen, Unterstützung und Anerkennung für die WSR, damit sie unabhängig auftreten können, sowie die Zusage der WSR, sich Vertretern der Zivilgesellschaft, die ihnen nicht angehören, zu öffnen; c) die ausdrückliche Forderung in Ziffer 12 nach Achtung der Vereinigungsfreiheit zur Ermöglichung eines Dialogs der Zivilgesellschaft.

3.   Situation in den Mittelmeer-Partnerländern im Hinblick auf die Vereinigungsfreiheit

3.1

Die Sicherheit und das Bemühen um Frieden sind grundlegend für die Schaffung eines Umfelds, in dem sich ein Demokratisierungsprozess in allen Mittelmeer-Partnerländern entfalten kann.

Die dramatische Situation in den Palästinensischen Gebieten, der Irak-Krieg und die Zunahme von Extremismus und Terrorismus haben sehr nachteilige Folgen für die Entwicklung der Freiheiten. Einige Regierungen haben die Gefahr oder Bedrohung von außen als Rechtfertigung für eine Verzögerung der Demokratisierungsreformen genommen. Diese Situation hat in einigen Ländern einen Rückschritt in Bezug auf die Freiheiten des Einzelnen und das Vereinigungsrecht bewirkt.

3.2

Die Gewährleistung der Ausübung der Grundrechte ist unbestritten eine unabdingbare Voraussetzung für die Verwirklichung der zugesagten Demokratisierungsvorhaben. Die Vereinigungsfreiheit und die Förderung und Entwicklung der Vereinigungen dienen den Interessen der verschiedenen Sektoren und sind der Schlüssel zur Entwicklung der Europa-Mittelmeer-Partnerschaft und insbesondere der Beteiligung der Zivilgesellschaft und ihrer einzelnen Gruppen daran.

3.3

Hier ist die Feststellung angebracht, dass das Recht auf Vereinigungsfreiheit das Recht einschließt, Gruppen, Vereinigungen und Gesellschaften unterschiedlichster Art zu bilden, ihnen beizutreten oder sich ihnen anzuschließen und aus ihnen auszutreten. Dazu gehört auch, dass der Staat in die Bildung und in die Geschäfte rechtmäßig tätiger Vereinigungen nicht eingreifen darf. Außerdem verlangt es danach, dass der Staat die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Umfelds unterstützt, das die Ausübung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit begünstigt.

3.4

Das Vereinigungsrecht kann nicht losgelöst von den anderen bürgerlichen und politischen Rechten gesehen werden, wie der Meinungsfreiheit und der Freiheit der Meinungsäußerung sowie dem Recht auf Freizügigkeit und dem Recht auf Asyl. Die volle Entfaltung der Zivilgesellschaft kann ihrerseits zur Schaffung bzw. Festigung pluralistischerer politischer Systeme beitragen.

3.5

In den meisten Mittelmeer-Partnerländern gibt es eine Kluft zwischen den von den Regierungen geschlossenen internationalen Übereinkommen (die das Recht auf Vereinigungsfreiheit garantieren) und dem nationalen Recht sowie zwischen den beiden Rechtswelten und der Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen. Es gibt nur wenige Staaten, in denen die Bildung von Vereinigungen und deren Tätigkeitsausübung nicht auf die eine oder andere Weise zu dem Zweck oder unter dem Deckmantel der Wahrung der nationalen Sicherheit oder Einheit eingeschränkt wird.

3.6

Unter dem Vorwand, reglementieren zu wollen, wird das Recht auf Streik, Versammlung, Kundgebung oder Bildung von Vereinigungen gesetzlich beschnitten (und gelegentlich sogar außer Kraft gesetzt). Die starke Bündelung der Macht in der Exekutive, die ein allgemeines Merkmal der politischen Systeme in den Partnerländern ist, wirkt sich in Form einer übermäßigen Kontrolle der Vereinigungen aus.

3.7

Die Machthaber haben drei Wege, den Vereinigungen zu begegnen: mit Toleranz, Kontrolle oder Repression (oder einer Mischung davon). In manchen Staaten besteht ein akzeptables Maß an Vereinigungsfreiheit, die nur punktuell und in bestimmten Fällen begrenzt wird; in anderen Ländern ist die Tätigkeit unabhängiger Vereinigungen zugelassen, doch hält man sie durch administrative und finanzielle Kontrolle im Griff; in wiederum anderen Ländern sind nur regierungsfreundliche Vereinigungen erlaubt.

3.8

Einmischung und Kontrolle beeinträchtigen Vereinigungen in den einzelnen Phasen ihres Bestehens, vom Moment ihrer Entstehung bis zu ihrer Auflösung. In Ländern, in denen die Bildung von Vereinigungen selektiv zugelassen wird oder eine Ermessenssache ist, sind diese Vereinigungen oftmals regierungsnahen Mitgliedern vorbehalten und damit in der Regel eine Quelle von Korruption. Wenn sie willkürlich aufgelöst werden können, agieren die Vereinigungen zaghaft und setzen nicht alle ihre Anliegen und Möglichkeiten um.

3.9

Es gibt drei Arten von Vereinigungen, die aus unterschiedlichen Gründen einer besonderen Beaufsichtigung unterliegen. Zum einen sind dies die islamistisch-fundamentalistischen Vereinigungen, aus Angst, dass sie einem politisch extremen Islamismus den Boden bereiten, der in einigen Staaten zur Hauptkraft der legalen oder illegalen Opposition geworden ist. Zum anderen gehören die Menschenrechtsorganisationen dazu, weil sie zum Teil ebenfalls Bevölkerungskreise ansprechen, die eine politische Alternative wollen. Des Weiteren sind die Gewerkschaften davon betroffen, weil es sich bei ihnen bisweilen um Massenorganisationen handelt, die sich der Wirtschafts- und Sozialpolitik eines Landes entgegenstellen können, und weil sie enge Verbindungen zu internationalen Organisationen und Institutionen unterhalten.

3.10

Auch in Anbetracht der genannten Einschränkungen ist zu sagen, dass nicht in allen Partnerländern das gleiche Maß an Freiheiten, bezogen auf das Vereinigungsrecht, besteht. In vielen Partnerländern ist die Möglichkeit gegeben, und sei es auch unter Schwierigkeiten, eigenständige Organisationen von Arbeitnehmern, Selbstständigen, Arbeitgebern, Frauen, Jugendlichen, Landwirten usw. aufzubauen.

4.   Situation und Merkmale der wichtigsten Organisationen in den Mittelmeer-Partnerländern

4.1

Die üblichen Organisationen von Arbeitnehmern, Landwirten, Unternehmern der Sozialwirtschaft und verschiedenen anderen Bereichen sind — mit den angedeuteten Einschränkungen — in allen Ländern vertreten, weisen allerdings eine relativ geringe Organisationsstärke auf.

4.2

Daneben gibt es Vereinigungen karitativer Art und im Bereich der sozialen Hilfe, die sich um benachteiligte Bevölkerungsgruppen kümmern und Dienste vor allem auf gemeinschaftlicher, religiöser, regionaler, stammesbezogener oder familiärer Ebene anbieten. Bisweilen sind aus diesen Vereinigungen richtige organisierte Sozialdienste geworden.

4.3

Später, in den neunziger Jahren, bildeten sich andere Formen von Vereinigungen mit umweltschützerischen und kulturellen Zielen, die sich mit impulsgebenden Anregungen oder auch Aktionsvorschlägen in öffentlichen bzw. staatlichen Arbeiten engagieren und sich nicht darauf beschränken wollten, Defizite des Staates auszubügeln. Diese neuen Vereinigungen stoßen bei den Behörden und politischen Organen oft auf Argwohn und Zurückweisung.

4.4

Eine weitere wichtige Gruppe von Vereinigungen engagiert sich auf Gebieten, die mit den Menschenrechten, den Rechten der Frau, dem Schutz von Minderheiten und der Förderung der Demokratie im Allgemeinen zusammenhängen.

4.5

Die Lage im Bereich der Arbeitswelt und der Arbeitsbeziehungen in den Mittelmeer-Partnerländern wurde auf dem letzten Gipfeltreffen der Wirtschafts- und Sozialräte in einem Gemeinsamen Bericht, den der spanische WSR vorlegte, eingehend erörtert; einige der Schlussfolgerungen des Berichts sind in den folgenden vier Absätzen wiedergegeben.

4.6

Der Grundsatz der Vereinigungsfreiheit ist in den Verfassungen der Mittelmeer-Partnerländer festgeschrieben. In den vergangenen Jahren gab es Fortschritte bei der Ratifizierung der grundlegenden Sozialübereinkommen der ILO. Von der Umsetzung in nationales Recht kann jedoch nicht das Gleiche behauptet werden. Beim Ausschuss für Vereinigungsfreiheit der ILO, dessen Aufgabe es ist, Klagen von Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden gegen ihre jeweilige Regierung wegen Verletzungen der Vereinigungsfreiheit zu prüfen, gingen mehrere Klagen aus den Mittelmeer-Partnerländern ein, eine recht hohe Zahl davon in Marokko und der Türkei (6).

4.7

Die Art der gewerkschaftlichen Organisation ist von Land zu Land unterschiedlich. In einigen gibt es eine Pflichtgewerkschaft (Monopol) und in anderen ist die Zugehörigkeit zur einzigen Gewerkschaft freiwillig (Einheitsgewerkschaft), während in vielen Ländern gewerkschaftlicher Pluralismus herrscht. Außerdem ist allgemein eine starke funktionale Abhängigkeit der gewerkschaftlichen Organisationen von den politischen Organen festzustellen.

4.8

Die Repräsentativität sowohl der Gewerkschaften als auch der Arbeitgeberverbände ist hingegen durch das Fehlen klarer Gesetze mit genauen Bestimmungen gekennzeichnet, wodurch die politischen Organe über einen weiten Handlungsspielraum verfügen.

4.9

Die meisten Gewerkschaften der Mittelmeer-Partnerländer haben sich internationalen Verbänden angeschlossen und koordinieren ihre Arbeit mit den europäischen Gewerkschaften durch das Gewerkschaftsforum Europa-Mittelmeer, dem folgende Organisationen angehören: der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB), der Internationale Bund arabischer Gewerkschaften (CISA) und der Gewerkschaftsbund der Arbeitnehmer der arabischen Maghreb-Staaten (USTMA). Zu seinen Zielen gehören die Entwicklung der Nord-Süd-Zusammenarbeit und die Wahrung und Förderung der Interessen der Arbeitnehmer im Rahmen des Barcelona-Prozesses.

4.10

Arbeitgebervereinigungen sind in allen Mittelmeer-Partnerländern weit verbreitet und unterliegen bei der Ausübung ihrer Repräsentationsfunktion im Allgemeinen nicht in gleichem Maße gesetzlichen, politischen oder administrativen Einschränkungen. Normalerweise sind die Arbeitgebervereinigungen nach Branchen organisiert, mehr und mehr entstehen jedoch in den meisten Ländern auch branchenübergreifende Verbände. Neben den Arbeitgebervereinigungen muss auch auf die wichtige Rolle hingewiesen werden, die die Handelskammern in den Mittelmeer-Partnerländern spielen.

Bei den Arbeitgebervereinigungen besteht eine größere Organisationsvielfalt als bei den Gewerkschaften. Die Vereinigungen eines Landes können sich zu einem einzigen Unternehmerverband zusammenschließen, wie es z.B. in Tunesien mit der UTICA (7) der Fall ist, die alle Wirtschaftszweige außer der Landwirtschaft umfasst, während es in anderen Ländern mehrere Dachverbände gibt, so zum Beispiel drei in Marokko (8).

4.11

Unternehmensverbände aus elf Partnerländern und Malta (9) haben die Vereinigung der Unternehmerverbände im Mittelmeerraum (UMCE) mit Sitz in Tunis gegründet, zu deren Zielen die institutionalisierte Konzertierung unter den berufsständischen Organisationen und die Mitwirkung an der Schaffung einer Freihandelszone Europa-Mittelmeer gehört.

4.12

In der Sozialwirtschaft mit ihren verschiedenen Formen (Genossenschaften, Gesellschaften auf Gegenseitigkeit, Entwicklungsorganisationen) ist ein großer Teil der Bevölkerung der Mittelmeer-Partnerländer beschäftigt. Sie hat eine wichtige Funktion für das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung, insbesondere in KMU und Kleinstbetrieben. Außerdem spielen diese Organisationen eine wichtige Rolle als Sozialdienstleister.

4.13

Die Vereinigungen im Bereich der Sozialwirtschaft sehen sich im Allgemeinen keinen politisch motivierten Restriktionen gegenüber, unterliegen jedoch auch einigen der Kontrollen von Seiten der Behörden, die für andere Sektoren genannt wurden. Eine starke Stellung unter diesen Vereinigungen haben insbesondere die Agrargenossenschaften in Ländern wie Marokko, den Palästinensischen Gebieten, der Türkei, Ägypten und Israel.

4.14

Die Vereinigungen in den verschiedenen Bereichen: Sozialpartner und Berufsverbände, Umweltschutzorganisationen, Familien- und Verbraucherverbände, sozialwirtschaftliche Verbände usw. versuchen, sich aktiv an der Umsetzung der Assoziierungs- und Nachbarschaftspolitik zu beteiligen, wie der EWSA jüngst in einem Informationsbericht (10) betonte.

4.15

Im Jahr 2000 wurde in Madrid das Netzwerk der Sozialwirtschaft im Europa-Mittelmeer-Raum (ESMED) gegründet, an dem gegenwärtig Organisationen aus Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, Marokko und Tunesien beteiligt sind. ESMED hat an verschiedenen Arbeiten und Foren des EWSA und der Europa-Mittelmeer-Partnerschaft mitgewirkt.

4.16

Trotz ähnlicher Schwierigkeiten, wie sie bereits für andere Gruppen beschrieben wurden, spielen nichtstaatliche Organisationen und andere Vereinigungen mit sozialen Zielsetzungen ebenfalls eine wichtige Rolle, insbesondere bei der Verteidigung der Menschenrechte. Ihre Arbeit kommt auch bei der Verwirklichung der Ziele des Barcelona-Prozesses sehr deutlich zum Tragen. Der 2005 gegründeten Nichtstaatlichen Euromed-Plattform haben sich zahlreiche Netze und nichtstaatliche Organisationen, darunter auch das „Euro-Mediterranean Human Rights Network“, angeschlossen.

Brüssel, den 22. April 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


(1)  Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, Jordanien, Israel, Palästinensische Gebiete, Libanon, Syrien, Türkei, Mauretanien und Albanien (seit Dezember 2007 sind Mauretanien und Albanien Teil des Barcelona-Prozesses).

(2)  REX/233, CESE 1004/2007.

(3)  Istanbul, 14./15. Dezember 2006.

(4)  Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament „10. Jahrestag der Partnerschaft Europa-Mittelmeer — Ein Arbeitsprogramm für die Herausforderungen der nächsten fünf Jahre“ vom 12. April 2005 (KOM(2005 139 endg.).

(5)  Bericht über die menschliche Entwicklung in der arabischen Welt, UNDP, April 2005.

(6)  Zurzeit wird das Thema der gewerkschaftlichen Rechte in der Türkei von dem Gemischten Beratenden Ausschuss EU/Türkei behandelt.

(7)  Tunesischer Verband der Industrie, des Handels und des Handwerks.

(8)  Marokkanischer Bauernverband, Allgemeiner Industrie- und Handelsverband, Allgemeiner Verband marokkanischer Unternehmen.

(9)  Ägypten: FEI, Algerien: CGEA, Israel: MAI, Jordanien: JCI, Libanon: ALI, Malta: MFOI, Marokko: CGEM, Palästinensische Gebiete: PFI, Syrien: FSCC-CCI, Tunesien: UTICA, Türkei: TUSIAD-TISK, Zypern: OEB.

(10)  REX/223, CESE 504/2007, „Die Beteiligung der Zivilgesellschaft auf lokaler Ebene an der Umsetzung der Aktionspläne für die Europäische Nachbarschaftspolitik im Hinblick auf eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung“.