19.8.2008   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 211/17


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Hin zu einer gemeinsamen Energiepolitik“

(2008/C 211/05)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 27. September 2007 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Hin zu einer gemeinsamen Energiepolitik“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 4. April 2008 an. Berichterstatter war Herr BUFFETAUT.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 444. Plenartagung am 22./23. April 2008 (Sitzung vom 23. April) mit 173 Ja-Stimmen bei 13 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Frage der Energieversorgung, der Diversifizierung der Energieträger sowie der Entwicklung nachhaltiger Energieträger ist von grundlegender Bedeutung für die Zukunft Europas, das globale Gleichgewicht und die Bekämpfung des Klimawandels.

1.2

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist der Ansicht, dass die Europäische Union ein geeigneter Rahmen ist, um sich in der aus dem Energie-Wettlauf entstandenen weltweiten Konfrontation Gehör zu verschaffen und den Klimawandel anzugehen, da sie über die erforderliche „kritische Masse“ verfügt, um in internationalen Verhandlungen echten politischen Einfluss ausüben zu können.

1.3

Der Ausschuss nimmt mit Zufriedenheit die Einführung eines neuen Titels XX „Energie“ im Vertrag von Lissabon zur Kenntnis, mit dem die Rechtsgrundlage für ein Handeln der Europäischen Union in diesem Bereich gestärkt wird.

1.4

Der Ausschuss betont die grundlegende Bedeutung von Forschung und Entwicklung im Bereich nachhaltige Energie und Umwelt sowie einer guten Mittelzuweisungspraxis. Die Förderung von Energieträgern sowie Energie- und Emissionsminderungstechnologien, von denen nicht zu erwarten steht, dass sie Wirtschaftlichkeit erreichen, sollten sorgfältig geprüft werden, um keine öffentlichen Gelder für die Förderung von Technologien ohne jedwede Zukunftsperspektive zu verschwenden. Mit diesen Mitteln sollte vielmehr die Erforschung von Techniken finanziert werden, die von den Wissenschaftlern als zukunftsträchtig erachtetet werden, beispielsweise in folgenden Bereichen: Emissionsminderung bzw. Speicherung von Treibhausgasen, Energieeffizienz, „saubere Kohle“, Elektro- bzw. sonstige alternative Antriebe bei Fahrzeugen, Brennstoffzellen, Solarenergie, Energiegewinnung aus Abfällen, Kernfusion und Entsorgung radioaktiver Abfälle.

1.5

Der Ausschuss verweist ferner auf die Bedeutung energieeffizienter Geräte und Gebäude.

1.6

Auf europäischer Ebene sollte eine echte „Beschaffungspolitik“ auf den Weg gebracht werden, um dem Druck der oftmals bestens organisierten Erzeuger entgegenzuhalten. Außerdem bedarf es auf EU-Ebene einer Koordinierung der Energiepolitiken der EU-Mitgliedstaaten sowie der in internationalen Organisationen wie WTO, UNO, NATO und OSZE vertretenen Standpunkte.

1.7

Der Ausschuss unterstreicht die Bedeutung der Diversifizierung der Energieträger und empfiehlt, eine konstruktive, aber vorsichtige Vorgehensweise für die Partnerschaften mit Russland sowie den kaukasischen und zentralasiatischen Republiken.

1.8

Seiner Meinung nach wäre es sinnvoll, die Möglichkeit einer Neuauflage der Kernenergieprogramme in den Mitgliedstaaten, in denen ein Konsens in dieser Frage besteht, zu untersuchen und die Forschung im Bereich der Wiederaufbereitung von Abfällen zu intensivieren. Der Ausschuss spricht sich ferner für eine Intensivierung der Fusionsforschung im 7. Forschungsrahmenprogramm für Euratom und im Rahmen des ITER-Projekts aus.

1.9

Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass die EU-Mitgliedstaaten ihre Zusammenarbeit und Koordinierung im Bereich Energiepolitik im Hinblick auf eine größere Repräsentativität und Handlungsfähigkeit in internationalen Organisationen verstärken und die Nachbarschaftspolitik im Energiesektor ausbauen müssen. Außerdem sollte zu gegebener Zeit die Konzipierung einer gemeinsamen Energiepolitik, die sich möglicherweise auf eigene Institutionen stützt, in Betracht gezogen werden. Die wirtschaftliche Dynamik, die den Bereich der erneuerbaren Energieträger in allen Mitgliedstaaten kennzeichnet, zeugt vom Interesse der Bürger. Dies könnte strategisch genutzt werden, um die Akzeptanz und Entwicklung der ebenfalls neuen, im Vertrag von Lissabon formulierten gemeinsamen Politik sicherzustellen.

2.   Einleitung: Die Beweggründe für eine europäische Energiepolitik

2.1   Eine schwierige geostrategische Lage

2.1.1

Laut Prognosen der Internationalen Energieagentur (IEA) ist bis 2030 mit einem Anstieg der weltweiten Energienachfrage um 55 % zu rechnen.

2.1.2

Die Europäische Union ihrerseits ist weitgehend von festen fossilen Brennstoffen, Erdölerzeugnissen und Erdgas abhängig. Diese Abhängigkeit wird in den kommenden Jahren wohl noch zunehmen. Da die EU zu 80 % von fossilen Brennstoffen abhängig ist, werden die Energieeinfuhren bis 2030 wahrscheinlich von 50 auf 70 % steigen.

2.1.3

Die nachgewiesenen Erdölreserven dürften nur bis 2050 ausreichen, wobei allerdings andere, bislang ungenutzte Energiequellen in der Zukunft aufgrund der steigenden Nachfrage und des technologischen Fortschritts wirtschaftlich nutzbar werden.

2.1.4

Die Umstellung auf andere Energieträger ist unvermeidlich, auch wenn sie kein Leichtes sein wird. Die Welt hat aber schon einmal derartige Umwälzungen erlebt, insbesondere im 19. Jahrhundert, als die Brennstoffe aus Biomasse (in erster Linie Holz) durch Kohle und später dann durch Erdöl ersetzt wurden. Allerdings verfügen wir heute noch nicht über die erforderlichen Mittel zur ausreichenden Nutzung der erneuerbaren Energieträger, als dass ein derart grundlegender Wandel wie im 19. Jahrhundert bevorsteht.

2.1.5

Die Schwierigkeiten sind in zahlreichen Faktoren begründet: Energiedichte, erforderliche Flächen für die Produktion von Biokraftstoffen (zu Lasten anderer Tätigkeiten, insbesondere in der Landwirtschaft), fluktuierende Charakteristik und oftmals unvorhersehbare Erträge (Windkraft, Sonnenenergie und Gezeitenkraft), was eine eingehende Planung der Speicherkapazitäten erfordert, sowie geografische Verteilung der erneuerbaren Energieträger. In Bezug auf die Kernenergie ist festzuhalten, dass die weltweite Kernindustrie auch im Fall einer überaus ehrgeizigen Politik zur Erneuerung der bestehenden Kraftwerke und zum Bau neuer Anlagen nicht in der Lage wäre, die Nachfrage zu decken.

2.1.6

Die Lage Europas ist von einer großen Energieabhängigkeit gekennzeichnet. So importiert Europa derzeit 50 % seines Energiebedarfs; bis 2030 dürfte seine Außenabhängigkeit auf 70 % steigen. Das heißt, die europäische Außenabhängigkeit würde sich bei Erdöl auf 90 % und bei Erdgas auf 70 % belaufen!

2.1.7

Im März 2006 hat der Europäische Rat eine alarmierende Bestandsaufnahme vorgenommen, bei der folgende Aspekte zutage traten:

die schwierige Situation auf den Öl- und Gasmärkten,

die zunehmende Abhängigkeit der Europäischen Union,

hohe und stark schwankende Energiepreise, die seither noch weiter gestiegen sind,

die weltweit zunehmende Energienachfrage,

Versorgungssicherheitsrisiken,

die Bedrohung durch den Klimawandel,

die langsamen Fortschritte bei der Energieeffizienz und der Nutzung erneuerbarer Energieträger,

das Erfordernis höherer Transparenz auf den Energiemärkten und einer stärkeren Integration und Vernetzung der nationalen Energiemärkte angesichts der Liberalisierung des Energiemarkts,

die begrenzte Abstimmung zwischen den Akteuren im Energiebereich, obwohl bedeutende Investitionen in die Energieinfrastruktur erforderlich sind.

Diese alarmierende Bestandsaufnahme gab den Anstoß für die Vorschläge des neuen Energiepakets, das in gewisser Art und Weise eine Antwort auf die Herausforderungen ist, denen sich Europa stellen muss.

2.1.8

Die europäischen Entscheidungsträger müssen ein doppeltes Problem angehen: Einerseits nehmen die Vorräte an herkömmlichen Primärenergieträgern immer weiter ab, und andererseits ist die geografische Lage ihrer Vorkommen durchaus problematisch, liegt doch der Großteil dieser Reserven in politisch instabilen Ländern und kann als Druckmittel gegen die davon abhängenden Länder eingesetzt werden — wie bereits geschehen.

2.2   Ist die Europäische Union der geeignete Rahmen für eine Energiepolitik?

2.2.1

Jeder einzelne EU-Mitgliedstaat ist von dieser Problematik betroffen, doch wird ihre Position durch die Zersplitterung ihrer individuellen Maßnahmen gegenüber den oftmals gut organisierten Erzeugern eindeutig geschwächt.

2.2.2

Die EU-Mitgliedstaaten sollten daher gemeinsam vorgehen und die Europäische Union als wirksames Instrument zur Schaffung einer gemeinsamen Energiepolitik nutzen, deren Grundsatz und Ziel ein besser gesteuerter Verbrauch und eine Diversifizierung der Energieträger sind.

2.2.3

Die Europäische Union verfügt über die erforderliche „kritische Masse“ und institutionelle Mittel. Sie ist in der Lage, transnationale Maßnahmen zu entwickeln, die Politik der einzelnen Mitgliedstaaten zu koordinieren, einen größeren Zusammenhalt im Energiebereich auf europäischer Ebene herbeizuführen und eine gemeinsame Energiepolitik gegenüber Drittstaaten zu gestalten.

2.2.4

Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags und im Sog des Vertrags von Lissabon könnte die Konzipierung einer europäischen Energiepolitik eine neue pro-europäische Dynamik anstoßen und als Beweis für den praktischen Nutzen der Europäischen Union dienen.

2.3   Ein Rechtsrahmen, der weiterentwickelt werden sollte

2.3.1

Gegenwärtig gibt es keine Zuständigkeit der Europäischen Union für Energie. Die Schaffung einer solchen Zuständigkeit ist eine der wichtigsten Neuerungen im Entwurf des Vertrags von Lissabon.

2.3.2

Zum Zeitpunkt der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurden die damals aktuellen energiepolitischen Fragen großteils von der EURATOM und der EGKS behandelt.

2.3.3

Bedeutet dies nun, dass sich die Europäische Union nie mit Maßnahmen im Energiebereich befasst hat?

2.3.4

Sicherlich nicht, denn sie hat einerseits auf der Grundlage von Artikel 308 EG-Vertrag eine echte Energiepolitik und andererseits auf der Grundlage von Artikel 154 EG-Vertrag eine Politik im Bereich der Transeuropäischen Energienetze (siehe Entscheidung Nr. 1364/2006/EG) auf den Weg gebracht. Außerdem finden die Binnenmarkt- und Wettbewerbsvorschriften auf den Energiemarkt Anwendung (Richtlinie 2003/55/EG über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt, Richtlinie 2003/54/EG über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, Richtlinie 90/377/EWG zur Gewährleistung der Transparenz der Gas- und Strompreise, geändert durch die Richtlinie 93/87/EWG). Die ersten Auswirkungen dieser Marktöffnung und der Abschaffung der staatlichen Monopole haben mitunter Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Energiepreisentwicklung gegeben, doch ist der zeitweise zu verzeichnende Anstieg der Energiepreise vor allem auf die Zunahme der weltweiten Nachfrage nach Ressourcen zurückzuführen, die nur begrenzt verfügbar sind und in einigen Fällen wohl bald erschöpft sein werden.

2.3.5

Dazu kommen noch die Dokumente der Europäischen Kommission, die keine Legislativvorschläge im herkömmlichen Sinn, sondern vielmehr unverbindliches Recht („soft law“) sind: das Grünbuch „Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversorgungssicherheit“ (28. November 2000), die Kommissionsmitteilung „Abschlussbericht über das Grünbuch ‚Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversorgungssicherheit‘“ (26. Juni 2002), das Grünbuch über Energieeffizienz oder Weniger kann mehr sein (22. Juni 2005), der „Aktionsplan für Energieeffizienz: Das Potenzial ausschöpfen“ (19. Oktober 2006) sowie die Kommissionsmitteilung „Mobilisieren von öffentlichem und privatem Kapital für den weltweiten Zugang zu klimafreundlichen, erschwinglichen und sicheren Energiedienstleistungen: Der Globale Dachfonds für Energieeffizienz und erneuerbare Energien“ (6. Oktober 2006).

2.3.6

Die Europäische Union hat sich zwar intensiv mit Energiefragen beschäftigt, hat ihr Tätigwerden jedoch auf eine etwas unsichere Rechtsgrundlage gestützt, und zwar Artikel 308 EG-Vertrag — die so genannten Flexibilitätsklausel, die besagt: „Erscheint ein Tätigwerden der Union erforderlich, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen, und sind in diesem Vertrag die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften“. Über die Anwendung der Binnenmarkt-, Wettbewerbs- und Umweltvorschriften ist sie auch indirekt tätig geworden. Ihre Vorgehensweise war also, zumindest auf ersten Blick, eher technischer und rechtlicher als politischer Natur.

2.3.7

Genau aus diesem Grund und angesichts der Bedeutung der Energiefragen sowohl für den Alltag der Unionsbürger als auch das Wirtschaftsleben und die weltweite Stabilität enthält der Vertrag von Lissabon einen neuen Artikel 176, in dem die Ziele der Europäischen Union im Energiebereich „im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ und „unter Berücksichtigung der Erfordernisse der Erhaltung und der Verbesserung der Umwelt“ festgelegt sind.

2.3.8

Mit der europäischen Energiepolitik im Sinne des künftigen Vertrags werden folgende Ziele angestrebt:

Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarkts,

Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit in der Union,

Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen und

Förderung der Interkonnexion der Energienetze.

2.3.9

Diese Politik fällt in den Bereich der geteilten Zuständigkeit, in dem mit qualifizierter Mehrheit beschlossen wird — abgesehen von Fragen steuerlicher Art, für die ein einstimmiger Beschluss erforderlich ist. In Artikel 176a Ziffer 2 Absatz 2 des Vertrags von Lissabon ist jedoch festgehalten, dass „das Recht eines Mitgliedstaats, die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung zu bestimmen“ nicht von den Maßnahmen berührt wird, die zur Verwirklichung der in Ziffer 1 dieses neuen Artikels genannten Ziele getroffen werden.

2.3.10

Die Europäische Union wird somit über eine Zuständigkeit in diesem Bereich verfügen, ein erstes unabdingbares Werkzeug für ein stärkeres und konkreteres Handeln. Doch wird es alleine ausreichen, oder bedarf es weiterer Schritte auf institutioneller Ebene? Noch ehe dieses Werkzeug ausgestaltet wird, müssen die politischen Maßnahmen so konzipiert werden, dass sie sich aufgrund der äußeren Einflüsse sowie der Fortschritte in den Bereichen Dienstleistungen und Technologie weiterentwickeln können.

3.   Erforderliche Maßnahmen

3.1

Die europäischen Energiemaßnahmen unterlagen bislang wirtschaftlichen Zwängen und/oder Erfordernissen der nachhaltigen Entwicklung: gewollte Liberalisierung des Energiemarktes mittels Richtlinien und einer Politik für Netzwerkindustrien, Politik zur Steigerung der Energieeffizienz, Politik zur Förderung und Entwicklung erneuerbarer Energieträger, Verringerung der CO2-Emissionen usw.

3.2

In gewisser Weise ist die Europäische Union, der es bislang an einer Zuständigkeit für Energie fehlte, diese Frage auf mehr oder weniger indirekte Weise angegangen, indem sie sich insbesondere die Binnenmarkt-, Wettbewerbs- und Umweltvorschriften zunutze gemacht hat. Zumindest dem Augenschein nach war die Vorgehensweise eher technischer und rechtlicher denn politischer Art.

3.3

Dies hat die Europäische Union bekanntermaßen nicht daran gehindert, im Energiebereich wichtige Legislativmaßnahmen zu setzen und grundsätzliche Leitlinien vorzugeben. So hat sie vor kurzem (am 19. September 2007) eine Reihe von Legislativvorschlägen zur Änderung der geltenden Rechtsvorschriften veröffentlicht (Änderung der Verordnung zum grenzüberschreitenden Stromhandel, Verordnung zur Gründung einer EU-Agentur für die Zusammenarbeit der einzelstaatlichen Energieregulierungsbehörden, Änderung der Verordnung über Erdgasfernleitungsnetze, Änderung der Richtlinien zum Elektrizitäts- und Erdgasbinnenmarkt).

3.4

Wird der Vertrag von Lissabon in der vorliegenden Fassung ratifiziert, könnte die Europäische Union diese wichtige politische Thematik klarer und direkter angehen. Allerdings werden allein aufgrund der rechtlichen Befugnis nicht alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten ausgeräumt. Denn es gibt sehr unterschiedliche nationale Strategien, insbesondere in Bezug auf die Kernenergie. Seit seinem informellen Gipfeltreffen in Hampton Court hat der Europäische Rat die Eckpfeiler für eine echte europäische Energiepolitik festgelegt, die mit dem neuen Energiepaket in konkrete Form gegossen wurde, das gemeinsam von der GD Energie und der GD Umwelt ausgearbeitet wurde.

3.5

Wie bereits erwähnt wollte die Europäische Union sich zunächst die Marktmechanismen zur Einrichtung eines vermeintlich effizienteren wettbewerbsfähigen Marktes zu eigen machen und mittels der transeuropäischen Energienetze einen Verbundmarkt schaffen.

3.6

Sie beabsichtigte ferner, die Energieeffizienz insbesondere in den verbrauchsintensiven Bereichen, namentlich Gebäudeheizung und -klimatisierung, verarbeitendes Gewerbe und Verkehr, zu fördern.

3.7

Mit dem Aktionsplan für den Zeitraum 2007-2012 (19. Oktober 2006) wird das ehrgeizige Ziel verfolgt, bis 2020 20 % des jährlichen Energieverbrauchs einzusparen, d.h. die Energieintensität um 1,5 % jährlich zu senken.

3.8

Die Europäische Union hat ferner ausdrücklich auf die Notwendigkeit hingewiesen, erneuerbare Energieträger zu entwickeln. Auch in diesem Bereich hat die Europäischen Union die Latte sehr hoch gelegt: Bis 2020 soll der Anteil der erneuerbaren Energieträger am Gesamtenergieverbrauch auf 20 % gesteigert werden. Außerdem soll ein verbindliches Mindestziel von 10 % für den Anteil an Biokraftstoffen festgelegt werden (siehe Fahrplan für erneuerbare Energien vom 10. Januar 2007).

3.9

Allerdings haben diese Energieträger bisher eine weitaus schlechtere Ausgangsposition als fossile Energieträger: geringere Energiedichte, größerer Platzbedarf (z.B. Solarzellenfelder), fluktuierende Leistungsbereitstellung und selbstverständlich höhere Kosten der betreffenden Technologien. Dies bedeutet, dass trotz ständiger Verringerung der relativen Kostennachteile der Übergang zu diesen Technologien voraussichtlich nur schrittweise über einen langen Zeitraum stattfinden wird — sofern die politische und finanzielle Unterstützung nicht deutlich gesteigert wird — und dass für alle neuen Energieträger detaillierte Folgenabschätzungen erforderlich sind (siehe OECD-Observer Nr. 258/259 „21st century energy: some sobering thoughts“ von Vaclav Smil, Dezember 2006).

3.10

In Bezug auf die Energienutzung im Verkehrsbereich hat die Europäische Kommission ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf die Förderung von Biokraftstoffen sowie auf Brennstoffzellen und Wasserstoff ausgerichtet. Die Ausweitung der Verwendung von Biokraftstoffen entsprechend der angestrebten Größenordnung wirft allerdings einige Probleme auf. Brennstoffzellen sind hocheffiziente Energiewandler, die eine beträchtliche Verringerung der Treibhausgasemissionen und der Schadstoffproduktion bewirken können. Allerdings ist es eher unwahrscheinlich, dass diese Technologien in baldiger Zukunft wirtschaftlich rentabel sein werden.

3.11

Daher hat die Europäische Kommission im Zuge des Siebten Forschungsrahmenprogramms und einer gemeinsamen Technologieinitiative zur Schaffung öffentlicher/privater Partnerschaften (ÖPP) eine Verordnung zur Gründung des gemeinsamen Unternehmens „Brennstoffzellen und Wasserstoff“ (KOM(2007) 571 endg.) zur Durchführung eines Forschungs-, technologischen Entwicklungs- und Demonstrationsprogramms im Bereich von Brennstoffzellen und Wasserstoff vorgeschlagen.

3.12

Ferner hat die Europäische Kommission zur Schaffung eines Marktes für Kraftfahrzeuge mit Wasserstoffantrieb eine Verordnung über ihre Typgenehmigung (KOM(2007) 593 endg.) vorgeschlagen, damit in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht voneinander abweichende Produktnormen bestehen, die die Verbreitung dieser Technologie behindern könnten.

4.   Diese Leitlinien sind unerlässlich, doch sind sie auch ausreichend?

4.1

Fossile Energieträger werden weiterhin stark gefragt und von grundlegender Bedeutung sein. Daher müssen die Überlegungen dieser unausweichlichen Tatsache Rechnung tragen, und es müssen realistische Erwartungen an erneuerbare Energieträger geknüpft werden.

4.2

In dieser Hinsicht müssen die EU-Mitgliedstaaten eine konzertierte Politik gegenüber den Ländern, die fossile Brennstoffe erzeugen, auf den Weg bringen, und zwar „im Geiste der Solidarität“ laut Vertrag von Lissabon. Eine „Beschaffungspolitik“ wäre ebenfalls überaus zweckdienlich, doch fällt diese in erster Linie in den Zuständigkeitsbereich der multinationalen Erdölunternehmen.

4.3

Der Erdölmarkt ist offiziell in Form der OPEC organisiert. Unter diesen Bedingungen würden die 27 EU-Mitgliedstaaten als Gruppe logischerweise mehr Gewicht haben als jeder einzelne Mitgliedstaat alleine, zumal sie zu den am stärksten entwickelten Industrieländern und daher zu den großen Energieverbrauchern zählen. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass die Europäische Union einen integrierten Markt mit fast einer halben Milliarde Verbrauchern darstellt.

4.4

Auf dem Erdölmarkt kann ein solches „Abnehmerkartell“ gegenüber dem Erzeugerkartell ein echtes politisches Gewicht in die Waagschale werfen. Der Erdgasmarkt hingegen ist nicht kartellisiert.

4.5

Zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit ist die Diversifizierung ein Muss. Diesbezüglich muss Russland als große europäische Nation zumindest ebenso gut behandelt werden wie die OPEC-Staaten. In diesem Sinne sollte auch über die Einbeziehung der kaukasischen und zentralasiatischen Republiken in die Energieversorgungspolitik nachgedacht werden.

4.6

Im Bereich der fossilen Energieträger sollten alternative Lösungen, beispielsweise ausgehend von Kohle, aufgegriffen werden. In der Forschung im Bereich „saubere Kohle“ („Clean Coal“) wurden erhebliche Fortschritte erzielt; die diesbezüglichen Anstrengungen müssen allerdings beschleunigt werden, wenn ein erneuter verstärkter Einsatz von Kohle nicht zu einer Verschlimmerung der Erderwärmung führen soll. Es sollte ein groß angelegter europäischer Forschungs- und Entwicklungsplan in diesem Bereich auf die Beine gestellt werden, zumal Europa nach wie vor über große Kohlevorräte verfügt und diese Ressource auf dem Weltmarkt zu wesentlich günstigeren Preisen als Erdöl gehandelt wird. Der Kohlebergbau ist nach wie vor ein heikles Thema. Die schwierigen und oftmals gefährlichen Bedingungen, unter denen die Bergarbeiter ihre Tätigkeit verrichten, sind hinlänglich bekannt. Ein besonderes Augenmerk sollte auf die Arbeitsbedingungen, die Sicherheit sowie die Gesundheit am Arbeitsplatz im Bergbau gerichtet werden.

4.7

Bei wirksamer Abtrennung der bei ihrer Verbrennung entstehenden Emissionen könnten auch Altreifen als erneuerbare Energieträger genutzt werden. In einigen Ländern gibt es bereits seit mehreren Jahrzehnten Altreifen-Kraftwerke.

4.8

In Bezug auf die Technologien für die Speicherung von CO2 (CCS) konnten zwar Fortschritte erzielt werden, doch sind sie nach wie vor teuer, komplex und leckageanfällig; so könnte beispielsweise bei Bruchstellen im Gestein oder bei Erdbeben CO2 austreten. Außerdem besteht die Gefahr der Verschmutzung der tiefer gelegenen Grundwasserschichten. Diese Fragen werden ausführlich in einigen Stellungnahmen behandelt, die der Ausschuss derzeit ausarbeitet.

4.9

Neben fossilen Brennstoffen gibt es noch eine lokale, in großem, um nicht zu sagen zu großem Maße vorhandene Ressource: Abfall. In der Europäischen Union werden Milliarden Tonnen an Abfall produziert. Die Wiederverwertung und -verwendung von Abfall wird im Allgemeinen als die beste Nutzungsmöglichkeit für Abfall angesehen, da so der Rohstoffbedarf verringert und die mit den meisten Formen der Abfallentsorgung einhergehende Entstehung von Treibhausgasen vermieden wird. Soweit dies nicht möglich ist, sollte zweifelsohne die Verwendung von Abfällen zu Energiezwecken ins Auge gefasst werden. Auch in diesem Bereich sollten Forschung und Entwicklung gefördert werden, um eine höhere Energieeffizienz und gleichzeitig eine maximale Verringerung der Emissionen von Treibhausgasen und anderen Schadstoffen zu erreichen.

4.10

Außerdem müsste die einschlägige Gesetzgebung und Rechtsprechung vorangebracht werden, da die energietechnische Nutzung nicht als solche anerkannt ist. Mit dem überarbeiteten Vorschlag für eine Abfall-Rahmenrichtlinie, die derzeit im Europäischen Parlament erörtert wird, wurde allerdings ein erster Schritt in diese Richtung getan.

4.11

Die Frage der Kernenergie wird sich unweigerlich stellen. Die CO2-Emissionen werden sich schwerlich bis 2020 um 20 % verringern lassen, wenn nicht auch die Frage nach einer umfassenden Neuauflage der Programme für moderne Kernkraftwerke in denjenigen Mitgliedstaaten erörtert wird, die sich für diese Energieform entschieden haben. Die anderen Mitgliedstaaten sollten ihre Politik betreffend erneuerbare Energieträger ausbauen.

4.12

Zwar stellen sich im Zusammenhang mit der Entwicklung der Kernkraft große Herausforderungen in Bezug auf Sicherheit, Gefahrenabwehr und Entsorgungspolitik, doch können wir es uns leisten, darauf zu verzichten?

4.13

Die Wahl der Energieträger gibt Anlass zu Polemik, doch hat bislang keine dieser Debatten die Intensität der Debatte zwischen Kernenergiebefürwortern und -gegnern erreicht. Tatsache ist, dass sich innerhalb Europas eine echte nukleare Kluft aufgetan hat, die es sehr angeraten erscheinen lässt, den Mitgliedstaaten den Einsatz dieses Energieträgers absolut selbst zu überlassen.

4.14

Europa verfügt mit der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) über ein effizientes Instrument, das ihm dazu dienen muss, seinen technischen Vorsprung zu bewahren, seine Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen, seine Energieabhängigkeit zu verringern sowie die Bemühungen und die internationale Zusammenarbeit für Sicherheit, Gefahrenabwehr und Nichtverbreitung auszubauen. Die Euratom könnte eventuell sogar eine neue Ausrichtung erhalten.

4.15

Einer der wichtigsten Aspekte ist die Fusionsforschung. Im siebten Forschungsrahmenprogramm werden 2,75 Mrd. EUR für Euratom bereitgestellt, von denen zwei Drittel für die Forschung im Bereich Fusionsenergie aufgewendet werden. Diese Priorität muss gefördert und bekräftigt werden, da bei einem Einsatz dieser Technologie weniger langlebige radioaktive Abfälle anfallen und somit das Problem der Abfallentsorgung vereinfacht würde. Die Lancierung des ITER-Projekts auf dem Hoheitsgebiet der Europäischen Union ist ein viel versprechender Beginn.

4.16

Die Europäische Union sollte ihr Augenmerk auf Hybridfahrzeuge, Solarenergie, Brennstoffzellen und den Fahrzeugantrieb mit komprimierter Luft, den so genannten Luftmotor, richten. Auch in diesem Bereich werden in Forschung und Entwicklung Fortschritte erzielt. So hat ein französischer Ingenieur ein sehr wirtschaftliches Luftmotor-Fahrzeug mit einer Höchstgeschwindigkeit von 150 km/h entwickelt, das in den kommenden Monaten in Produktion gehen sollte. Die bekannte indische Firma Tata hat bereits die Rechte an diesem Fahrzeug für Indien erworben.

4.17

In diesem Zusammenhang bekräftigt der Ausschuss auch seine bereits früher abgegebenen Empfehlungen zum Thema erneuerbare Energieträger in der Europäischen Union, welche die Aussagen der vorliegenden Stellungnahme vorbereiteten und unterstützen.

5.   Erforderliche Instrumente

5.1

Die Formulierung von Maßnahmen, die Festlegung von Prioritäten — all das sind grundlegende Elemente, doch bedarf es der politischen und rechtlichen Instrumente, um sie auch in die Tat umzusetzen. Reichen die Bestimmungen des Vertrags von Lissabon, sollte er ratifiziert werden, aus oder sind weitreichendere Maßnahmen erforderlich?

5.2

Es ist sicherlich zielführend, den „Geist der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ im Energiebereich heraufzubeschwören; ebenso ist es äußerst begrüßenswert, vier Hauptstoßrichtungen für diese Politik festzulegen — an sich eine Neuerung, auch wenn diese Stoßrichtungen selbst nicht sonderlich innovativ sind.

5.3

Dennoch drängt sich der Gedanke auf, dass angesichts der Größenordnung der weltweiten energiepolitischen Herausforderungen ein engagierteres Vorgehen erforderlich wäre.

5.4

War man beim Vertrag von Lissabon nicht zu zurückhaltend, auch wenn die Zeit für eine gemeinsame Energiepolitik mit einem eigenen institutionellen Rahmen nach Vorbild der früheren EGKS und der Euratom vermutlich noch nicht gekommen ist?

5.5

In dem weltweiten Energie-Wettlauf treten Kontinente gegeneinander an. Der Gemeinschaftsrahmen verleiht mehr Gewicht, doch wäre die Einrichtung einer eigenen Behörde, die insbesondere mit der „Energiediplomatie“, der Beschaffung sowie der Festlegung und Finanzierung von Rahmenprogrammen für Forschung und Entwicklung zu betrauen wäre, möglicherweise dazu geeignet, Europa zu einem Schwergewicht im Welt-Energie-Ring zu machen, was den einzelnen EU-Mitgliedstaaten verwehrt bliebe.

5.6

Derzeit verfolgen die Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Ansätze; dies ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass jedes Land nach der ersten Ölkrise 1973 zunächst seine eigene Energieversorgungssicherheit gewährleisten wollte. Für diese unterschiedlichen Anstrengungen und Vorgehensweisen gibt es zahlreiche Beispiele.

5.7

Um zu verhindern, dass eine derartige Vielzahl an unterschiedlichen Ansätzen möglicherweise zum Verlust des europäischen Einflusses führt, muss Europa eine umfassende europäische Energiepolitik konzipieren, die der Führungsposition gerecht wird, die Europa auf dem Gebiet der Klimapolitik bei internationalen Verhandlungen zu behaupten sucht, ihren Anfang in einer engen Koordinierung der EU-Mitgliedstaaten bei der Erörterung energiepolitischer Fragen in internationalen Organisationen wie WTO, ONU, NATO und OSZE nehmen sollte. Darüber hinaus bedarf es einer Koordinierung der einzelstaatlichen Energiepolitiken und insbesondere der Festlegung einer echten „Beschaffungspolitik“ sowie einer von einem echten politischen Willen getragenen und nicht mehr nur rein empirischen Politik der Vernetzung. Außerdem könnte sich diese auf Koordinierung, Konzertierung und Verwirklichung gemeinsamer Vorhaben ausgerichtete Politik zum gegebenen Zeitpunkt auf eigene und starke Institutionen stützen, um Europa in die Lage zu versetzen, die energiepolitische Herausforderung anzugehen. Doch hat Europa auch den Mut dazu?

Brüssel, den 23. April 2008

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Dimitris DIMITRIADIS


ANHANG

zur Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Der folgende Änderungsantrag, der mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen konnte, wurde im Verlauf der Beratungen abgelehnt:

Ziffer 4.11

Wird wie folgt geändert:

Die Frage der Kernenergie wird sich unweigerlich stellen, die Mitgliedstaaten werden diese in ihrer eigenen Souveränität zu beantworten haben. Die CO2-Emissionen können bis 2020 nicht um 20 % verringert werden, wenn nicht auch die Frage nach einer umfassenden Neuauflage der Programme für moderne Kernkraftwerke erörtert wird. “.

Begründung

Die Bundesrepublik Deutschland, in der derzeit noch weit 10 Atomkraftwerke betrieben werden, hat ein Programm aufgelegt, das bis zum Jahr 2020 eine CO2 Minderung um knapp 40 % bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Kernenergie vorsieht. Stellt der Berichterstatter (und der EWSA) die Seriosität dieses Programms in Frage?

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 46 Nein-Stimmen: 103 Stimmenthaltungen: 27