27.4.2007 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 93/45 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der Zustand der europäischen Gesellschaft — eine Bestandsaufnahme“
(2007/C 93/11)
Die Europäische Kommission beschloss am 5. Oktober 2006 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen: „Der Zustand der europäischen Gesellschaft — eine Bestandsaufnahme“
Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 19. Dezember 2006 an. Berichterstatter war Herr OlSSON.
Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 432. Plenartagung am 17./18. Januar 2007 (Sitzung vom 18. Januar) mit 153 gegen 3 Stimmen bei 6 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:
1. Einleitung
1.1 |
Der Europäische Rat unterstrich im Juni 2006, wie wichtig es ist, den Bürgerinnen und Bürgern die soziale Dimension der Europäischen Union näher zu bringen, und begrüßte die Absicht der Europäischen Kommission, eine Bilanz der sozialen Gegebenheiten in der EU vorzunehmen. Der Rat bat die Kommission, vor seiner Tagung im Frühjahr 2007 einen Zwischenbericht vorzulegen (1). |
1.2 |
Vor diesem Hintergrund ersuchte die Europäische Kommission den EWSA um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu der Frage, wie eine Bestandsaufnahme des Zustands der europäischen Gesellschaft vorgenommen und wie — parallel zu und in enger Abstimmung mit der Binnenmarktuntersuchung — eine Sozialagenda für Zugangschancen und Solidarität auf den Weg gebracht werden kann (2). In dieser Stellungnahme wird der erste Aspekt behandelt; die Entwicklung des Binnenmarkts ist Gegenstand einer anderen Stellungnahme des EWSA. |
1.3 |
Die Kommission ist der Auffassung, dass „die Maßnahmen und Programme zur Aufrechthaltung der Solidarität […] den Lebensstandard, den sozialen Zusammenhalt und die Chancen der Unionsbürger verbessern [müssen]. Die EU muss dabei die nationalen, regionalen und anderen Behörden vor Ort auf den verschiedenen Ebenen ebenso einbinden wie die Sozialpartner im Wege des sozialen Dialogs und der Beteiligung der Zivilgesellschaft“ (3). Die Bestandsaufnahme beinhaltet eine Untersuchung der wichtigsten Faktoren des gesellschaftlichen Wandels. Sie dient dabei auch als Grundlage für die europäische Politikgestaltung bis ins nächste Jahrzehnt, um einen neuen Konsens über die gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen Europa steht, zu schaffen (4). |
1.4 |
Die Initiative veranschaulicht das wiedererwachte Interesse an sozialen Fragen auf höchster Ebene nach dem negativen Ausgang der Referenden in Frankreich und in den Niederlanden. Auf Einladung des britischen Ratsvorsitzes fand im Oktober 2005 in Hampton Court ein Sondergipfel zum europäischen Sozialmodell statt. Der deutsche und der österreichische Bundeskanzler schlugen vor, ein „Sozialkapitel “in den überarbeiteten Verfassungsvertrag aufzunehmen. |
1.5 |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt die Pläne der Kommission. Er weist darauf hin, dass der Ansatz einer Bestandsaufnahme des Zustands der europäischen Gesellschaft umfassender ist als eine bloße Untersuchung sozialer Fragen im herkömmlichen Sinne. Die Bestandsaufnahme kann ein wichtiges Instrument sein, um die EU den Bürgern näher zu bringen und deren Erwartungen an die europäische Politik zu entsprechen. Die Initiative kann aber auch als Möglichkeit gesehen werden, ein Gleichgewicht zwischen der sozialen und der wirtschaftlichen Dimension der EU zu erreichen. |
1.6 |
Der EWSA betont, dass die Ziele und der Zeitplan einer möglichen Bestandsaufnahme genau festgelegt werden sollten. Damit die Bestandsaufnahme zu greif- und verwertbaren Ergebnissen führt, muss sie im Verhältnis zu anderen Maßnahmen, Aktionen und Debatten der EU, die sich auf die soziale Wirklichkeit beziehend, einen Zusatznutzen erbringen und mit diesen in Einklang stehen. Die Bestandsaufnahme muss deshalb einen klaren Bezug zur Lissabon-Strategie und zur Sozialagenda aufweisen und eine Bewertung der sozialpolitischen Instrumente der EU und deren Anwendung umfassen. Darüber hinaus muss sie sich über einen ausreichenden Zeitraum erstrecken, um eine tatsächliche Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft auf allen Ebenen zu gewährleisten. |
1.7 |
Diese Stellungnahme ist ein erster Beitrag des EWSA. Weitere werden während der Bestandsaufnahme folgen. |
2. Allgemeine Bemerkungen
2.1 |
Der Zustand der europäischen Gesellschaft ist von Wissenschaftlern, Institutionen und Organisationen bereits gut dokumentiert (5) und ist auch in verschiedenen Stellungnahmen des EWSA, die als Grundlage für Schlussfolgerungen und Empfehlungen herangezogen werden können, eingehend beschrieben worden. Folgende positive Aspekte der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa, die wichtige Faktoren der gesellschaftlichen Realität darstellen, sind hervorzuheben: weltweit anerkannter Lebensstandard, zunehmende Lebenserwartung, neue wirtschaftliche Möglichkeiten, soziale Mobilität, bessere Arbeitsbedingungen und hohe Bildungs- und Sozialstandards. Die durch Vollbeschäftigung und umfassenden Sozialschutz gekennzeichneten Jahre von 1945 bis 1975 — die sog. Trente Glorieuses — begünstigten den Aufbau eines relativ homogenen Wohlfahrtsystems in Europa, welches dem Wirtschaftswachstum förderlich war. |
2.2 |
Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass diese positiven Aspekte in engem Zusammenhang mit einer Mischung von einander verstärkenden wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen stehen. Der EWSA unterstreicht, dass die Sozialpolitik als produktiver Faktor betrachtet werden sollte. |
2.3 |
Die europäische Gesellschaft steht indes in den letzten Jahrzehnten vor tief greifenden Veränderungen: Beschäftigung und Arbeitsmarkt unterliegen großen Umwandlungen, die zu sich rasch verändernden sozialen Gegebenheiten für die Arbeitnehmer führen. Europa sieht sich einem beispiellosen demografischen Wandel gegenüber. Die Gründe für geringere Geburtenraten müssen näher betrachtet und analysiert werden. Erfahrungen aus manchen Mitgliedstaaten zeigen, dass eine durchdachte Politik, die durch eine umfassende, gut funktionierende Kinderbetreuung und durch Maßnahmen zur Erhöhung der Erwerbsfrequenz von Frauen die Vereinbarung von Familien- und Berufsleben möglich macht, zu einem Anstieg der Geburtenrate führen kann. Auch die Einwanderung wird eine noch wichtigere Rolle spielen, wenn es darum geht, das negative Bevölkerungswachstum aufzuhalten. Gleichzeitig stellt die Integration von Einwanderern und ethnischen Minderheiten eine große Herausforderung dar. |
2.4 |
Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen beim Übergang zu einer globalen, postindustriellen und alternden Gesellschaft haben neue Chancen, aber auch neue soziale Risiken geschaffen. Dies wird größere Bevölkerungsschichten als bisher betreffen. Die Fähigkeit des Wohlfahrtstaats, das Wohlergehen aller Bürger durch angemessene und nachhaltige Arbeitsmarkt- und Sozialschutzmaßnahmen zu gewährleisten, wird zunehmend geschwächt. Weiterhin gibt es Armut, die insbesondere mit dauerhaften Risiken der sozialen Ausgrenzung und der Prekarität verbunden ist. Davon betroffen sind hauptsächlich Frauen, Einwanderer, Jugendliche und ungelernte Arbeitskräfte. Die Armut nimmt in einigen Regionen mit unverändert hoher Arbeitslosigkeit zu. Durch den raschen Übergang zur Wissenswirtschaft werden berufliche Fertigkeiten obsolet und berufliche Laufbahnen ungewiss. Flexibilität muss mit neuen Formen des Sozialschutzes sowie Maßnahmen der aktiven Beschäftigung und des lebensbegleitenden Lernens verknüpft werden, um dem von ihr möglicherweise hervorgerufenen Risiko der Prekarität entgegenzuwirken. |
2.5 |
Neue Familienstrukturen, Lebensstile, kulturelle Muster, demografischer Wandel, Verstädterung, zunehmende Mobilität, leichterer Zugang zu Informationen, Konsumverhalten und individuelle Verhaltensweisen — all dies sind Faktoren, die ebenfalls zur Umgestaltung der Gesellschaft beitragen. Schon sehr bald werden auch die Umwelt- und Klimaveränderungen erhebliche Folgen für Bürger und Gesellschaft zeitigen. Die in der Öffentlichkeit vorherrschenden Standpunkte und Verhaltensweisen sollten ebenfalls in Betracht gezogen werden. |
2.6 |
Der allgemeine wirtschaftliche und soziale Fortschritt in Europa überdeckt oft die Unterschiedlichkeit und Ungleichheit der derzeitigen sozialen Gegebenheiten auf allen Ebenen. Letzten Endes kommt es aber auf die Gegebenheiten vor Ort und die Lebensqualität jedes Einzelnen an. Die Bestandsaufnahme der sozialen Realität muss deshalb auf der untersten Gesellschaftsebene ansetzen. |
2.7 |
Die Vielfalt hat infolge der letzten beiden Erweiterungen der Europäischen Union erheblich zugenommen. Bereits bei früheren Beitritten musste sich die EU mit den jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten auseinander setzen, um die Voraussetzungen für einen relativ problemlosen Beitrittsprozess zu schaffen. Viele vorrangige sozialpolitische Maßnahmen der EU sind vor diesem Hintergrund zu betrachten, z.B. soziale Sicherheit für Arbeitsmigranten, sozialer Zusammenhalt, sozialer Dialog, Beschäftigungspolitik und Gleichstellung. Die Erweiterung ist mit großen Herausforderungen für den Zusammenhalt der EU sowie die Verwirklichung einiger der Lissabon-Ziele, insbesondere im Bereich der Sozial- und Beschäftigungspolitik, verbunden. Im Kok-Bericht zur Halbzeitbilanz der Lissabon-Strategie wird davor gewarnt, dass die Erweiterung innerhalb der EU zu Spannungen führt, die „ohne die Perspektive einer Konvergenz noch zunehmen werden“. Der integrationspolitische Schwerpunkt muss in den kommenden Jahren wieder mehr auf die soziale Vertiefung der Union gelegt werden. Dazu braucht die EU u.a. makroökonomische Rahmenbedingungen, die wachstums- und beschäftigungsfördernd ausgerichtet sind. Der EWSA stellt fest, dass erhebliche wirtschaftliche und soziale Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten fortbestehen. Er ist der Ansicht, dass die Erweiterung nicht als Gefahr einer Aushöhlung der sozialen Dimension aufgefasst werden sollte, sondern eher als Chance zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in den neuen Mitgliedstaaten wie auch in Europa insgesamt, unterstützt durch eine gezieltere europäische Politik. |
2.8 |
Die Bestandsaufnahme kann als ein wichtiger Schritt gesehen werden, um das europäische Sozialmodell für die Zukunft — auf der Grundlage der Vorschläge in einer kürzlich verabschiedeten Stellungnahme des EWSA — mit Inhalt zu füllen (6): ein dynamisches Modell, das auf neue Herausforderungen reagiert und eine Konzeption eines für alle Bürger demokratischen, umweltfreundlichen, wettbewerbsfähigen, solidarischen, sozial inklusiven und wohlfahrtsstaatlichen Raums bietet. |
3. Besondere Bemerkungen
3.1 |
Wie zuvor festgestellt, hat der EWSA bereits eine Bestandaufnahme der Realität in fast allen Gesellschaftsbereichen in Europa vorgenommen — und zwar nicht nur in Stellungnahmen aufgrund einer Befassung durch die Kommission, sondern auch in Initiativ- und Sondierungsstellungnahmen. |
3.2 |
In jüngster Zeit hat der EWSA Stellungnahmen u.a. zu folgenden Themen verabschiedet: Unionsbürgerschaft, Beschäftigung, Arbeitsbedingungen, lebensbegleitendes Lernen, sozialer und territorialer Zusammenhalt, sozialer Schutz, soziale Ausgrenzung, Menschen mit Behinderung, Gleichstellung von Frauen und Männern, Jugend, Rechte von Kindern, Bevölkerungsalterung, Einwanderung und Integration, Umwelt und nachhaltige Entwicklung, Lebensmittelsicherheit und Verbraucherschutz, Kommunikation und Verkehr, Tourismus, Leistungen der Daseinsvorsorge, Gesundheitswesen, Übergewichtigkeit und soziale Folgen des Klimawandels sowie die themenübergreifende Lissabon-Strategie. Einige der in letzter Zeit erarbeiteten Initiativ- und Sondierungsstellungnahmen sind für die Bestandsaufnahme von großer Relevanz (7). Darüber hinaus laufen Arbeiten zu Stellungnahmen, die in diese Stellungnahme einfließen werden. |
3.3 |
Um die besonderen und allgemeinen sozialen Gegebenheiten zu beurteilen und den Wirkungsgrad ihrer politischen Maßnahmen zu bemessen, muss die EU über Indikatoren verfügen, die ein ausreichend detailliertes und genaues Bild liefern. Zur Entwicklung der welfare performance (Leistungsfähigkeit der Sozialsysteme) hat der EWSA verlässlichere und qualitative Indikatoren vorgeschlagen (8), auf die bei der Bestandsaufnahme zurückgegriffen werden sollte. Der EWSA bekräftigt seine Ansicht, dass die betroffenen Akteure eingeladen werden sollten, sich an der Erarbeitung und Bewertung der Indikatoren zu beteiligen (9). |
3.4 |
Der EWSA unterstreicht den Mangel an Arbeitsmarkt- und Migrationsstatistiken sowie die Notwendigkeit umfangreicherer geschlechter- und armutsbezogener Daten. Er schlägt deshalb vor, Eurostat den Auftrag zu erteilen und die Mittel zu gewähren, um solche Statistiken zu erstellen, die die gesellschaftlichen Tendenzen genau wiedergeben. Dies könnte durch eine eher qualitative Analyse der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen ergänzt werden. |
4. Ein neuer Konsens über die sozialen Herausforderungen für Europa — eine Skizze
Notwendigkeit der Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft
4.1 |
Der EWSA betont, dass sich die Bestandsaufnahme der sozialen Realität zur Erzielung eines neuen Konsenses auf einen Prozess gründen muss, in den die organisierte Zivilgesellschaft auf allen Ebenen entsprechend einem „Bottom-up“-Ansatz einbezogen wird. Die Bestandsaufnahme benötigt ausreichend Zeit, damit die Bürger und die sie vertretenden Organisationen wirklich mitwirken können. Andernfalls besteht das Risiko, dass sie zu einem oberflächlichen, realitätsfernen Konsultationsprozess unter Fachleuten wird. |
4.2 |
Da die Bestandsaufnahme der sozialen Wirklichkeit auf der untersten Ebene ansetzen muss, spielen die Sozialpartner und andere betroffene Akteure — neben den lokalen Gebietskörperschaften — eine wichtige Rolle bei der Ermittlung und Formulierung neuer gesellschaftlicher Bedürfnisse und Probleme. Ihr gemeinsamer Erfahrungsschatz kann genutzt werden, um Unternehmen und Bürger für lokale Maßnahmen zu mobilisieren. Zudem kann er als Grundlage für eine systematischere Bestandsaufnahme auf einzelstaatlicher und europäischer Ebene dienen. |
4.3 |
Zur Förderung eines „Bottom-up“-Ansatzes und zweckdienlicher „Methoden “sollte die Europäische Kommission nach Auffassung des EWSA die Durchführung der Bestandsaufnahme auf nationaler und regionaler Ebene finanziell unterstützen. Auch sollte sie logistische Hilfe anbieten, um die Bestandsaufnahme auf den Weg zu bringen. Es ist auch wichtig, neue Methoden zu entwickeln und bewährte Verfahren zur Beteiligung der betroffenen Akteure weiterzugeben. |
4.4 |
Der „Bottom-up“-Ansatz zur Bestandsaufnahme der sozialen Wirklichkeit muss von den Beteiligten selbst festgelegt werden. Die Diskussion darf keinen Einschränkungen unterliegen. In Übereinstimmung mit der Kommission empfiehlt der EWSA jedoch, Querschnittsthemen zu berücksichtigen, z.B. Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung, soziale Rechte und Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse sowie das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher und sozialer Dimension (10). |
4.5 |
Die einzelstaatlichen Regierungen müssen die Bestandsaufnahme ernst nehmen und sie und ihre Schlussfolgerungen in die nationalen Reformprogramme der Lissabon-Strategie und andere Politikbereiche einbringen. |
4.6 |
Der EWSA kann durch seine Mitglieder und die Organisationen, die er vertritt, eine aktive Rolle sowohl auf einzelstaatlicher als auch auf europäischer Ebene spielen. In Ländern, in denen Wirtschafts- und Sozialräte oder vergleichbare Einrichtungen existieren, sollten diese ebenfalls beteiligt werden. |
4.7 |
Auf europäischer Ebene kann der EWSA in Zusammenarbeit mit der Kommission ein Stakeholder-Forum zu Beginn des Prozesses zwecks Erstellung eines Aktionsplans sowie am Ende des Prozesses zwecks Weiterverfolgung veranstalten. Der EWSA schlägt vor, die Kontaktgruppe (11) in die diesbezüglichen Arbeiten einzubeziehen. |
5. Ein neues sozialpolitisches Aktionsprogramm
5.1 |
Die Bestandsaufnahme kann nicht erfolgen, ohne gleichzeitig die verschiedenen Methoden und Instrumente der EU-Sozialpolitik einzubeziehen und zu prüfen, inwiefern sie im Hinblick auf die neuen sozialen Herausforderungen geeignet sind. Es muss das richtige Verhältnis zwischen Abgrenzung und Komplementarität der Zuständigkeiten der EU und der Mitgliedstaaten einerseits und dem Einsatz von Legislativmaßnahmen und der Methode der offenen Koordinierung (MOK) andererseits gefunden werden. Zeitgleich muss der bestehende gemeinschaftliche Besitzstand umgesetzt werden. |
5.2 |
Die derzeitigen Gemeinschaftsinstrumente sollten auf ihre Effizienz hin untersucht werden — auch angesichts der Aushöhlung der Sozialpolitik und des sozialen Besitzstands der EU. Der finnische Ratsvorsitz veranstaltete im November 2006 eine Konferenz zum Thema „Die Europäisierung des Sozialschutzes“, die u.a. zu dem Schluss führte, dass die europäische Dimension der Sozialpolitik ausgebaut werden und eine bessere Anwendung der MOK umfassen sollte. |
5.3 |
Die Wirksamkeit der MOK ist insofern fraglich, als viele Regierungen diesbezüglich ein echtes Engagement vermissen lassen. Im Rahmen der Bestandsaufnahme müssen Möglichkeiten zur Stärkung der MOK untersucht werden, damit diese eine entscheidende Rolle bei der Verwirklichung der Ziele der Lissabon-Strategie spielen kann. |
5.4 |
Nationale Unterschiede und Prioritäten schränken den Spielraum für Sozialrechtsakte der EU ein. Die Ergebnisse der Bestandsaufnahme müssen jedoch in Relation zur Notwendigkeit der Anregung, Änderung oder Vereinfachung von Rechtsvorschriften beurteilt werden. Möglicherweise bedarf es einschlägiger Kernmaßnahmen im legislativen Bereich, falls allzu große Unterschiede die Wirtschaftsleistung bremsen und Anlass zu Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten geben. |
5.5 |
Der EWSA unterstreicht die besondere und wichtige Rolle des sozialen Dialogs auf allen Ebenen sowohl hinsichtlich der Bestandsaufnahme der sozialen Realität als auch in Bezug auf Initiativen mit dem Ziel, gemeinsame Lösungen für die anstehenden Probleme zu finden. Auf europäischer Ebene sollten die Möglichkeiten des auf dem Vertrag fußenden sozialen Dialogs voll ausgeschöpft werden. Der EWSA unterstützt das Dreijahresprogramm der europäischen Sozialpartner und begrüßt die Förderung des sozialen Dialogs in den neuen Mitgliedstaaten durch die EU. |
5.6 |
Auch die Beteiligung weiterer Vertretungsorganisationen der Zivilgesellschaft an der Politikgestaltung sollte verstärkt werden. Diese Organisationen bemühen sich in sämtlichen Bereichen und auf allen Ebenen der Gesellschaft darum, den Bürgern Gehör zu verschaffen und sie zum gemeinsamen Handeln mit dem Ziel der Verbesserung der Lebensbedingungen zu bewegen. Ihre Rolle bei der Beurteilung und Umsetzung sozialpolitischer Maßnahmen sollte anerkannt werden. Darüber hinaus muss die Rolle der Sozialwirtschaft, die darin besteht, Produktion und Dienstleistungen den Bedürfnissen der Bürger entsprechend zu gestalten und deren Lebensbedingungen zu verbessern, angemessener gefördert werden. |
5.7 |
Der EWSA schlägt der Europäischen Kommission vor, zum Abschluss der Bestandsaufnahme einen „Bürgergipfel “zur sozialen Wirklichkeit zu veranstalten, an dem alle Interessenträger teilnehmen sollten. Der Kommission spielt eine Schlüsselrolle bei der Ermittlung jener sozialen Fragen, die am besten auf EU-Ebene angegangen werden. Die organisierte Zivilgesellschaft, die nationalen Parlamente und die regionalen Gebietskörperschaften sollten aufgefordert werden, eigene Vorschläge vorzulegen. Als Folgemaßnahme schlägt der EWSA eine zweite Sondertagung des Rates zum Thema „Das europäische Sozialmodell “vor („Hampton Court 2“). |
5.8 |
Um die Basis für einen neuen Konsens über die sozialen Herausforderungen, vor denen Europa steht, zu schaffen, könnten die Grundzüge eines neuen „sozialpolitischen Aktionsprogramms “unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage wie auch der Erwartungen im sozialen Bereich festgelegt werden. Der EWSA weist darauf hin, dass die Einführung der Binnenmarktstrategie „1992 “in den 80er-Jahren durch ein solches Programm flankiert wurde und die Kommission jetzt „parallel zur Binnenmarktuntersuchung und in Abstimmung mit ihr “eine Sozialagenda fordert. |
5.9 |
Das Programm sollte auf gemeinsamen Werten, einer Betonung der Beziehung zwischen sozialem und wirtschaftlichem Fortschritt und einer (Neu-)Festlegung des gemeinsamen Bandes der europäischen Gesellschaft beruhen, das sowohl die Bürger als auch die Mitgliedstaaten miteinander verbindet und so ein hohes Niveau an Sozialkapital schafft. Es sollte von einer präzisen und konkreten Agenda flankiert werden, die die verschiedenen Akteure zusammenführt, Überlegungen zum wirkungsvollen Einsatz der derzeitigen Gemeinschaftsinstrumente enthält und den gesellschaftlichen Bedürfnissen und Erwartungen sowohl auf Ebene der EU als auch auf Ebene der Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund der Globalisierung und im allgemeinen Rahmen des europäischen sozialen Besitzstands gerecht werden kann. |
Brüssel, den 18. Januar 2007
Der Präsident
des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Dimitris DIMITRIADIS
(1) Siehe Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom Juni 2006, Ziffer 21.
(2) Siehe Schreiben von Margot WALLSTRÖM, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, vom 5. Oktober 2006.
(3) Siehe ebenda und KOM(2006) 211 endg. „Eine bürgernahe Agenda: konkrete Ergebnisse für Europa“, S. 5.
(4) Siehe Legislativ- und Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für 2007 (KOM(2006) 629 endg.).
(5) Das „Bureau of European Policy Advisers “(Büro der europäischen Politikberater), die „Denkfabrik “der Europäischen Kommission, veröffentlicht demnächst ein Dokument mit Hintergrundinformationen.
(6) Siehe Stellungnahme des EWSA vom 6.7.2006 zum Thema „Sozialer Zusammenhalt: Ein europäisches Sozialmodell mit Inhalt füllen “(Berichterstatter: Herr EHNMARK; ABl. C 309 vom 16.12.2006).
(7) Siehe folgende Stellungnahmen des EWSA:
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„Armut unter Frauen in Europa “vom 29.9.2005 (Berichterstatterin: Frau KING), ABl. C 24 vom 31.1.2006; |
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„Beziehungen zwischen den Generationen “vom 16.12.2004 (Berichterstatter: Herr BLOCH-LAINÉ), ABl. C 157 vom 28.6.2005; |
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„Die Einwanderung in die EU und die Integrationspolitik: Die Zusammenarbeit zwischen den regionalen und lokalen Gebietskörperschaften und den Organisationen der Zivilgesellschaft “vom 13.9.2006 (Berichterstatter: Herr PARIZA CASTAÑOS), ABl. C 318 vom 23.12.2006; |
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„Die Mitwirkung der Zivilgesellschaft im Kampf gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus “vom 13.9.2006 (Berichterstatter: Herr RODRÍGUEZ GARCÍA-CARO, Herr PARIZA CASTAÑOS und Herr CABRA DE LUNA), ABl. C 318 vom 23.12.2006 ; |
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„Unionsbürgerschaft: Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung und Wirkung “vom 14.9.2006 (Berichterstatter: Herr VEVER), ABl. C 318 vom 23.12.2006; |
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„Beschäftigungspolitik: Rolle des EWSA nach der Erweiterung und in der Perspektive des Lissabonner Prozesses “vom 9.2.2005 (Berichterstatter: Herr GREIF), ABl. C 221 vom 8.9.2005; |
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„Der industrielle Wandel und der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt “vom 7.6.2004 (Berichterstatter: Herr LEIRIÃO und Herr CUÉ); |
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„Ausmaß und Auswirkungen von Betriebsverlagerungen “vom 14.7.2005 (Berichterstatter: Herr RODRÍGUEZ GARCÍA-CARO und Herr NUSSER), ABl. C 294 vom 25.11.2005; |
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„Flexicurity nach dänischem Muster “vom 17.5.2006 (Berichterstatterin: Frau VIUM), ABl. C 195 vom 18.8.2000; |
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„Die soziale Dimension der Kultur “vom 31.3.2004 (Berichterstatter: Herr LE SCORNET), ABl. C 112 vom 30.4.2004; |
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„Häusliche Gewalt gegen Frauen “vom 16.3.2006 (Berichterstatterin: Frau HEINISCH), ABl. C 110 vom 9.5.2006; |
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„Bewältigung der Herausforderungen durch den Klimawandel — Die Rolle der Zivilgesellschaft “vom 14.9.2006 (Berichterstatter: Herr EHNMARK), ABl. C 318 vom 23.12.2006. |
(8) Siehe Stellungnahme des EWSA vom 13.7.2005 zu der „Mitteilung der Kommission — Sozialpolitische Agenda “(Berichterstatterin: Frau ENGELEN-KEFER; ABl. C 294 vom 25.11.2005).
(9) Siehe Stellungnahme des EWSA zum Thema „Sozialindikatoren “(Initiativstellungnahme; Berichterstatterin: Frau CASSINA; ABl. C 211 vom 19.9.2002).
(10) Die Bestandsaufnahme wird während des „Europäischen Jahres der Chancengleichheit für alle — 2007 “vorgenommen.
(11) Die Kontaktgruppe EWSA/Europäische Organisationen und Netze der Zivilgesellschaft ist sowohl ein Bindeglied als auch ein Gremium für den politischen Dialog zwischen dem EWSA und diesen Organisationen und Netzen.