18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/64


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses „Beitrag zum Europäischen Rat am 15./16. Juni 2006 — Phase des Nachdenkens“

(2006/C 195/17)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 15. Februar 2006 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, folgendes zu erarbeiten: „Beitrag zum Europäischen Rat am 15./16. Juni 2006 — Phase des Nachdenkens“.

Gemäß Artikel 20 der Geschäftsordnung wurde Herr MALOSSE zum Hauptberichterstatter bestellt.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 17. Mai) mit 133 Stimmen gegen 1 Stimme bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Absicht des Ratsvorsitzes, sich nicht auf eine Bestandsaufnahme der während der Phase des Nachdenkens ergriffenen Initiativen zu beschränken, sondern auch die nächsten Schritte dieses laufenden Prozesses festzulegen.

2.

Der EWSA bekräftigt in dieser Hinsicht seinen in den Stellungnahmen vom 24. September 2003 (1) und 28. Oktober 2004 (2) vertretenen Standpunkt, dass der Verfassungsvertrag ein unerlässliches Instrument zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen der Europäischen Union darstellt. Er erinnert insbesondere an die Bedeutung der Einbeziehung der Charta der Grundrechte, die die Politiken der Europäischen Union auf die Grundlage der Rechte der Bürger stellt, sowie des institutionellen Rahmens und der Governance der Union, durch die die Union sichtbarer und wirksamer gestaltet werden kann.

3.

Des Weiteren verweist der EWSA auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Januar 2006 zur „Phase des Nachdenkens — Struktur, Themen und Rahmen für eine Bewertung der Debatte über die Europäische Union“.

4.

Der EWSA vertritt folgende Standpunkte:

Das Fehlen einer klaren Vision und von Übereinstimmung bezüglich der Ziele und des Zwecks der europäischen Einigung hat ungeachtet der Erfolge und Errungenschaften von 50 Jahren europäischem Einigungswerk Zweifel an diesem aufkommen lassen.

Die Vorbehalte der Bürger beziehen sich eher auf das Funktionieren und die gegenwärtigen Politiken der Union als auf den Verfassungsvertrag selbst, dessen Neuartigkeit der Öffentlichkeit nicht ausreichend erklärt worden ist.

Das derzeitige auf dem Vertrag von Nizza beruhende institutionelle System ist nicht in der Lage, der Europäischen Union zu Fortschritten auf dem Weg der europäischen Einigung zu verhelfen. Die gegenwärtigen Verträge genügen den Anforderungen einer modernen europäischen Governance nicht und geben vor allem den Organisationen der Zivilgesellschaft zu wenig Raum in Bezug auf den Gestaltungsprozess der Politiken und der Vorbereitung von Gemeinschaftsbeschlüssen auf allen Ebenen.

Die Europäische Kommission und der Europäische Rat müssen im Rahmen ihrer jeweiligen Verantwortlichkeiten angemessene Vorschläge unterbreiten, um die Grundlagen einer Vision für die Zukunft Europas zu schaffen — einer Vision, die den Bürgern Perspektiven bietet und die Unionspolitiken mit Inhalt füllt, damit diese den Erwartungen der Bevölkerung gerecht werden. In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA, dass die interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission vom 4. April 2006 eine Anhebung der Mittel im Rahmen der Finanziellen Vorausschau 2007-2013 vorsieht, auf die sich der Europäische Rat ursprünglich verständigt hatte. Er stellt jedoch fest, dass sich die Anhebung in Grenzen hält und bedauert daher ausdrücklich, dass es diese Finanzielle Vorausschau nicht gestattet, Haushaltsmittel in einer Höhe bereitzustellen, die den Europa gegenüber bestehenden Ansprüchen gerecht wird. Er verweist diesbezüglich auf seine Stellungnahme vom 15. September 2004 (3).

Damit eine Kommunikationsstrategie zu Europa zum Erfolg führt, gilt es zunächst

eine klare Vision der Zukunft Europas zu entwickeln;

Politiken zu konzipieren und umzusetzen, die einen wirklichen Mehrwert für die Bürger bedeuten;

eine bessere Verständlichkeit und Sichtbarkeit des europäischen Einigungswerks und seines Zwecks zu gewährleisten;

eine verstärkte Demokratisierung der Arbeitsabläufe der Europäischen Union umzusetzen, was sich vor allem in einer besseren Einbeziehung der Bürger und einem besser strukturierten Dialog mit der organisierten Zivilgesellschaft äußert.

5.

Der EWSA gibt folgende Empfehlungen für den Europäischen Rat am 15./16. Juni 2006:

5.1   Verantwortung

5.1.1

Die Verantwortung, einen schnellen Ausweg aus der gegenwärtigen Identitätskrise der Europäischen Union zu finden, liegt vor allem in den Händen der Mitgliedstaaten, und damit beim Europäischen Rat. Der Gipfel vom Juni 2006 muss daher eine klare Botschaft zur Zukunft Europas senden und Auswege aus der gegenwärtigen politischen Sackgasse aufzeigen. Aus dieser Sicht hält es der EWSA für notwendig, dass die Lösung zum „Ausweg aus der Krise“ die Fortschritte und das Gleichgewicht, die durch den Verfassungsvertrag erreicht worden sind, bewahrt und der Tatsache Rechnung trägt, dass dieser Vertrag bis zum heutigen Tag bereits von 15 Mitgliedstaaten unterzeichnet worden ist.

5.1.2

Nach Maßgabe von Artikel IV-443 (4) des Verfassungsvertrags bedeutet das zweifache Scheitern des Ratifizierungsprozesses nicht, dass der Text gekippt werden muss, auch wenn die Gründe für die Ablehnung nicht ignoriert werden dürfen.

5.2   Eine bessere Governance

5.2.1

Die europäischen Institutionen, Kommission, Europäisches Parlament und Rat, müssen die innovativsten Bestandteile des Vertrags im Bereich der Governance bereits nutzen. Der EWSA befürwortet daher, die Prozesse der Konsultation der Organisationen der Zivilgesellschaft vor jeder wichtigen Gesetzesinitiative ab sofort auszuweiten und zu verstärken. Er lädt die Kommission gleichfalls dazu ein, die Bedingungen für die Umsetzung des Rechts auf Bürgerinitiative zu untersuchen.

5.2.2

In diesem Zusammenhang müssten die Institutionen die Möglichkeiten des EWSA verstärkt nutzen, einen inhaltlichen Beitrag zur Gestaltung der Unionspolitiken durch Sondierungsstellungnahmen und Informationsberichte sowie im Rahmen von Folgenabschätzungen zu leisten.

5.2.3

Ebenfalls in dieser Hinsicht und in Verbindung vor allem mit den nationalen Wirtschafts- und Sozialräten und vergleichbaren Einrichtungen wird der Ausschuss weiterhin die Initiative ergreifen, um einen entscheidenden Beitrag zur Förderung und weiteren Strukturierung des Dialogs und der Abstimmung zwischen den Institutionen der Europäischen Union und der organisierten Zivilgesellschaft zu leisten.

5.2.4

Das Prinzip der „funktionalen Subsidiarität“ muss ausgebaut werden, in dem Verantwortlichkeiten „im Namen der Europäischen Union“ in zunehmendem Maße auf die Gebietskörperschaften und die Organisationen der Zivilgesellschaft übertragen werden, damit sich die Bürger die europäische Wirklichkeit schneller zu eigen machen können. Die Subsidiaritätskontrolle darf daher nicht allein den Gebietskörperschaften obliegen, sondern muss auch zur Aufgabe der Organisationen der Zivilgesellschaft gemacht werden.

5.3   Die Gemeinschaftspolitiken und die Unionsbürgerschaft mit Inhalt füllen

5.3.1

Die Institutionen der Europäischen Union müssen die europäischen Politiken verstärkt mit Inhalt füllen, um ihre Effizienz und positive Wirkung auf das tägliche Leben der Bürger unter Beweis zu stellen, und zwar in den Bereichen Arbeit, Mobilität, Umwelt, sozialer Fortschritt, Jugendpolitik, Unternehmergeist, Bekämpfung von Diskriminierung und Ausgrenzung usw. Des Weiteren müssen sie die Umsetzung der großen europäischen Projekte fortführen, die eine Identifizierung mit der EU ermöglichen (Transeuropäische Verkehrsnetze, Raumfahrt usw.); neue Projekte wie der europäische Zivildienst und das europäische System zur Vermeidung und Bewältigung von Katastrophen müssen angegangen werden.

5.3.2

Die Europäische Kommission muss gemäß den ihr in den Verträgen zugewiesenen Aufgaben und Zuständigkeiten umfassende gemeinsame Politiken in jenen Bereichen entwerfen und vorschlagen, in denen der Mehrwert einer europäischen Dimension unbestritten ist (insbesondere Energie, Umwelt, Forschung). In dieser Hinsicht müssen pragmatischere Lösungen gefunden werden, sei es — je nach Bereich — eine gemeinsame Finanzierung durch EU und Mitgliedstaaten oder eine verstärkte Zusammenarbeit.

5.3.3

Im Bereich der Außenbeziehungen und entsprechend einer auf der Tagung des Europäischen Rates 1998 in Wien eingegangenen Verpflichtung müssen die weit gestreuten Initiativen und verschiedenen Standpunkte, die Zweifel am Willen der Mitgliedstaaten zu einem gemeinsamen Vorgehen aufkommen lassen, durch einen größeren Zusammenhalt und mehr Solidarität innerhalb der EU ersetzt werden. Eine konsequente und überzeugende Präsentation der berechtigten Interessen der EU in der Welt würde ebenfalls dazu beitragen, das Ansehen bei den Bürgern und die Außenwirksamkeit der EU erheblich zu steigern.

5.3.4

Durch eine inhaltliche Füllung der Politikbereiche der EU würden die Kommission und der Rat der überarbeiteten Lissabon-Strategie Glaubwürdigkeit verleihen und den Weg für ein europäisches Projekt nach 2010 entsprechend den Erwartungen der Bürger freigeben. Dieses Mal jedoch sollten die bereitgestellten Mittel den angekündigten Zielen entsprechen. Der Verfassungsvertrag wird den Bürgern verständlicher, wenn er auf einen umfassenden Gesellschaftsentwurf ausgerichtet ist, an dem es gegenwärtig mangelt.

5.4   Die bestehenden Verträge umfassend ausschöpfen

5.4.1

Die Kommission und der Rat sollten bereits jetzt und ohne auf einen neuen Vertrag zu warten einige Bestimmungen des Vertrags von Nizza vollständig umsetzen, wie z.B. diejenigen, die den Übergang zur Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit in bestimmten Bereichen der Sozialpolitik und im Bereich Justiz und Inneres ermöglichen.

5.4.2

Im Übrigen empfiehlt der EWSA, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten neue Initiativen in Bezug auf die wirtschaftliche Governance der EU ergreifen, um den Koordinationsprozess der Wirtschafts- und Haushaltspolitiken der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine Ankurbelung von Investitionen zu verstärken, die auf die Verwirklichung der Zielsetzungen der Lissabon-Strategie ausgerichtet sind. In dieser Hinsicht ist es von Nutzen, Aufgabenbereiche Zuwendungen der Eurogruppe bereits jetzt auszubauen.

5.4.3

Des Weiteren ist es Aufgabe des Rates, den Verzögerungen, Mängeln und nicht zuletzt Lücken, die immer noch in vielen Bereichen bestehen (die Einrichtung eines europäischen Statuts für Vereine, Genossenschaften und kleine Unternehmen bzw. das Gemeinschaftspatent), abzuhelfen. Ebenfalls rasch beseitigt werden müssen die Hindernisse, die nach wie vor in Bezug auf den freien Personen-, Dienstleistungs- und Warenverkehr bestehen. Diese Verzögerungen und Lücken haben zu einem Glaubwürdigkeitsverlust der Institutionen der EU geführt. Sie fördern nationale Egoismen und eine Wiederkehr der Konkurrenz unter den Mitgliedstaaten.

5.4.4

Falls ein von der Europäischen Kommission — als Inhaberin des Initiativrechts und Hüterin des allgemeinen Interesses — unterbreiteter Vorschlag für einen europäischen Rechtsakt nicht umgesetzt wird, sollte der Rat diese Blockade vor den Bürgern begründen und sich auch dafür rechtfertigen.

5.5   Eine glaubwürdige und stimmige Öffentlichkeitsarbeit

5.5.1

Der EWSA ruft die Mitgliedstaaten dazu auf, gezielte und andauernde Informationskampagnen zu den Errungenschaften der europäischen Integration und deren Mehrwert zu entwickeln und eine „europäische Bürgerkunde“ ab der Grundschule einzurichten. Damit diese Öffentlichkeitsarbeit glaubwürdig ist und nicht mit Propaganda verwechselt wird, muss sie sich auf ein Netzwerk von Organisationen der Zivilgesellschaft stützen und auf eine konkrete Aussprache zu den politischen Inhalten ausgerichtet sein. Der Europäischen Kommission kommt außerdem eine zentrale Rolle bei der Sicherstellung der Einheitlichkeit der europäischen Informationskampagnen zu. In diesem Zusammenhang muss die Kommission die Politiken und Mechanismen der EU stärker verteidigen und sich nicht mit einer neutralen Haltung begnügen.

6.   Ein neuer Pakt zwischen Europa und den Bürgern an erster Stelle

6.1

Durch Unterzeichnung und Ratifizierung der europäischen Verträge haben sich alle Mitgliedstaaten freiwillig für einen Integrationsprozess entschieden, der auf einem sich ständig festigenden Zusammenschluss der europäischen Volker fußt.

6.2

Die Phase des Nachdenkens sollte nicht nur eine Gelegenheit darstellen, einen Ausweg aus der gegenwärtigen institutionellen Sackgasse zu finden, sondern sie muss darüber hinaus dazu genutzt werden, die Herausbildung eines neuen Konsenses über den Zweck der Einigung und über einen realistischen aber anspruchsvollen politischen Entwurf an die erste Stelle zu setzen. Die Bürger sollen von einem Europa träumen können, dass ihnen nicht nur Frieden, sondern auch mehr Wohlstand und Demokratie bringt. Dem europäischen Projekt eine neue Glaubwürdigkeit zu geben und dem Integrationsprozess eine neue Legitimität zu verleihen — dies sind die unabdingbaren Bedingungen einer Bewältigung der gegenwärtigen Identitätskrise der Europäischen Union.

Brüssel, den 17. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Stellungnahme für die Regierungskonferenz 2003 (ABl. C 10 vom 14.1.2004).

(2)  Stellungnahme zu dem Vertrag über eine Verfassung für Europa (ABl. C 120 vom 20.5.2005).

(3)  Stellungnahme zu der Mitteilung der Kommission „Unsere gemeinsame Zukunft aufbauen: Politische Herausforderungen und Haushaltsmittel der erweiterten Union — 2007-2013“ (KOM(2004) 101 endg.) (ABl. C 74 vom 23.3.2005).