8.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 185/24


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Bewältigung des industriellen Wandels in grenzüberschreitenden Regionen nach der Erweiterung der Europäischen Union“

(2006/C 185/05)

Am 20. Juli 2005 beschloss die künftige österreichische Ratspräsidentschaft, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen: „Bewältigung des industriellen Wandels in grenzüberschreitenden Regionen nach der Erweiterung der Europäischen Union“

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Beratende Kommission für den industriellen Wandel nahm ihre Stellungnahme am 22. März 2006 an. Berichterstatter war Herr KRZAKLEWSKI.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 426. Plenartagung am 20./21. April 2006 (Sitzung vom 21. April) mit 69 gegen 2 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

Teil 1: Zusammenfassung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen des EWSA

Die österreichische Regierung ersuchte offiziell um die Ausarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zum Thema „Der industrielle Wandel in der erweiterten EU: Aussichten und Auswirkungen in grenzüberschreitenden Regionen“ durch die Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI).

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass unter dem neuen Ratsvorsitz in einer eigenen Definition genau geklärt werden sollte, was unter „Region“ in einem grenzüberschreitenden und industriellen Kontext zu verstehen ist. Dabei sollten Regionen, die an Nicht-EU-Länder grenzen, differenziert betrachtet und zudem berücksichtigt werden, ob der Nachbarstaat ein EU-Kandidatenland ist oder nicht.

Unter anderem soll die Frage beantwortet werden, wo und wie die Trennlinie zwischen den Auswirkungen des in den 90er Jahren in diesen Regionen vollzogenen Wandels und den Folgen der beitritts- und erweiterungsbedingten Veränderungen verläuft. Zudem gilt es zu bewerten, mit welchem Ergebnis die Gemeinschaftsinstrumente vor und nach dem Beitritt in diesen Regionen zum Einsatz kamen und mit welcher Verzögerung dies im Vergleich zu anderen Regionen geschah.

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass ein wichtiger und sogar entscheidender Faktor bei der Gestaltung und Umsetzung der Industriepolitik in den grenzüberschreitenden Regionen der erweiterten EU darin lag und immer noch liegt, dass in diesen Gebieten Mittel aus den EU-Strukturfonds eingesetzt werden können. Eine Aufstockung des Anteils dieser Strukturmittel in diesen Regionen ist jedoch unbedingt notwendig. Die Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den „Europäischen Verbund für grenzüberschreitende Zusammenarbeit (EVGZ)“ bietet eine neue Chance in diesem Bereich. Mit besonderem Nachdruck unterstreicht der Ausschuss die Notwendigkeit der Einbeziehung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte sowie anderer interessierter Organisationen der Zivilgesellschaft, insbesondere von Bildungsinstitutionen, in den Kreis der EVGZ-Gründer. Die Errichtung von EVGZ-Gesellschaften könnte zu einer stärkeren Motivation für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit beitragen, würde diesen Regionen eine aktivere Rolle geben und die Harmonisierung der Rechtsvorschriften fördern.

Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass die Entwicklung der Arbeitsmärkte in den betroffenen Regionen einen nicht zu unterschätzenden Faktor für den industriellen Wandel darstellt. Zurzeit bestehen nach wie vor temporäre Mobilitätshemmnisse für Arbeitnehmer bei der grenzüberschreitenden Mobilität innerhalb der EU. Der Ausschuss fordert die Mitgliedstaaten auf, ernsthaft zu überprüfen, ob die Übergangsperioden nicht früher beendet werden können. Dabei bedarf es einer entsprechenden Einbindung und Konsultation der Sozialpartner auf allen relevanten Ebenen. In Bezug auf die anderen Instrumente zur Beeinflussung der Industriepolitik hebt der Ausschuss insbesondere die mögliche Einführung einer einheitlichen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage hervor.

Der Ausschuss hat in seinen Stellungnahmen wiederholt hervorgehoben, dass dem sozialen Dialog und dem Engagement der Zivilgesellschaft eine besonders wichtige Rolle bei der Gestaltung der Industriepolitik in den hier behandelten Regionen zukommt, und zwar sowohl bei der Umsetzung dynamischer industriepolitischer Maßnahmen als auch bei der Überwindung bestimmter Probleme im Verhältnis zwischen verschiedenen Nationalitäten, Volksgruppen und kulturellen Gemeinschaften.

Teil 2: Argumente für die Stellungnahme

1.   Einleitung

1.1

Die österreichische Regierung hatte kurz vor der Übernahme des Ratsvorsitzes formal darum ersucht, dass die Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI) eine Sondierungsstellungnahme zum Thema „Der industrielle Wandel in der erweiterten EU: Aussichten und Auswirkungen in grenzüberschreitenden Regionen“ erarbeitet. Eine Sondierungsstellungnahme wird per definitionem vorgelegt, bevor die jeweilige EU-Institution einen Vorschlag unterbreitet oder eine politische Entscheidung trifft.

1.2

Der Übergang zur Marktwirtschaft und die Umsetzung der Binnenmarkt- und Wettbewerbsvorschriften der EU haben in vielen Regionen Mittel- und Osteuropas eine neue Dynamik in Gang gebracht. Der Beitritt der neuen Mitgliedstaaten brachte Grenzregionen einander näher und belebte in vielen Fällen einst bestehende Handels- und Geschäftsbeziehungen neu. Die neue Dynamik brachte jedoch auch neue, vor allem arbeitsmarktpolitische Probleme mit sich und offenbarte die infrastrukturellen Defizite der miteinander kooperierenden Grenzregionen.

1.3

Um sich einen genaueren Überblick über den derzeitigen industriellen Wandel in den grenzüberschreitenden Regionen der erweiterten EU zu verschaffen und Material für die Erarbeitung dieser Stellungnahme zu sammeln, veranstalteten die CCMI und die Europäische Stelle zur Beobachtung des Wandels (ESBW) am 17./18. Oktober 2005 in Bratislava in der grenzüberschreitenden Region CENTROPE einen Workshop, an dem Mitglieder der CCMI, Vertreter der Sozialpartner aus Österreich, der Slowakei und Ungarn sowie Experten teilnahmen.

2.   Allgemeine Bemerkungen zur Lage in den grenzüberschreitenden Regionen der erweiterten EU

2.1

In den Grenzregionen, die in Europa derzeit ca. 40 % der Gesamtfläche ausmachen, leben rund 33 % der EU-Bevölkerung (1).

2.2

Die Grenzen der EU haben sich seit der Unterzeichnung des EGKS-Vertrags stetig verändert. Sie werden sich auf mittlere Sicht noch weiter verschieben. Angesichts der damit verbundenen Veränderungsprozesse muss die EU ihre auf die Grenzregionen ausgerichtete Politik fortwährend aktualisieren.

2.2.1

An die EU grenzende Regionen in Kandidatenländern bauen bereits in der Phase der Vorbereitung des Beitritts und der Anpassung ihrer Rechtsvorschriften und ihres sozialen und wirtschaftlichen Systems Beziehungen der Zusammenarbeit zu benachbarten Regionen am äußeren Rand der EU auf.

2.2.2

Ein Sonderfall der Grenze war der „Eiserne Vorhang“. Ein großer Teil dieser Grenze liegt heute innerhalb der EU-25. Als 1989, neun Jahre nach der Solidarnosc-Revolution von 1980, die Berliner Mauer fiel, gab es in den Gebieten an der Grenze zwischen der Gemeinschaft und den ehemaligen Ostblockstaaten und insbesondere im sogenannten Niemandsland praktisch keinerlei Infrastruktur. Trotz der bedeutenden Fortschritte bei der Beseitigung der Folgen der politischen Entscheidungen, die zu dieser Situation geführt hatten, ist dieses Problem noch lange nicht gelöst.

2.2.3

Ein weiterer Sonderfall der EU-Grenzen ist das Mittelmeer. Obgleich es zwischen der EU und den Ländern des Mittelmeerraums seit vielen Jahren eine Politik der Zusammenarbeit gibt, hatte diese in letzter Zeit angesichts der Entwicklung der internationalen Lage offenbar keine hohe Priorität für Europa.

2.3

Schon vor dem EU-Beitritt entstanden in den Grenzregionen der neuen Mitgliedsländer enge, über die Grenzen hinweg reichende Beziehungen (z.B. die sog. Euroregionen) als neue Form der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, die das Ergebnis von Nachbarschaftsvereinbarungen zwischen aneinander grenzenden Regionen waren. Für das Funktionieren der Euroregionen waren keine zwischenstaatlichen Vereinbarungen erforderlich. Sie basierten auf freien Entscheidungen der Gebietskörperschaften und anderer Beteiligter. Ziel der Zusammenarbeit innerhalb der Euroregionen war die gemeinsame Lösung von Problemen unabhängig von den politischen Grenzen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit in den Bereichen Verkehrsverbindungen und Umwelt.

2.4

Die praktische Umsetzung der interregionalen Zusammenarbeit in der EU erfolgte seit den 90er Jahren bis heute im Wesentlichen im Rahmen der verschiedenen INTERREG-Programme. Mit einigen Aspekten dieser Kooperation beschäftigte sich auch der EWSA in Stellungnahmen zur interregionalen Zusammenarbeit auf der Grundlage der Erfahrungen im Mittelmeer- und im Ostseeraum (2), (3), (4):

2.4.1

Die Arbeiten des EWSA ergaben, dass die von der Gemeinschaft geförderte interregionale Zusammenarbeit nach folgenden Kriterien definiert werden kann:

a)

nach der Art des Zielgebietes: Region, Großstadt, lokale Gebietskörperschaft unterhalb der regionalen Ebene;

b)

nach der räumlichen Kategorie: aneinander grenzende oder nicht aneinander grenzende Gebiete (grenzüberschreitende oder transnationale Zusammenarbeit);

c)

nach dem geografischen Gebiet: Zusammenarbeit innerhalb der EU oder zwischen EU-Regionen und benachbarten Regionen in Ländern, die nicht Mitglied der Gemeinschaft sind;

d)

nach dem Niveau der Zusammenarbeit, nämlich:

Sammeln gemeinsamer Erfahrungen, Schaffen eines Netzes für den Transfer von Know-how;

Raumplanung;

gemeinsame Projekte zur Werbung von Investitionen für Infrastrukturen und andere Einrichtungen.

2.4.2

Der Ausschuss stellte in seinen Stellungnahmen zum Thema INTERREG fest, dass es in den 90er Jahren relativ wenige Verbindungen zwischen den verschiedenen Kategorien der Zusammenarbeit gab. So funktionierte die Kooperation z.B. nur auf einigen der genannten Ebenen und war auf feste räumliche Kategorien und geografische Gebiete beschränkt.

2.4.3

Im Hinblick auf die grenzüberschreitenden Regionen zwischen Frankreich, Belgien, Deutschland und Luxemburg, die einen intensiven Strukturwandel durchmachten, war für die EU besonders der Einsatz solcher Methoden hilfreich, die der Bevölkerungsabwanderung aus diesen Regionen und dem Entstehen „postindustrieller Wüsten“ auf ihrem Gebiet entgegenwirkten. Einen prägenden Einfluss auf den Verlauf der Umstrukturierungen hatten die Mittel und Maßnahmen des EGKS-Vertrags.

2.5

Derzeit gibt es in Europa ungefähr 180 grenzüberschreitende Partnerschaften. Die meisten davon dienen als Instrument zum Ausgleich der negativen Auswirkungen der Grenzlage. Auf dem Gebiet der neuen Mitgliedstaaten befinden sich 32 Euroregionen. Daran wird die große Aktivität der neuen Mitgliedstaaten bei der Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit deutlich.

2.6

In den meisten dieser 32 grenzüberschreitenden Regionen zwischen „neuen“ und an sie angrenzenden „alten“ Mitgliedstaaten gibt es bislang keine Initiativen, die sich direkt auf die Industriepolitik beziehen, obgleich viele gemeinsame Schritte diese Politik mittelbar betreffen.

2.7

Neue Initiativen im Bereich der Industriepolitik finden in der Regel in den Grenzregionen statt, die in der Nähe von Metropolregionen (z.B. innerhalb des Dreiecks Wien — Budapest — Bratislava) oder dort liegen, wo sich Industriezentren oder mehrere Großstädte befinden, die nicht als Metropolregionen gelten (die Region von Kattowitz/Katowice und Ostrau/Ostrava an der Grenze zwischen der Tschechischen Republik und Polen).

2.7.1

Ein interessantes neues Beispiel für den industriellen Wandel ist die Region Friaul-Julisch-Venetien an der italienisch-slowenischen Grenze, in der unmittelbar vor und nach der EU-Erweiterung ein Aufschwung im produzierenden Gewerbe und insbesondere in der Möbelindustrie zu verzeichnen war.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1   Schlüsselmerkmale grenzüberschreitender Regionen in der erweiterten EU

3.1.1

Die Merkmale grenzüberschreitender Regionen mit einer sich entwickelnden Industriepolitik werden in dieser Stellungnahme hauptsächlich anhand der CENTROPE-Region ermittelt (5).

3.1.1.1

Diese Region umfasst Gebiete aus drei neuen und einem der fünfzehn alten Mitgliedstaaten (in Österreich die Bundesländer Wien, Niederösterreich und Burgenland, dem Kreis Südmähren in der Tschechischen Republik, den Kreisen Bratislava und Trnava in der Slowakischen Republik sowie den Komitaten Győr-Moson-Sopron und Vas in Ungarn). Die gesamte Region vereint Bereiche mit typischen Problemen von Randlagen und benachbarte wirtschaftlich dynamische, urbane Zentralräume.

3.1.1.2

In den 90er Jahren vollzog sich hier ein intensiver Strukturwandel, in dessen Gefolge Investitionen in Teile dieser Region strömten. Dies führte auch zu Verschiebungen auf den Arbeitsmärkten, wo eine erhebliche Zahl vor allem älterer Arbeitnehmer ausschied und später parallel zu den Investitionen — nicht immer am selben Ort — eine Nachfrage nach Arbeitskräften entstand.

3.1.1.3

Die Erweiterung der EU hat im Vierländereck Österreich, Tschechische Republik, Slowakei und Ungarn vielfältige regionale Arbeitsmärkte zusammengeführt, deren Integration eine Herausforderung darstellt. Die Abwanderung von Betrieben und Arbeitskräften in Richtung der Städte sowie die mangelhafte (Verkehrs-)Infrastruktur belasten den Arbeitsmarkt nach wie vor in seiner Struktur ebenso wie ein ausgeprägtes Lohngefälle zwischen Österreich und den neuen EU-Staaten sowie ein prognostizierter Fachkräftemangel.

3.1.1.4

Es gab Anzeichen für die Herausbildung grenzübergreifender Produktionsketten. Dazu trug auch die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur bei, für die erhebliche Investitionen notwendig waren. Das führte dazu, dass bestehende Lücken gefüllt und einstige Bindungen, die auseinandergerissen waren, wiederhergestellt werden konnten.

3.1.2

Die Schlüsselimpulse für den industriellen Wandel in diesen Regionen kamen und kommen von ausländischen und inländischen Investitionen, auch im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen. In den Ländern, in denen vor dem Beitritt so genannte „Sonderwirtschaftszonen“ oder „Industrieräume“ geschaffen wurden, zogen diese die meisten Investitionen an. Diese Gebiete überschnitten sich nur in seltenen Fällen mit grenzüberschreitenden Regionen (siehe Stellungnahme des EWSA CCMI/025). Deshalb entwickelte sich nur in einer geringen Zahl von Grenzregionen eine neue Industriepolitik.

3.1.2.1

Der wichtigste Wachstumsmotor waren Investitionen in bestehende Gebäude („brown-field investment“) und Neubauten auf der grünen Wiese („green-field investment“) sowie die Unternehmensverlagerung. Die Erschließung neuer Märkte, Unterschiede in der Unternehmensbesteuerung, erhebliche Lohnunterschiede und staatliche Förderungen waren u.a. die Triebfedern dieser Investitionen. Diese Faktoren förderten den Prozess des Strukturwandels und trugen zum Wirtschaftswachstum bei.

3.1.2.2

Sie trugen dazu bei, dass Arbeitskräfte mit hoher und mittlerer Qualifikation angeworben werden konnten, und führten zur Senkung der Arbeitskosten sowie der nicht personalbezogenen Kosten. Besonders stieg die Nachfrage nach Fachpersonal für die Bedienung von Maschinen, Monteuren, Facharbeitern für Metallbearbeitung, Schweißern, Maschinenbauingenieuren und Informatikern — was im Übrigen im produzierenden Gewerbe in der gesamten EU immer stärker deutlich wird.

3.1.2.3

Im Ergebnis führten diese Maßnahmen zu einer besseren Management-Fähigkeit und Personalpolitik sowie zu besseren Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen. Dadurch konnten auch Finanzmittel für Investitionen gefunden und eine Verknüpfung mit den Beschaffungs- und den Kundenmärkten hergestellt werden.

3.1.2.4

An der Investitionstätigkeit beteiligten sich nicht nur Großunternehmen aus der EU, sondern auch kleinere und mittlere Unternehmen sowie Firmen aus Drittstaaten. Diese Unternehmen bündelten die Investitionen in so genannten „Clustern“, setzten auf Multiplikationseffekte und knüpften Beziehungen zu örtlichen Unternehmen, inländischen Firmen und ausländischen Tochtergesellschaften.

3.1.3

Die Untersuchung der Merkmale des industriellen Strukturwandels in den grenzüberschreitenden Regionen zeigt, dass dort im Allgemeinen die „step by step“-Methode (also ein Vorgehen „Schritt für Schritt“) angewandt wird.

3.1.3.1

Im ersten Schritt nehmen die Hersteller eine arbeitsintensive Produktion mit relativ gering qualifizierten Arbeitnehmern auf. Im nächsten Schritt greifen sie jedoch auf besser ausgebildete Arbeitnehmer und komplexere Dienstleistungen zurück. Bei Gelingen des ersten Schritts erfolgt der Übergang zur teilweisen Auslagerung in externe, allerdings noch auf dem Gebiet der Region gelegene Unternehmen mit dem Ziel, die Arbeitskosten zu senken.

3.1.3.2

Wesentliche Bedeutung für die strukturellen Fragen, die den industriellen Wandel begleiten, hatten strukturelle Zusammenschlüsse in zwei Richtungen: einmal nach oben (im Ausland im Rahmen der Region und darüber hinaus) und nach unten (auf lokaler Ebene) mit dem Ziel, Wettbewerbsvorteile im Netzverbund oder in der Region zu erzielen.

3.1.3.3

Zur Anwendung kamen auch mit einem höheren Risiko verbundene Konzepte (nach dem Schneeballprinzip), die, wie sich herausstellte, stärkere Verbindungen hervorgebracht haben. Die bei diesem Prozess entstehenden „Ableger“ einer expandierenden Firma zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich leicht auf weitere neue Unternehmen verpflanzen lassen.

3.1.3.4

Eine in den grenzüberschreitenden Regionen auch in den neuen EU-Mitgliedsländern zu beobachtende Erscheinung ist die Gründung neuer Tochterunternehmen oder Niederlassungen durch dynamische Investoren, die in der zweiten Entwicklungsetappe in der Region auf den Plan treten. Zu beobachten ist auch eine Förderung der Industriepolitik in diesen Regionen durch grenzübergreifende und häufig internationale Firmennetze, z.B. auf dem Gebiet des interaktiven grenzüberschreitenden Personalmanagements.

3.2   Wachstums- und Integrationsfaktoren im Rahmen des industriellen Wandels in grenzüberschreitenden Regionen

3.2.1

Im Bereich der Industriepolitik geht es hier um die Anwendung direkter Anreize und Lockinstrumente und die Entstehung von Asymmetrien zwischen Unternehmen. Größere Probleme im Umgang mit einer solchen Asymmetrie haben Firmen, welche zu Netzen kleiner und mittelständischer Unternehmen gehören.

3.2.1.1

Wie Roberto Pedersini in seinen Ausführungen (siehe Fußnote 5) feststellt, wird es in naher Zukunft möglicherweise zu einer Verkürzung der Tätigkeitsdauer von Unternehmen auf einen mittleren Zeithorizont kommen, was zweifellos soziale Auswirkungen haben wird und durch den Einsatz geeigneter und im Dialog mit den sozialen und wirtschaftlichen Partnern abgestimmter Mechanismen erfolgen sollte.

3.2.2

Eine sehr große Herausforderung für die Entwicklung der gesamten EU sowie die Zukunft der Industriepolitik in der gesamten Gemeinschaft und besonders in den grenzüberschreitenden Regionen sind die Unterschiede bei den Unternehmenssteuern insbesondere im Zusammenhang mit der Körperschaftsteuer (6).

3.2.2.1

Ungemein wichtig ist die Entscheidung, ob die Körperschaftsteuer harmonisiert werden sollte und wie die Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage bestimmt werden soll, das heißt, entweder nach dem Land des Hauptsitzes (Home State Taxation — HST) oder nach einer gemeinsamen Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (Common Corporate Consolidated Tax Base — CCCTB).

3.2.2.2

Bei der Besteuerung nach dem HST-Prinzip entfällt in den grenzüberschreitenden Regionen in der EU die Anwendung unterschiedlicher Rechtsvorschriften zur Bestimmung der Bemessungsgrundlage. Damit sind jedoch mehr Risiken verbunden (7).

3.2.2.3

Kommt die gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage zum Einsatz, bedeutet dies, dass alle grenzübergreifend tätigen Unternehmen unabhängig davon, in welchem Land ihr Hauptsitz liegt, einheitliche Grundsätze für die Ermittlung des versteuerbaren Einkommens anwenden (8). Zudem erfordert die gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage keine Änderungen der geltenden nationalen Rechtsvorschriften, sondern nur, dass man sich auf die Verabschiedung neuer, zusätzlicher und allgemein geltender Vorschriften für Unternehmen, die in mehreren Ländern tätig sind, einigt.

3.2.2.4

Ein Nachteil der gemeinsamen Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage ist sicherlich das Risiko, dass zwei Unternehmen aus dem gleichen Land mit einer ähnlichen Leistungskraft und ähnlichen Marktanteilen auf dem Inlandsmarkt ihr zu versteuerndes Einkommen nach unterschiedlichen Kriterien ermitteln würden.

3.2.3

Einer der wichtigsten Faktoren, der die Entwicklung der Industriepolitik in diesen Regionen beeinflusst, ist sowohl der derzeitige Entwicklungsstand als auch das Tempo des Ausbaus der Verkehrsinfrastruktur innerhalb der Region und an ihren Zugangskorridoren. Aus diesem Grund muss nicht nur intensiv in den Bau und die Modernisierung der regionalen Verkehrsnetze investiert werden, sondern auch gemeinsame Verkehrsprojekte initiiert und diese nach modernen Kriterien und unter Nutzung von Innovationen und wissenschaftlicher Forschung geleitet und umgesetzt werden.

4.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

4.1

Das Konzept grenzüberschreitender Regionen mit einer neuen operativen Industriepolitik ist sowohl allgemein gesehen als auch im Hinblick auf konkrete Fälle und Standorte sehr komplex. Aus diesem Grund ist der Ausschuss der Ansicht, dass unter dem neuen Ratsvorsitz im Rahmen einer separaten Definition genau geklärt werden sollte, was unter dem Begriff „Region“ in einem grenzüberschreitenden und industriellen Kontext zu verstehen ist. Dabei sollten Regionen, die an Nicht-EU-Länder grenzen, differenziert betrachtet und zudem berücksichtigt werden, ob der Nachbarstaat ein EU-Kandidatenland ist oder nicht.

4.1.1

Insbesondere in Bezug auf diese Regionen sowohl in den neuen Mitgliedsländern als auch an der Grenze zu den alten EU-Ländern muss die Frage beantwortet werden, wo und wie die Trennlinie zwischen den Auswirkungen des in den 90er Jahren in diesen Regionen vollzogenen Wandels und den Folgen der beitritts- und erweiterungsbedingten Veränderungen verläuft. Zudem gilt es zu bewerten, mit welchem Ergebnis die Gemeinschaftsinstrumente vor und nach dem Beitritt in diesen Regionen zum Einsatz kamen.

4.1.2

Die Arbeiten des neuen Ratsvorsitzes in Zusammenarbeit mit dem EWSA müssten die Beantwortung folgender Fragen zum Gegenstand haben:

Wurden die direkten und indirekten Gemeinschaftsinstrumente in den grenzüberschreitenden Regionen angesichts der Bedürfnisse dieser Regionen und der ganzen EU nicht verspätet eingesetzt?

Wie kann die zwischen den Arbeitgebern und Gewerkschaften im Hinblick auf viele wirtschaftliche Projekte in grenzüberschreitenden Regionen offensichtlich herrschende Übereinstimmung optimal genutzt werden?

Wie kann der für die nahe Zukunft bestehenden doppelten Gefahr einer Unternehmensverlagerung einmal aus den Grenzregionen in die osteuropäischen Länder und letztendlich nach Asien begegnet werden?

Sollten angesichts der Maßnahmen zur Bewältigung der Folgen einer verspäteten Politik in vielen grenzüberschreitenden Regionen (was zum einen historisch bedingt ist und zum anderen damit zusammenhängt, dass die Gemeinschaftspolitik den Bedürfnissen dieser Regionen hinterherhinkt) bestimmte Gemeinschaftsinstrumente in diesen Regionen nicht schon im voraus zum Einsatz kommen, auch als Prüfstein für diese Politik und im Zuge von Pilotprojekten?

4.2

Im Hinblick auf den charakteristischen Ansatz für grenzüberschreitende Regionen in der erweiterten EU, die sich durch Folgendes auszeichnen:

Streben nach Minimierung der Arbeitskosten;

dynamischer Standortwechsel der Unternehmen;

Versuche einer Verkürzung der geplanten Tätigkeitsdauer von Unternehmen auf einen „mittelfristigen Zeithorizont“;

dynamische Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur im Ergebnis eines schrittweisen Vorgehens,

vertritt der EWSA die Auffassung, dass es vor allem darauf ankommt, den sozialen Zusammenhalt sicherzustellen und einen Absenkungswettbewerb bei den arbeitsrechtlichen und sozialen Standards zu vermeiden. Daher ist es notwendig, dass diese Prozesse unter Einsatz der in der EU im Rahmen der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen existierenden modernen, konsolidierten Instrumente und insbesondere des sozialen Dialogs bzw. des Stakeholder-Dialogs verlaufen.

4.2.1

Angesichts der für grenzüberschreitende Regionen typischen Probleme auf dem Arbeitsmarkt, die die Folge einer historischen Vernachlässigung, des Strukturwandels sowie von dynamischen Veränderungen in Folge der Umsetzung einer spezifischen Industriepolitik in diesen Regionen sind, schlägt der EWSA vor, in diesen Fällen als Anreiz zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Anhebung der Qualifikation vorübergehend die früher bereits häufig in der EU eingesetzten Mechanismen der Beschäftigungsförderung anzuwenden, nämlich die Subventionierung von Unternehmen, die dauerhafte Arbeitsplätze schaffen.

4.2.2

Ein solches Konzept sollte über entsprechende Sicherheitsmechanismen verfügen, die einen Missbrauch öffentlicher Gelder verhindern und sicherstellen, dass die auf diese Weise geschaffenen Arbeitsplätze unbestritten neu und von dauerhafter Art sind. Die technischen Aspekte solcher Sicherheitsmechanismen wurden im Hinblick auf öffentliche Aufträge bei der Überarbeitung der entsprechenden EU-Richtlinien über das öffentliche Auftragswesen behandelt.

4.2.3

Insbesondere sollten solche Unternehmen nicht in den Genuss staatlicher Beihilfen oder von Fördermitteln der Strukturfonds kommen können, die nach erfolgter früherer Förderung Arbeitsplätze verlagerten oder die im Zuge von Standortverlagerungen Arbeitskräfte an ihrem ursprünglichen Standort entlassen haben, ohne die nationalen und internationalen Rechtsvorschriften einzuhalten.

4.3

Der Ausschuss ist der Ansicht, dass ein wichtiger und sogar entscheidender Faktor bei der Entwicklung und Umsetzung der Industriepolitik in den grenzüberschreitenden Regionen der erweiterten EU darin lag und immer noch liegt, dass in diesen Regionen Mittel aus den EU-Strukturfonds eingesetzt werden können. Eine Aufstockung des Anteils dieser Strukturmittel in diesen Regionen ist sowohl im Hinblick auf die Abmilderung des Verlaufs intensiver Übergangsprozesse als auch zur Anpassung an den dynamischen Charakter der dort angewandten Politik jedoch unbedingt notwendig.

4.3.1

Auf dieser Grundlage knüpft der Ausschuss an seine Stellungnahme (9) zu der Verordnung des EP und des Rates über den Europäischen Verbund für grenzüberschreitende Zusammenarbeit (EVGZ) an und unterstreicht mit besonderem Nachdruck die Notwendigkeit, die Bestimmungen der Verordnung über die Ziele und die Zusammensetzung eines EVGZ weiter zu fassen und dazu die Einbeziehung „der wirtschaftlichen und sozialen Akteure sowie der anderen betroffenen Organisationen der Zivilgesellschaft“ in den Text aufzunehmen.

4.3.1.1

Die im Rahmen der EGVZ und im Rahmen anderer Strukturfonds gegründeten Gesellschaften könnten die Koordinierung der verschiedenen Finanzquellen und die Entwicklung und Durchführung von aus diesen Fonds finanzierten Projekten zur Förderung der Industriepolitik in der Region übernehmen, wobei die Mittel Vertretern der verschiedenen Beteiligten vor Ort zugänglich sein sollten. Die Gründung solcher juristischen Personen könnte zur Stärkung der Motivation für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit beitragen, würde diesen Regionen eine aktivere Rolle geben und die Harmonisierung der Rechtsvorschriften fördern.

4.3.2

Bei der Entwicklung und späteren Umsetzung von aus den Strukturfonds finanzierten Projekten sollte die Möglichkeit der kombinierten Finanzierung aus öffentlichen Quellen und durch private Investoren genutzt werden, ohne dass der Anteil öffentlicher Mittel als unzulässige Beihilfe eingestuft wird. Das Kriterium sollte nicht der Nutzen für das Wirtschaftssubjekt, sondern der Nutzen für die Region in Form von Arbeitsplätzen, Infrastrukturentwicklung und auch Produktivität der Wirtschaft sein.

4.4

Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass die Entwicklung der Arbeitsmärkte in den betroffenen Regionen einen nicht zu unterschätzenden Faktor für den industriellen Wandel darstellt. Zurzeit bestehen nach wie vor temporäre Mobilitätshemmnisse für Arbeitnehmer bei der grenzüberschreitenden Mobilität innerhalb der EU. Der Ausschuss fordert die Mitgliedstaaten auf, ernsthaft zu überprüfen, ob die Übergangsperioden nicht früher beendet werden können. Dabei bedarf es einer entsprechenden Einbindung und Konsultation der Sozialpartner auf allen relevanten Ebenen.

4.4.1

Bei der Verbesserung der Mobilität der Arbeitnehmer in grenzüberschreitenden Regionen sollte man jedoch die Möglichkeit von Spannungen zwischen verschiedenen Nationalitäten bzw. ethnischen Gemeinschaften nicht übersehen. Die Besonderheit und Erfahrung von Regionen, in denen verschiedene Kulturen und Volksgruppen seit langem vermischt leben, sollte es ermöglichen, diese schwierigen Fragen wirkungsvoller als anderswo zu entschärfen und zu lösen. Dem sozialen Dialog und dem Engagement der Zivilgesellschaft kommt eine besonders wichtige Rolle bei der Bewältigung der Probleme im wechselseitigen Verhältnis zwischen verschiedenen Nationalitäten, Volksgruppen und kulturellen Gemeinschaften zu (10).

4.5

Die Maßnahmen im Zuge des dynamischen Strukturwandels in grenzüberschreitenden Regionen sollten unter den einzelnen EU-Präsidentschaften systematisch von Fachleuten bewertet und wissenschaftlich untersucht werden, da spontane Initiativen sich als unwirksam erweisen und sogar destabilisierend wirken könnten.

Brüssel, den 21. April 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  A. Zölner: Ausführungen in der 216. Sitzung des außenpolitischen Ausschusses des Senats der Republik Polen, Warschau, 26.10.2004.

(2)  ABl. C 133 vom 31.5.2006

(3)  ABl. C 39 vom 12.2.1996

(4)  ABl. C 39 vom 12.2.1996

(5)  Gemeinsamer CCMI/EMCC-Workshop, Bratislava, 17./18.10.2005; Ausführungen von Roberto Pedersini und Klára Fóti (und anderen).

(6)  KOM(2005) 532.

(7)  Rafał Lipniewicz: „Jeden system dla wszystkich przedsiębiorców“ (Ein System für alle Unternehmen), erschienen in Rzeczpospolita vom 27.7.2004, Ausgabe Nr. 174.

(8)  Ebenda.

(9)  ABl. C 234 vom 22.9.2005

(10)  Europäische Stiftung für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, Bericht über das soziale Kapital der Regionen in Europa, 2005.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Folgende abgelehnte Änderungsanträge wurden mit mehr als einem Viertel der abgegebenen Stimmen unterstützt:

Ziffer 3.2.2.1

Text streichen.

Ungemein wichtig ist die Entscheidung, ob die Körperschaftsteuer harmonisiert werden sollte und wie die Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage bestimmt werden soll , das heißt, entweder nach dem Land des Hauptsitzes (Home State Taxation HST) oder nach einer gemeinsamen Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (Common Corporate Consolidated Tax Base CCCTB).“

Ziffer 3.2.2.2

Die Ziffer streichen.

Ziffer 3.2.2.3

Die Ziffer streichen.

Ziffer 3.2.2.4

Die Ziffer streichen.

Begründung

Die Erörterung möglicher steuerpolitischer Lösungen hat in diesem Text keinen Stellenwert. Das ist auch nicht die Aufgabe der Stellungnahme.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 20

Nein-Stimmen: 50

Stimmenthaltungen: 3